Gehirnaktivität und inneres Erleben stehen in einem engen Zusammenhang, nur ist der nicht immer so, wie man ihn erwarten würde.
Die übliche Vorstellung
Üblicherweise meint man, dass die Gehirngröße im Vergleich zur Gesamtgröße eines Lebewesens und die Zahl der Verbindungen ausschlaggebend für die Leistungsfähigkeit ist. Je besser und störungsfreier sich das Gehirn entwickeln kann, um so intelligenter ist der Mensch und umso besser funktioniert auch sein Restleben, weil ja schließlich alles vom Gehirn abhängt, wie wir in den letzten Jahrzehnten gelernt haben.
Daher auch die ganzen Angebote von Neuro-Learning, Neuro-Enhencement, Neuro-Food und anderen Marketing-Gags, die suggerieren sollen, man wisse ungeheuer viel über das Gehirn und auch, wie man es verbessern kann. Denn auf der anderen Seite ist klar, dass wir an Leistungsfähigkeit einbüßen, wenn das Gehirn im Alter schrumpft oder gar voller Plaques ist. Von Schlaganfällen, Tumoren oder Schädelverletzungen ganz zu schweigen, die die Leistungsfähigkeit des Gehirns massiv einschränken, was im Alltag klar zu erkennen ist.
Viel Hirn, gut vernetzt, nicht eingeschränkt durch irgendwelche Drogen oder gar zerstört, dann ist man fit. Ist das Gegenteil der Fall, hat man leider Pech gehabt, sei es, dass es zu akuten oder schleichenden Störungen des intakten Gehirnstoffwechsels kommt. Beim letzten Mal sahen wir, dass die Serotonin-Hypothese der Depression irgendwo zwischen fragwürdig und falsch rangiert, doch auch andere Veränderungen machen es uns nicht leicht. Die übliche Vorstellung ist, dass der Grad der Veränderung des Gehirns in etwa mit der Schwere der Symptome korreliert.
In einem gesunden Gehirn wohnt ein gesunder Geist
Wären da nicht immer wieder seltsame Ausnahmen. Wir hatten zwei davon in „Ist eine Demenzprophylaxe möglich?“ vorgestellt. Eine Nonne, die körperlich und geistig bis zum Ende fit war, nach dem Tod untersuchte man ihr Gehirn, es war vollkommen übersät mit Plaques. Zudem ein Schachgroßmeister der zum Arzt kam, weil er merkte, dass er beim Schach einen Zug weniger vorausberechnen konnte als gewohnt, ansonsten war alles normal. Auch sein Gehirn war voller Plaques, beide hätten schwer dement sein müssen.
Vielleicht ist die Demenz eine Ausnahme? Nicht unbedingt. Der bekannte Neurowissenschaftler und Psychiater Manfred Spitzer führt bei einem Vortrag Bilder von erheblich zerstörten Gehirnen vor. Zu einem sagt er, die Diagnose per Bildgebung sei für Neurologen eindeutig, ‚der Mann ist tot‘, jedoch fuhr er regelmäßig mit dem Lastwagen durch die Gegend. Bei einem jungen Mädchen führte man eine drastische Therapie durch, man schnitt ihr linksseitig das halbe Gehirn weg. Die Folge hätte eine Halbseitenlähmung mit geistiger, vor allem sprachlich schwerer Einschränkung sein müssen. Bei einer Nachuntersuchung einige Jahre später sprang das Mädchen zur Tür herein, hinkte dabei nicht einmal und sprach zwei Sprachen fließend.
Gut in Erinnerung ist mir auch noch die Geschichte eines an sich sehr intelligenten Mannes, der einen schweren Schlaganfall erlitt, darauf tatsächlich halbseitig gelähmt war und für lange Zeit, auf das Niveau eines 4- oder 5-Jährigen Kindes absank, zu lange, als dass man nach dem Gewebeuntergang noch große Verbesserungen hätte erwarten können. Die gab es dann doch, nachdem eine Therapeutin mit ihm Visiualisierungen geübt hatte, bei denen er Schritt für Schritt sein linkes Gesichtsfeld zurückgewann, mit diesem auch seine ausgefallene Körperhälfte und seine geistige Leistungsfähigkeit, gegen jede Prognose.
