Ines muss ständig grübeln und leidet unter Zwangsstörungen, welche sich bei ihr in Zwangsgedanken, aber auch in Zwangshandlungen zeigen. Im ersten Teil des Interviews (Link: Angst vor Keimen: Wenn Zwänge den Alltag beherrschen – Zwangsstörungen (1)) sprach sie mit uns darüber, wie es ist, tagtäglich im Hinblick auf die eigenen Gedanken von Zwängen beherrscht zu werden und das Verhalten danach ausrichten zu müssen. Sobald Ines in wortwörtlichem Kontakt mit einem anderen Menschen kommt, wie es bei jeder normalen, handelsüblichen Begrüßung der Fall sein würde, möchte sie sich ihre Hände waschen. Möchte, ist eigentlich zu harmlos formuliert. Ines MUSS sich danach die Hände waschen. Andernfalls baut sich in ihrem Inneren eine starke Spannung auf und die Gedanken drehen sich um das nichtgetane Waschen der Hände und welche Auswirkungen diese vermeintliche Nachlässigkeit auf ihren Organismus und ihre Gesundheit haben könnte. Denn Ines fürchtet sich vor Keimen. Ihre Zwänge haben nicht nur Auswirkungen auf ihren Alltag, sondern auch auf Ines soziale Leben. So kann sie sich im Moment nicht vorstellen, mit einem anderen Menschen intim zu werden. Da verhältnismäßig wenige Menschen dazu bereit sind, eine Partnerschaft ohne Sexualität oder körperliche Kontakte im Allgemeinen zu führen, bleibt Ines also in ihrem gegenwärtigen Leben der Zugewinn versagt, welchen man durch eine intakte Partnerschaft erhalten könnte.

Neben dem Waschzwang und der Angst vor Keimen leidet Ines außerdem unter Ordnungszwängen und der Angst, sie könne, ohne es bewusst zu wollen, eine Straftat begehen. Im zweiten Teil des Interviews, der nachfolgend zu lesen ist, spricht Ines über einige Erfahrungen aus ihrer Kindheit und warum sie ihre Mutter immer mit der Mutter bei »Hänsel und Gretel« verglichen hat.

Nachprüfen, ob man was Illegales getan hat

Mann mit Mantel und Brille schwarz weiß

Ich muss ständig grübeln. – Zwangsgedanken belasten den Alltag. © Mayastar under cc

Was machst du bei solchen Zwangsgedanken?

Ich gehe zurück und prüfe, ob die Autos unversehrt sind. Ich muss mich aber zwingen, dies nur einmal zu tun. Sonst komme ich ja nicht zur Arbeit.

Ja, das stimmt.

Auch sonst brauche ich immer die gleichen Abläufe. Keine Ahnung warum. Es beruhigt mich einfach.

Für die Ordnung im Kopf?

Genau. So habe ich einen klaren Kopf. Sonst würde zu viel in meinen Gedanken herumschwirren.

Gab es einen Auslöser, bevor du diesen neuen Grübelzwang dazubekommen hast? Ständig darüber nachzudenken, ob du irgendetwas Verbotenes getan hast?

Das weiß ich tatsächlich genau. Seit dem ich Besuch von einer Freundin hatte, habe ich dieses schlechte Gewissen, ich könnte irgendetwas Schlimmes getan haben.

Was war während des Besuches passiert?

Sie hat ihre Füße auf meinem Sofa abgelegt. Ich habe nicht viele Freunde. Diese Freundin ist eine neue Freundin, die ich zum ersten Mal zu mir nach Hause eingeladen habe. Plötzlich legte sie die Füße hoch und machte es sich gemütlich. Von da an konnte ich an nichts anderes mehr denken, als dass ich ihr die Füße vom Sofa schlagen wollte. Ich meine, wer macht denn so etwas?

Die Psyche hinter den Zwängen

Und aus diesem schlechten Gewissen ist dann dein Gefühl erwachsen, du wärst zu kriminellen Handlungen fähig?

Ich weiß, das klingt lächerlich.

Nein, tut es gar nicht. Es ist eine sehr naheliegende psychologische Verknüpfung. Könnte so eine Entstehung für einen Zwang gegebenenfalls etwas mit Grenzen setzen zu tun haben? Mit sozialer Überforderung?

Ja. In diesem Moment war ich nicht fähig, Grenzen zu setzen. Ich hätte sagen können, sie soll die Füße runternehmen. Hab ich aber nicht. Ich bin einfach sehr erschöpft. Seit Kurzem denke ich: Was soll schon sein? Wenn ich eine Straftat begehe, dann komme ich wenigstens ins Gefängnis und muss mir um meinen Lebensunterhalt keine Gedanken machen.

