Das falsche Bewusstsein
Betrachtet man also den größeren Kontext könnte man sagen, dass manipulierte Menschen freiwillig unfrei sind. Ihre Träume, ihre Wünsche mögen zwar authentisch sein, in dem Sinne, dass sie das, was sie anstreben auch tatsächlich so meinen, aber genau das ist der Knackpunkt, denn das, was sie hier zum Ausdruck bringen, ist, so wird behauptet, gar nicht mehr ihr ureigener Wunsch. Zu diesem haben sie durch immer wiederholte Suggestionen nach und nach den Zugang verloren und statt dessen ein „falsches Bewusstsein“ entwickelt. Aus diesem heraus leben sie dann und all ihre Wünsche sind nur noch Surrogate einer verdrängten Bedürftigkeit.
Hat nicht auch Freud in etwa das behauptet, dass es eine verdrängte Ursprünglichkeit gibt, die man offenlegen und integrieren muss? Hat er, bei ihm sind es die verdrängten Triebwünsche des Es und so gibt es zwischen der Kritikern des „falschen Bewusstseins“ und der Psychoanalyse auch Koalitionen.
Das Thema einer verdrängten oder unterdrückten Eigentlichkeit des Menschen ist schon so oft, aus so unterschiedlichen Lagern herausgearbeitet worden, dass man den Verdacht haben darf, dass es nicht ganz falsch sein kann. Ob Kapitalismuskritiker wie Marx, Philosophen wie Martin Heidegger oder Jürgen Habermas, Psychoanalytiker wie Erich Fromm oder der schon genannten Sigmund Freud, sie stehen nur stellvertretend für eine längere Reihe von Denkern, die sich an dem Thema aus verschiedenen Perspektive abarbeiten.
Und ähnlich wie Freud, sehen linke Theoretiker die Lösung auch in der Bewusstmachung dieses Punktes. Der hier schon oft vorgestellte Psychiater und Psychoanalytiker Otto Kernberg kritisiert jedoch die Idee des falschen Bewusstseins:
„Habermas (1968, 1971) analysierte Ideologie in seiner Theorie als Resultat des falschen Bewußtseins einer sozialen Klasse, er entwarf die Auflösung dieses falschen Bewußtseins durch eine „kritische Theorie“, die selbst reflexive Aufklärung und soziale Emanzipation ermögliche. Er zog eine Parallele zwischen der Analyse von Ideologien und der psychoanalytischen Situation, in welcher der Patient die Behandlung ebenfalls mit einem „falschen Bewußtsein“ beginnt, um dann mit der Hilfe des Psychoanalytikers durch Selbstreflexion und aufrichtige Interaktion mit dem Analytiker zu einer neuen Aufklärung zu gelangen, die ihn von Verdrängung und Neurose befreien soll. Wenngleich diese marxistischen und nichtmarxistischen Autoren, die teilweise mit psychoanalytischen Konzepten arbeiten, sich zurecht auf die Charakteristika der Koventionalität und die durch das Über-Ich vermittelte Empfänglichkeit der Individuen für die konventionellen Aspekte der Massenkultur konzentrieren, ist der Zusammenhang, den sie zwischen der klassendeterminierten Ideologie und den Charakteristika der Massenkultur herstellen, fragwürdig. Ursprünglich hatten sie diese Eigenschaften der Massenkultur dem Kapitalismus zugeschrieben, waren aber dann gezwungen ähnliche Tendenzen auch in kommunistischen Kulturen zu diagnostizieren. Das Resultat war ihr Konzept des „falschen Bewusstseins“ (das sie aber nun nicht länger ausschließlich dem kapitalistischen System zuschrieben). Dabei aber ignorierten sie die historische Kontinuität der Konventionalität und insbesondere des Kitsches sowie die verblüffende Universalität der Anziehungskraft, welche die Massenkultur in grundverschiedenen Gesellschaften ausübt. (Man denke an die Attraktivität westlicher Massenkultur für die Jugendlichen und jungen Erwachsenen Chinas, Indiens und Lateinamerikas.) Marxistische und nichtmarxistische Autoren unterließen es auch, die gemeinsamen strukturellen Eigenschaften solcher Massenkulturen zu analysieren, die gegensätzliche Ideologien wiederspiegeln. Die Soaps zum Beispiel, die im Ostberliner Fernsehen während der kommunistischen Diktatur gesendet wurden, wiesen dieselben Charakteristika der Massenkultur auf wie jene des Westens. Die Schurken unterschieden sich: Sie entsprachen nicht kapitalistischen, sondern konventionellen kommunistischen Kategorien von Gut und Böse. Die Schlacht zwischen Gut und Böse aber war die gleiche. Gerade die „Struktur“ der Massenkultur, die Struktur ihrer Konventionalität, wird übersehen, wenn man sich ausschließlich auf die Motivation der Produzenten oder Vertreiber konzentriert.“[2]
Konsum
Gleich wie man zu der Idee eines falschen Bewusstseins steht, so kann man doch die Auffassung vertreten, dass eine irgendwie geartete tiefere Eigentlichkeit durch kulturelle Einflüsse verbaut oder in andere Bahnen gelenkt werden kann. Für den Psychoanalytiker und Sozialpsychologen Erich Fromm ist das ein bedeutendes Thema gewesen und fand in seinem viel beachteten Werk „Haben oder Sein: Die seelischen Grundlagen einer neuen Gesellschaft“ seinen Niederschlag eine kurze und ansprechende Darstellung findet man hier.
Der Konsum und die mit ihm vergesellschafteten Wünsche werden dann zum Ersatz, das Haben tritt an die Stelle, des eigentlicheren Seins. Sofort fallen uns vermutlich zahlreiche Beispiele von Menschen ein, bei denen ein vielleicht ursprünglicherer Wunsch hinter eine längst zum leeren Ritual oder gar zur Sucht verkommen ist. Ein kurzer Kick, wenn das nächste Paket kommt und das war es dann. Und doch ist es nicht so eindeutig. Wie wir beispielhaft am Thema der Medien aufzeigten ist es manchmal gar nicht zu entscheiden, ob es sich um eine Fehlentwicklung und Sucht oder einfach um eine neue Form des Lebensführung handelt.
Natürlich kann man sich wundern, wenn manche Menschen ständig den neuesten Entwicklungen hinterher hechten aber diese „Expeditiven“, wie sie beim Sinus-Institut genannt werden, könnten einfach die Pioniere der Gesellschaft sein und warum sollte das schlechter sein, als ein traditionelles Weltbild zu haben? Warum sind die einen manipuliert und nicht die anderen und wer sagt uns, dass es so ist? Wir müssen weiter suchen und tiefer graben.