Heute treffe ich Ines. Ihr Alltag ist von Zwängen beherrscht. Wie drücken sich ihre Zwänge aus und inwiefern ist ihr Leben trotz der Zwänge zu bewerkstelligen?
Ines, du lebst seit etwa vier Jahren mit einer diagnostizierten Zwangsstörung. Ich frage einfach frei heraus: Welche Zwänge hast du?
Ach, frag lieber, welche ich nicht habe. (lacht) Wie du an meinen Händen siehst, habe ich einen Waschzwang.
Ines sitzt vor mir in einem Cafe. Ihre Hände sehen sehr strapaziert aus. Wächsern und gerötet.
Ständig muss ich meine Hände waschen. Bei diesem Zwang weiß ich genau, dass er aus der Kindheit stammt.
Vor dem Essen, nach dem Essen …
Vor dem Essen, nach dem Essen, Hände waschen nicht vergessen.
Eben. Meiner Mutter war Hände waschen sehr wichtig. Heute wasche ich meine Hände auch, nachdem ich jemandem die Hand gegeben habe. Wenn ich Zeitungen anfasse oder abends vor dem Zubettgehen. Ich wasche meine Hände nach der Küchenarbeit, aber auch wenn ich Essen zubereite. Außerdem habe ich einen Putzzwang. Meine Wohnung ist so sauber, da kannst du vom Fußboden essen. Nach dem Putzen wasche ich auch meine Hände.
Hast du mal versucht, diesen Zwang zu unterbrechen? Wie war das für dich?
Oh, ja. Das habe ich. Es bietet sich ja auch nicht immer an, die Hände zu waschen. Wenn ich bei einem Meeting die Leute begrüße, kann ich danach nicht so schnell raus, um mir die Hände zu waschen. Manchmal verteile ich noch Kugelschreiber an die anderen für eventuelle Notizen. Und dann müsste ich mir eigentlich auch die Hände waschen. Ich plane also den Ablauf eines Meetings um das Händewaschen herum.
Wie fühlt es sich an, solltest du nicht zum Händewaschen kommen?
Es ist so eine … eine Spannung, die sich aufbaut. Mein ganzer Körper steht dann unter Strom. Die Gedanken kreisen nur noch um das Händewaschen. Ich kann mich nicht mehr richtig auf die anderen Sachen konzentrieren.
Über die Angst vor Keimen
Warum musst du so oft deine Hände waschen? Wovor hast du Angst, wenn du es nicht tust?
Ich habe Angst vor Keimen. Ich meine, da draußen schwirrt alles Mögliche herum. Selbst das Trinkwasser ist nicht mehr richtig sauber.
Also trinkst du nur abgekochtes Wasser?
Nicht einmal das. Ich kaufe … Darf ich das sagen? Oder ist das Schleichwerbung?
Nein, alles gut. Frei heraus damit.
Ich trinke »Staatlich Fachingen«. Das ist sehr teuer, aber ich habe das Gefühl von reinem Wasser. Weil es eben aus tieferen Erdschichten kommt.
So wie du es schilderst, Ines, ist es auch ein geistiger Aufwand, alles um die Zwänge herum zu planen. Gerade beruflich. Wer gibt mir die Hand und wann? Wann teile ich die Skripte aus? Schaffe ich es bis dahin, meinen Zwang zu unterdrücken, um … – vermutlich entschuldigst du dich, um auf die Toilette zu gehen?
Ja, genau, so ist es. Ich entschuldige mich eben, abkömmlich zu sein. Und ja, es ist ein enormer Kraftakt. Man hat ja auch sein Tun. Seine Arbeit und alles. Eigentlich fühle ich mich ständig erschöpft.
Zwänge treten oft gehäuft auf
Das verstehe ich. Du sagtest eingangs, du hättest sehr viele Zwänge. Welche hast du zudem?