Gut, könnte man sagen, das gibt es immer wieder mal, aber am Ende doch eben selten, bleiben wir doch bei dem, was der Normalfall ist. Aber auch der ist nicht so, wie wir ihn erwarten würden.
Gehirnaktivität und inneres Erleben
Man sollte denken und so konnte man es früher auch lesen, dass mehr Gehirnaktivität mehr geistige Leistungsfähigkeit bedeutet, darauf setzen Neuro-Drogen von Koffein bis Ritalin.
Der Fehler der meisten Ansätze ist, dass man alle paar Jahre denkt, es gäbe das eine Wundermittel, das man anwenden und am besten einnehmen muss und dann läuft alles von selbst. Wenn die gehypten Mittel nicht zu schädlich sind, ist das nicht falsch, weil es einen Placeboeffekt auslösen kann, den sollte man immer mitnehmen. Ansonsten sind die Lösungen zwar komplex, um die Leistungsfähigkeit zu erhalten oder zu steigern, aber in der Praxis auch einfach. Was gegen Depressionen hilft, hilft auch bei Leistungsfähigkeit. Depressionen und natürliche Rhythmen: Bewegung, guter Schlaf, soziale Kontakte, abwechslungsreiche Ernährung und nicht zu viel Stress, das reicht schon.
Vor allem, versuchen Sie nicht ängstlich irgendeinen geistigen Verfall aufzuhalten, man verliert im Alter manche Fähigkeiten, dafür kommen andere dazu. Doch da ist noch etwas anderes. Die Faustformel, dass mehr Gehirnaktivität besser ist und zu reicherem Erleben führt, ist so nicht richtig. Bernardo Kastrup hat bei seinem Online-Kurs zur Einführung in seinen analytischen Idealismus zehn Studien angehängt, die zeigen, dass ein reicheres inneres Erleben mit einer globalen Reduzierung der Gehirnaktivität einhergeht.[1] Durch verschiedenste Auslöser, wie Schädel- oder Gehirnverletzungen, holotropes Atmen, Halluzinogene, Testzentrifugen für Piloten, die die Blutversorgung zum Gehirn unterbinden, Nahtoderfahrungen oder Trance.
Die Kritik an dem Ansatz lautet, dass die Gehirnaktivität nicht generell erhöht oder reduziert werden muss, sondern dass je nach Tätigkeit bestimmte Bereiche stärker und andere schwächer durchblutet werden könnten. Hier so ein Modell. Doch die Tatsache, dass eine massive Unterbindung der Blutzufuhr zum Gehirn zu einem Erleben führt, das strukturierter, reicher und komplexer ist, als man annehmen sollte, ist erklärungsbedürftig.
Lebensverändernde Erfahrungen
Man ist in der Vergangenheit oft recht uninteressiert bis ruppig mit solchen Erfahrungen umgegangen, hat sie pathologisiert oder kleingeredet. Doch längst ist klar, dass es sich mitunter um Erfahrungen handelt, die lebensverändernd sind. Nicht alle, aber einige und so gibt es immer wieder Menschen, die nach Nahtoderfahrungen ihre Angst vorm Tod komplett verloren haben.
Aber nicht nur das, auch der Zugang zum Leben verändert sich und die Qualität des Lebens kann ganz anders erlebt werden. Nicht selten durch einen erweiterten Sinnbezug des eigenen Lebens, ein Ansatz, den man gerade wiederentdeckt hat. Doch nicht nur die Erfahrung, dass das, was man macht, endlich wieder einen Sinn hat, ist ausgesprochen wichtig, auch die Erfahrung über das „Ich“ hinaus zu gehen, kann lebensverändernd sein. Einfach gesagt, man nimmt sich nicht mehr so wichtig und wenn es zu spirituellen Durchbrüchen von erheblichem Ausmaß kommt, kann es sein, dass einem das eigene „Ich“ vollkommen egal wird.
In unserer Weltsicht ist das mitunter ein Problem, in der des (spirituellen) Ostens nicht, weil dort das „Ich“ als die Quelle der Probleme angesehen wird. Aus westlicher Sicht ist der Zugang zu Meditation, Trance, holotropem Atmen und so weiter schlecht und dann oft rein funktional. Immerhin erkennt man durch diese Brille inzwischen, im dritten Anlauf, das Heilungspotential dieser Bausteine, die dann, wie Neuro-Drogen das Leben optimieren sollen.
