Über das Projekt Greenzero und seinen Initiator Dirk Gratzel habe ich schon vor über einem Jahr geschrieben, freilich ohne zu wissen, dass es sich um ihn handelt. Das hat den praktischen Grund, dass ich seine Geschichte aus dem Radio kannte und den Namen nicht richtig verstand und daher immer Ratzel(t) suchmaschinte und nicht fündig wurde. So habe ich ihn kurzerhand beim Vornahmen genannt und Dirks Geschichte kommentierend beschrieben, die mich damals schon beeindruckte.
Mit imposanter Konsequenz beschließt der ökologische Rüpel und erfolgreiche Unternehmer Dirk Gratzel in einem immer drängenderen Bewusstseinsprozess sein Leben zu ändern, sein Ziel ist es seine ökologische Lebensbilanz auszugleichen und am Ende klimaneutral zu leben. Das Radio-Feature endet damit, dass es ihm gelingt seinen ökologischen Fußabdruck dramatisch zu reduzieren, der Haken an der Sache ist, dass seine Ökobilanz trotz allem größer ist als es für den Erhalt der Erde gut ist. Das Projekt Greenzero beinhaltet ein gleichnamiges Buch, das Sie lesen sollten, warum es das wert ist, beschreibe ich nachher immer mal wieder.
Dirk Gratzel ist aber bei aller Akribie ein sympathischer Mensch, der zur Selbstironie fähig ist, nicht wie ein Messias auftreten will und es auch nicht tut. Er hat aber die Eigenschaft nicht locker zu lassen und merkt, er beschreibt es im Buch, dass seine Reduktion ein voller Erfolg ist, aber dennoch nicht genug. Das lässt ihm keine Ruhe und so ist das, was das Projekt Greenzero über das bereits Erzählte hinaus interessant sein lässt, nicht eine Freakshow, bei der man liest, zu was Menschen so fähig und bereit sind und angenehmerweise auch kein moralischer Zeigefinger, sondern das Betreten wirklich neuer Bereiche.
Wissenschaftliches Neuland
Dirk Gratzel geht sehr methodisch vor, forscht zunächst, welche wissenschaftlich gesicherten Daten es zu seinem Vorhaben gibt und findet immer wieder: eigentlich keine. Hier und da Annäherungen, aber viel mehr auch nicht. Im Buch und im Vorgängerartikel ist die Kontaktaufnahme zu Prof. Matthias Finkbeiner von der TU Berlin beschrieben, mit dem und dessen Team er diese Datenlücken ein wenig zu füllen gedenkt.
So ist nicht nur die systematische Erfassung einer Lebensveränderung in Richtung Klimaneutralität wissenschaftliches Neuland, sondern auch die Fragen, die Gratzel am Ende des Buches angeht sind es, nämlich, wie etwa eine aktive Reduzierung von Kohlendioxid aus der Atmosphäre angegangen werden könnte.
Neue Wege betreffen unter anderem die Datenerfassung und Überlegungen zur Umsetzung. Das Thema selbst ist natürlich nicht neu, auch nicht für die Wissenschaft. Seit etwa 1970 einer Elite bekannt, sickerte es bis 1980 in den Mainstream und dort schiebt man es seit 40 Jahren vor sich her, von einzelne Ökoaktivisten mal abgesehen. Doch Jahr um Jahr werden die Stimmen drängender, auch weil man kein Studium braucht um die Veränderungen der letzten Jahrzehnte einfach zu sehen, jüngste Kapitel: braunes Gras, tote Fichten (26% des deutschen Waldes bestehen aus Fichten und sterben gerade vor unseren Augen, entnehme ich Gratzels Buch), Wassermangel in einigen Teilen Deutschlands.
Die Politik versichert, jetzt müsse aber mal was getan werden, die Bevölkerung dankt mit Wiederwahl dafür, dass es bei den Ankündigungen bleibt, die Politik dankt zurück, mit weiteren Ankündigungen, von denen man ahnt, dass sie nicht kommen. Allerdings drängt die Zeit, denn aufgeschoben … wir kennen das.