Und würdest du?

Sicher nicht. Dazu bin ich viel zu verantwortungsvoll. Das ist es ja. Andere Menschen benehmen sich wie Arschlöcher und kommen gut durchs Leben. Aber ich mache mir ständig Sorgen, habe ständig Ängste, nicht gut genug zu sein.

Zwänge: Ursache in der Kindheit?

Kind Seifenblasen

Nicht immer verläuft die Kindheit von Zwangspatienten unbeschwert. © Dan Zen under cc

Wie war deine Kindheit, Ines?

Wir hatten ein sehr mechanisches Familienleben. Alles lief über feste Strukturen. Wenig Liebe. Wenig Verständnis. Diese Sachen zu verbalisieren, fällt mir deshalb leicht, weil ich sie in meiner Therapie schon beantwortet habe. Wir mussten immer funktionieren. Schwächen gab es bei uns nicht.

Deine Mutter, wie würdest du sie charakterisieren, wenn sie eine Märchenfigur wäre? Fällt dir ein Gleichnis ein?

Man würde jetzt erwarten, dass ich Hexe oder böse Zauberin sage.

Vielleicht. Aber mich interessiert dein Empfinden diesbezüglich.

Als Kind habe ich meine Mutter immer mit der Mutter bei »Hänsel und Gretel« verglichen. Prinzipiell sah ich als Kind schon, dass meine Mutter so hart aus Verzweiflung geworden war.

Diese Beobachtung ist erstaunlich.

Ja. Heute überrascht mich das auch. Ich habe als Kind schon gesehen, dass sie schwach war und die Starke nur gespielt hat. So etwas hat eine ganz eigene Kälte.

Ist daraus deine Furcht davor erwachsen, die Kontrolle zu verlieren?

In gewisser Hinsicht schon. Ich wollte nicht so schwach sein wie sie. Das meine ich nicht überheblich. Eigentlich weiß ich, dass ich genauso schwach bin wie sie. Aber ich habe mir andere Muster zugelegt.

Muster, die dich im Alltag belasten.

Ja. Richtig. Die falschen Muster. Nun muss ich umlernen. Ich komme aus einem Elternhaus, wo Geld immer ein Thema war. Wir hatten nicht viel. Aber meine Eltern wollten immer, dass aus mir mal etwas wird.

Also Leistungsdruck?

Und wie! Es war kaum auszuhalten.

Zwänge und die Furcht vor Misserfolg

Wie ging man bei euch mit Misserfolgen um?

Es gab keine Schläge, wenn mein Bruder eine schlechte Note heimgebracht hatte. Aber er wurde ignoriert.

Silent Treatment. Liebesentzug.

Ja, sie haben Ignoranz angewandt, um ihn zu bestrafen.

Bei dir auch?

Ich habe nie schlechte Noten heimgebracht. Ich wusste, wie ich zu funktionieren hatte. Aber es gab da eine Geschichte aus meiner Kindheit, wo ich mal nicht so funktionierte, wie sie es von mir erwarteten.

Ja?

Wir waren im Urlaub. In Griechenland. Es war furchtbar heiß und wir liefen irgendwo im Hinterland herum. Mir war langweilig. Meine Eltern machten Fotos. Mein Bruder sprang irgendwo herum. Und ich sah vor mir über den heißen Boden einen Käfer krabbeln. Ich hatte einen Stein in der Hand und ließ ihn auf die Erde plumpsen. (Schweigen.)

Was ist dann passiert, Ines?

Bis heute weiß ich nicht, ob ich diesen Käfer umgebracht habe oder er im Sand eingedrückt wurde und überlebt hat. Gleich darauf fuhren wir mit dem Mietwagen weiter. Ich sollte mich beeilen und hatte auch Angst unter den Stein zu schauen, weil meine Mutter plötzlich neben mir stand. Also lief ich zum Wagen. Die gesamte Weiterfahrt und auch an den anderen Tagen musste ich an diesen Käfer denken. Hatte ich ihn umgebracht?

Interessant, dass dir diese Geschichte gerade einfällt. Es wirkt, als würde sich dahingehend ein Kreis schließen. Zu den Zwangsgedanken heutzutage, du könntest irgendjemandem etwas Schlimmes antun und es nicht mitbekommen.

Das ist genau so.