Der Zwang, der zwar meinen Alltag prägt, mit dem ich aber gut zurechtkomme, ist mein Ordnungszwang. Man könnte auch sagen: Ich bin sehr gewissenhaft. Stifte auf meinem Schreibtisch dürfen beispielsweise nicht einen einzigen Zentimeter entfernt von ihrem ursprünglichen Platz liegen. In meiner Wohnung muss alles an seinem Platz sein. Ich wische den Herd immer in derselben Art sauber. Immer von Links nach Rechts wie beim Schreiben.
Was passiert, wenn du anders vorgehst? Aus Versehen. Zum Beispiel, weil dich etwas ablenkt.
Dann muss ich noch einmal von vorne anfangen. Ich zähle außerdem alles durch. Meine Kleidung, meine Unterwäsche.
Das heißt, du weißt ganz genau, was du im Schrank hast?
Ja. Im Schrank. Und was gerade im Wäschekorb liegt. Die Kleidung muss auch in immer gleicher Weise gefaltet sein. Ich habe immer Samstags meinen Putz- und Waschtag. Weiche ich davon ab, bekomme ich enormen Druck innerlich.
Nicht immer ist neben Zwängen Platz für die Liebe
Wie steht es mit einer Partnerschaft?
Puh! Undenkbar. Es klingt sicher gemein, wenn ich sage, dass ich einfach zu viele Sachen an nackten Menschen eklig finde. Allein die Vorstellung, sich mit jemandem schweißgebadet in den Laken zu suhlen. Uärgs. Das ist wirklich nicht meins. Oh Gott, ich komme hier rüber wie der übelste Nerd.
Ach wo. Es gibt sicherlich so einige Menschen, die dir darin zustimmen würden. Schweiß ist nicht jedermanns Sache.
Ines lacht. Und nimmt einen Schluck von ihrem Wasser – mittels Strohhalm. Ihre Hände wischt sie im Anschluss an einer Papierserviette ab. Denn Stoffservietten mag sie nicht. Die Vorstellung davon würde ihr nicht behagen. Trotz der Kochwäsche seien sie schon an zu vielen Mündern gewesen.
Ich bin ganz schön durchgeknallt, nicht wahr?
Alles gut, es gibt wohl nichts, was es nicht gibt.
Ich wünschte, ich hätte deine Gelassenheit.
Das täuscht. Ich nehme mir vor, gelassen zu sein. Aber es gelingt mir auch nicht immer. Ich versuche einfach, nicht so hart mit mir ins Gericht zu gehen.
Verstehe. Du meinst, dass ich das tue? Da hast du sicher recht. Ich bin sehr streng mit mir. Das führt wohl auch zu all diesen Zwängen.
Ich habe Angst, jemandem etwas anzutun …
Welcher Zwang beeinträchtigt dich am meisten?
In letzter Zeit habe ich Angst, dass ich Dinge tue, ohne es zu bemerken.
Wie äußert sich das?
Neulich war ich auf einem Meeting in Hamburg. Ich hatte Angst, am Flughafen den falschen Koffer mitgenommen zu haben. Nicht unbewusst, sondern mit Absicht. Ich hatte Angst, ich könne absichtlich den falschen Koffer mitgenommen haben. Auf dem Weg zum Hotel.
Also bist du auf deinem Weg gestoppt und hast es geprüft?
Sogar mehrmals. Nicht nur einmal.
Könnte man sagen, du hast Angst davor, etwas Kriminelles zu tun? Oder bezieht sich das auch auf Alltagshandlungen?
Tatsächlich nur auf kriminelle Delikte. Ich habe Angst, ich könnte einen Schokoriegel geklaut haben im Supermarkt. Oder Schlimmeres. Ich habe Angst, ich könnte auf dem Weg zu meinem eigenen Fahrzeug alle anderen Autos mit meinem Schlüssel zerkratzt haben. Nicht aus Versehen. Sondern so richtig mit dem Schlüssel einmal seitlich langgehen.
Im zweiten Teil unseres Interviews mit Ines erfahrt ihr, warum sie diese Ängste hat, sie könne Menschen oder Gegenständen etwas antun, ohne es zu merken.