Strukturelle Parallelen
Die Diskussion um Klima und Umwelt erinnert mich an eine, die ich mal zu einem ganz anderen Thema mitbekam, den Fallpauschalen im Krankenhaus. Sehr kurz heruntergebrochen geht es darum: Früher bekamen Krankenhäuser Geld für die Tage, die ihre Patienten im Krankenhaus verweilten, was in der Folge zu übermäßig langen Liegezeiten führte. Dem wollte man einen Riegel vorschieben, indem man nun eine Pauschale für jeden Fall zahlte, egal ob der Patient nun 3 oder 30 Tage im Krankenhaus zubrachte, was – man kann es sich denken – den gegenteiligen Effekt beförderte bis zur sogenannten ‚blutigen Entlassung‘: das Geld ist verdient, jeder weitere Tag den der Patient im Krankenhaus verbringt kostet nur. Also wird er schnellstmöglich entlassen.
In einer Podiumsdiskussion, die ich im Anschluss an einen Film zum Thema miterlebte, waren sich ausnahmslos alle einig, dass die Fallpauschale abgeschafft gehört, aber zugleich schob jeder den Ball dem anderen zu, als es darum ging anzufangen. Beim Thema Klima und Umwelt ist sich eine breite Mehrheit in Bevölkerung und Wissenschaft und zuweilen auch in der Politik einig, dass sich dringend etwas ändern muss und dann wird der Ball quer gepasst und von einem zum anderen gespielt. Einer muss doch mal schießen.
Dirk Gratzel wagt so einen Alleingang, wie der aussieht, erzählt sein Buch in interessanter und humorvoller Weise, das Kapitel über die Deutsche Bahn – die wir sicher dringend brauchen – kann problemlos einen langweiligen Abend unterhaltsam machen.
Aber über allem schwebt die nicht unwichtige Frage, die im Buch auch thematisiert wird, wer denn nun anfangen soll. Es gibt gute Gründe dafür zu fragen, was es denn schon bringt, wenn Deutschland allein sich ändert, als eines von vielen Ländern, die das alle nicht tun oder gar ich, einer von 83 Millionen aufs Fahrrad umsteigt.
Neben vielen Argumenten, ist eines der wichtigsten in meinen Augen, dass Deutschland eine besondere Rolle in der Welt spielt. Es macht einen Unterschied, ob etwas in Deutschland oder Peru beschlossen und durchgeführt wird, noch immer. Das Ansehen von Deutschland in der Welt ist hoch, wir sind kein riesiges Land aber auch nicht klein, dicht besiedelt, mit hohen Standards in so ziemlich jeder Hinsicht. Was hier gelingt, wird wahrgenommen und kann zum Vorbild werden, für die Welt, auch wenn man es nicht nationalistisch überdehnt.
Der Punkt ist, dass der Westen noch immer eine große Strahlkraft hat, die zwar abnimmt, aber noch kann man diesen Einfluss geltend machen und das sollte man auch tun, etwa wenn es um Statussymbole geht. Denn die Rechnung ist simpel. Wenn eine weltweit entstehende Mittelschicht den bisherigen Weg des Westens kopiert, mit immer mehr Autos, Reisen, Fleischkonsum, dann war es das. Da es aber menschlich verständlich ist, dass man, gerade wenn man das Gefühl hat bislang zu kurz gekommen zu sein, etwas nachholen möchte, steht man vor der Situation, dass Wohlstand neu definiert werden muss. Denn Wohlstand für alle, so wie er bisher definiert ist, bringt uns um, wenn nicht alle, dann doch viele. Zu wenig Wohlstand bringt einige um, andere führt er in ein Leben, in dem sie sich soziokulturell abgehängt fühlen und es sind. Unsere Lösung bisher war, dass es einigen gut geht, anderen schlechter und dass man sich das nicht so genau anschaut. Was ganz gut geht, da die, denen es schlechter geht, meistens in fernen Ländern wohnen und diejenigen, die es bei uns härter getroffen hat, recht effektiv die öffentlichen Blicken entzogen werden.
Wie großartig ist unser Leben eigentlich?
Dabei leben wir doch wirklich toll. Sagen zumindest die Statistiken, auch, dass die 10% der Ärmsten bei uns noch zu den 10% der Reichsten weltweit gehören. Also alles super? Dahinter schimmert ein Imperativ durch, nämlich, dass man endlich aufhören soll zu meckern. Aber ist der fest nach unten gerichtete Blick wirklich der, der uns hilft? Sollen wir uns weiter damit trösten, dass es anderswo noch schlimmer ist? Psychologen wissen, dass das nur dazu führt, dass man konservativer, gehemmter, ängstlicher wird und den vermeintlichen Rest, den man noch hat, nur fester umklammert.