»Eine Zukunft ohne Zwänge? Ich glaube nicht.«

Meer ruhig Strand grüne Hügel

Ruhige See: Eine Zukunft ohne Grübeln, das wünschen sich Zwangspatienten. © Sean MacEntee under cc

Wie groß ist deine Hoffnung, eines Tages ohne die Zwangsgedanken sowie Zwänge im Allgemeinen sein zu können?

Meine Hoffnung geht gegen Null. Seit ich denken kann, fühle ich mich irgendwie unzulänglich. Voller psychischer Probleme. Eine Zeit lang waren sie einfach nur diffus in meinem Kopf. Ich konnte sie nicht ausmachen, wusste nur, dass sie mich nicht normal sein ließen.

Dann formuliere ich um: Was wünscht du dir für die Zukunft?

Von meinem jetzigen Standpunkt würde es schon ausreichen, wenn ich nicht noch mehr Zwänge dazu bekäme. Und wenn ich träumen dürfte …

Sicher. Nur frei heraus.

Ich würde gern weniger arbeiten. Ich weiß, dass ich überlastet bin durch den Leistungsdruck. Burnout ist auch ein Thema bei mir, hat meine Psychologin gesagt. Ich weiß das alles. Aber ich bin wie gelähmt. Das andere wäre noch anstrengender.

Eine Veränderung herbeizuführen, meinst du?

Ja, das meine ich. Ich müsste kündigen. Mir vorher einen neuen Job suchen. Wenn ich nur an die Bewerbungen denke. Wie oft ich über meinen Lebenslauf rübergehen würde, um auch wirklich genau zu prüfen, dass alles darin stimmig ist. Ich würde das alles zehnmal gegenchecken. Wenn nicht sogar noch häufiger.

Und eine berufliche Auszeit einzulegen? Wäre das auch ein Traum?

Und was für einer! Das wäre mein größter Wunsch. Ich muss mich ausruhen. Ich habe schon mit meiner Therapeutin darüber gesprochen.

Ich danke dir für deine Offenheit und dieses Interview. Alles Gute für dich!

Wir wünschen Ines für ihren weiteren Lebensweg alles Gute und dass sich für sie durch die intensive therapeutische Arbeit weitere Verbesserungen im Hinblick auf die Bewältigung ihres Lebens einstellen werden, welche sich zu diesem Zeitpunkt noch nicht antizipieren lassen.

Ab wann bin ich zwanghaft? Ein Vorausblick

Woran kann man erkennen, ob bei einem eine Zwangsstörung vorliegen könnte? Ab wann gehen die Ordnungsliebe oder Liebe zur Mathematik in einen Ordnungszwang beziehungsweise in einen Zählzwang über? Wie der klinische Alltag zeigt, hat man nicht auf einmal eine Zwangsstörung, sondern der Leidensdruck der Betroffenen kann sich sogar über Jahre hinziehen und einen wechselnden Verlauf annehmen. Mal sind die Symptome stärker ausgeprägt, dann wieder schwächer. Und wenn es dann wieder besser läuft im Leben, versichert man sich selbst womöglich, dass das zwanghafte Verhalten oder das ständige Grübeln nur eine Phase gewesen sei. Vielleicht ist man aufgrund von zu viel Stress an seine individuellen Belastungsgrenzen gestoßen und jenes äußerte sich in den verstärkten negativen Gedanken und dem ständigen Nachkontrollieren beim Verlassen der Wohnung. Oder man ist gestresst und nimmt aggressive Tendenzen in sich wahr, welche in unschönen Gedanken münden könnten, dass man der Welt/dem anderen etwas antut. Ab wann sprechen wir davon, dass es »bloß eine Phase« ist? Und ab welchem Zeitpunkt beziehungsweise bei welchen Anzeichen sollte man ernsthaft eine klinische Diagnostik in Erwägung ziehen? Um dies für sich in erster Linie grob zu klären, vor allem um sich klarzumachen, wie die tatsächliche persönliche Lage ist, könnte schon ein erstes unverbindliches Gespräch in einer Beratungsstelle hilfreich sein. Ferner kann man sich in Foren mit anderen Betroffenen austauschen. Dies dient dazu, seine speziellen und eventuell zwanghaften Gedanken und Verhaltensweisen nicht zu verdrängen, stattdessen das Thema für sich auf die Agenda zu setzen.

Im nächsten Teil der Artikelreihe zu Zwangsstörungen beleuchten wir tiefergehender die diagnostische Sicht: Ab wann bin ich zwanghaft? – Zwangsstörungen (3).