Ein wesentlicher Baustein der Lebensoptimierung ist allerdings, Versuche der Optimierung zu unterlassen. Es ist wie mit Gesundheit, Liebe, Sinn oder Glück, wer ihnen hinterher jagt, hat sie nicht und wird es schwer haben, sie zu finden. Östliche Ansätze, aber auch Meister Eckhart, meinen es durchaus ernst, mit der Hingabe und dem Loslassen. Dazu ist keine Romantisierung eines einfachen Lebens, mit Wasserschöpfen und Holzhacken notwendig, gemeint ist lediglich die radikale Hingabe an die Lebenssituation, in der man sich gerade befindet.
Optimierung über alles?
Wir sind im abendländischen Denken der Meinung, dass, statt der Idee der Hingabe und des Loslassens, das Konzept der steten Verbesserung effektiver ist. Im privaten wie im gesellschaftlichen Bereich und auch was die Gehirnchemie angeht. Alles richtig zu kombinieren, soll in kleinen Schritten einen Erfolg bringen. Die Stimmen, die das kritisch bis pessimistisch sehen, werden jedoch zunehmend mehr. Nur Kontrollfreaks sind happy, alles in ihrem Leben selbst regeln zu müssen und die sind oft zwanghaft oder narzisstisch, für die Gesellschaft ist das keine gute Voraussetzung.
Gibt es diesen eingebauten Kompass, der uns durchs Leben navigiert, wenn wir nicht zu viel selbst steuern wollen? Die einen meinen ja, die anderen bestreiten das, beide gehen ihren Weg. Bis vor kurzer Zeit hätten wir noch gesagt, dass der Westen einfach in jeder Hinsicht überlegen ist, aber die Mischung aus innerem Zerfall und äußeren Feinden ist nicht zu leugnen. Wer sich hingibt, versucht nicht mehr die Welt zu retten.
Er oder sie versucht auch nicht die eigene Leistungsfähigkeit zu optimieren, es sei denn im Bezug auf selbstloses Handeln. Insgesamt akzeptiert man, dass man dort, wo man sich befindet, zurecht ist und alles hat, was man braucht. Das sind wir überhaupt nicht gewohnt. Man stellt sich gewissermaßen in den Dienst und lässt die Natur, Gott oder das Schicksal/Karma durch sich wirken. Dass es einem dadurch besonders gut gehen muss, ist nicht gesagt, aber das ist auch nichts, was man unbedingt erwarten sollte.
Für manche führt aber die radikale Akzeptanz von Leid zu einem sinnvollen Leben, andere beschreiben das „radikale sich in den Dienst stellen“ paradoxerweise als höchste Stufe der Freiheit und des Glücks. Die Verbundenheit mit dem Ganzen zu spüren kann helfen, sogar extrem helfen, das sind die erwähnten lebensverändernden Erfahrungen. Wer die subjektive Wucht einmal gespürt hat, ist danach oft ein anderer Mensch. Diese Erfahrungen gehen mit einer Reduktion der Gehirnaktivität einher.
Was man dabei erlebt, ist aber verschieden. Es ist keinesfalls ein diffuses Feuerwerk der Sinne oder ein simpler Ausfall von wertvollen Gehirnleistungen, die die Kritikfähigkeit herabsetzen, wie es oft hieß. Die Erfahrungen sind oft reich, komplex, strukturiert und manchmal so gewaltig, dass sie all das, was wir zu wissen glauben, aushebeln. Gehirnaktivität und inneres Erleben laufen auch hier auseinander. Wir werden das weiter beobachten.
Quelle:
[1] Ich habe alle Quellen, die Kastrup zum Thema anführt, hier aufgelistet:- https://www.sciencedirect.com/science/article/abs/pii/S0028393215302360
- https://www.sciencedirect.com/…cle/pii/S0896627310000528
- https://www.thelancet.com/jour…0140673601071008/fulltext
- https://psycnet.apa.org/record/2007-15569-010
- https://journals.plos.org/plosone/article?id=10.1371%2Fjournal.pone.0118143
- https://journals.plos.org/plosone/article?id=10.1371%2Fjournal.pone.0049360
- https://www.zora.uzh.ch/id/eprint/140580/
- https://www.pnas.org/doi/10.1073/pnas.1518377113
- https://www.jneurosci.org/content/33/38/15171.full
- https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/2357157/