Wie ist denn nun eigentlich meine Lebensbilanz, wenn ich Stand heute einen Strich ziehen müsste? Habe ich den Partner, den ich will und läuft es gut in der Beziehung? Habe ich den Beruf den ich mir gewünscht habe, kann mich dort verwirklichen und werde ich hinreichend wertgeschätzt? Bin ich körperlich so gesund, dass ich auch meine Freizeit angenehm gestalten kann? Habe ich ausreichend Geld dafür? Bin ich familiär gut eingebunden und/oder habe ich einen soliden Freundeskreis? Habe ich Ziele im Leben, die ich mit einiger Lust (statt nur mit verbissenem Ehrgeiz) verfolge? Habe ich zwischendurch auch manche meiner Ziele erreicht? Fühle ich mich angekommen im Leben? Oder muss ist erst noch dies und das erreichen um mich entspannen zu können? Wenn ja, wie viele Jahre oder Jahrzehnte geht das schon so? Bin ich psychisch gesund? Hat mein Leben einen Sinn und weiß ich, wofür ich morgens aufstehe? Haben ich Hobbys, pflege ich meine Talente? Kann ich gut loslassen?
Entscheidend ist, was Sie empfinden, wenn Sie ehrlich sind. Klar, es könnte immer besser sein und auch immer schlimmer. Aber wie ist es eigentlich in der Summe, bei Ihnen? Dirk Gratzel lässt uns kurz wissen, dass die letzten Jahre wegen einiger Vorfälle ziemlich schwierig waren, aber insgesamt ist er ausgesprochen dankbar für sein Leben und das, was ihm bislang ermöglicht wurde, gerade auch durch seine beruflichen Erfolge in der Vergangenheit und privates Glück.
Man könnte sein Buch mit einem ‚Meine Güte, was nimmt der da auf sich‘-Blick lesen, aber er selbst stellt es anders da. Das neue, vermeintlich entbehrungsreiche Leben ist für ihn extrem erfüllend. Wer den Genuss, den auch der Konsum bietet, noch nicht geschmeckt hat, wird ihn weiter auf dieser Ebene suchen, ganz einfach weil diese auch am besten zu beziffern ist. In Jahreseinkommen, Betriebshierarchie, Quadratmetern der Wohnung und PS des Autos oder der Wertigkeit des Urlaubs. 4 Sterne, all inclusive, 10.000 Kilometer weg, aber zum Schnäppchenpreis. Dirk Gratzel kennt das, findet anderes aber inzwischen sinnvoller und besser. Scheinbar ist er nicht der Einzige:
„In seinem diesjährigen Sonderteil fragt der Deutsche Post Glücksatlas, wie relevant ökologische Verantwortung und nachhaltiger Konsum für die Bevölkerung sind. Ergebnis: Klimawandel bleibt trotz COVID-19 eine der Hauptsorgen der Deutschen. Dies zeigt die Wichtigkeit von nachhaltigem Handeln auf. Die Daten zeigen zudem, dass nachhaltiger Konsum beim Großteil der Deutschen die Lebenszufriedenheit fördert.70 Prozent der Befragten geben an, dass es ihnen ein gutes Gefühl gibt, ein Produkt zu kaufen, das nachhaltig hergestellt wurde. Unterteilt man die Befragten basierend auf ihrem Grad an nachhaltigem Konsumverhalten in drei Gruppen, dann zeigt sich: Die „konsequent Nachhaltigen“ sind zu 48 Prozent sehr zufrieden mit ihrem Leben. Bei den „moderat Nachhaltigen“ sind es 41 Prozent. Dagegen bezeichnen sich von den „Sorglosen“ nur 29 Prozent als sehr zufrieden mit ihrem Leben.“[1]
Korrelationen sind keine Kausalitäten, mit anderen Worten, es ist unklar, ob glückliche Menschen eher bereit sind, sich um andere(s) zu kümmern, oder man glücklicher wird, weil man es tut (viel spricht für diese Variante), aber der Faktor Sinn im Leben wird immer klarer als ausgesprochen wichtig erkannt. Wenn Sie Ihren gefunden haben, toll, aber kollektiv betrachtet zersplittert die Gesellschaft mehr und mehr, es gibt keine allgemeinverbindlichen Alltagspraktiken und Narrative, man spielt nicht mehr gemeinsam Fußball oder redet über bestimmte Fernsehformate, ein kollektives Ziel haben wir eigentlich nicht. ‚Weiter so‘, hieß die Devise vielleicht zu vieler letzter Jahre und dass es uns gut geht.