Wenn normale Menschen grausam werden, diese Formulierung wirkt wie ein Widerspruch in sich. Bei Grausamkeit, gerade in Verbindung mit Terror, Folter und Sadismus, denkt man nahezu automatisch an Täter, die meistens mehr als minder stark psychisch deformiert sind. Im Beitrag über Intensivtäter und was bei ihnen schief gelaufen ist, zitierten wir Ullrich und Marneros mit der Frage:
„“Was ist das nur für ein Mensch, der so etwas tun konnte?“ Diese oftmals gestellte Frage nach den spezifischen Merkmalen und Charakteristika eines Menschen, der ein Verbrechen begangen hat, impliziert einen sehr wichtigen Aspekt. Indem wir diese Frage stellen, distanzieren wir uns, grenzen wir uns ab, betonen die Unmöglichkeit, dass die selbst, die wir so „normal“ sind, solche Dinge tun könnten. Und dies ist ein Selbstbetrug. In gewissen Situationen, unter gewissen Umständen kann (fast) jeder von uns zum Verbrecher werden – auch wenn wir dies nicht wahrhaben wollen.“[1]
Diesen Umständen sind wir damals nicht weiter nachgegangen und wollen dies jetzt nachholen.
Monster, Irre, Psychopathen
Verleugnung und Verdrängung war notwendig. Man selber würde so etwas nie machen, der Normale ist vor Gewalt und Gräueltaten gefeit. Nach dem Zweiten Weltkrieg, in dem Terror, Folter und Sadismus für gar nicht so wenige Menschen zum Alltag gehörten, musste eine neue Identität gefunden werden, auch für die Menschen, die irgendwo in dem Kontinuum zwischen einem sadistischen Charakter, einem glühenden Ideologen und einem Mitläufer zu den Tätern gehörten.
Damit man weiter existieren kann, musste die Aufarbeitung zunächst ausfallen. Natürlich war da irgendwas, es lag ja in den Zeiten des Wirtschaftswunders nur ein paar Jahre zurück. Aber was da geschehen war, das hatte mit den meisten heute lebenden Menschen nichts zu tun, es muss sich um die Tat einiger Wahnsinniger gehandelt haben, denn normale Menschen, so war schnell wieder klar, die sind zu so etwas gar nicht fähig.
Unterstützt wurde diese Sichtweise durch die nach dem Zweiten Weltkrieg besonders beliebten Heimatfilme, die mit ihrem kitschigen Herzschmerz und der Heilen-Welt-Romantik einen Gegenpol zu den Erlebnissen von Krieg, Bombennächten, Toten und Vermissten und den Entbehrungen des Wiederaufbaus darstellten. Anfang der 1960er hielten immer mehr Fernsehgeräte Einzug in den Haushalt und mit ihnen die so beliebten Krimis, in denen das Böse oft vom genial-verrückten Klaus Kinski dargestellt wurde und somit weiter die Überzeugung nährte, dass Täter irgendwelche skurrilen Figuren seien, mit dämonischem Blick und merkwürdiger Stimme, in jedem Fall anders.
Die nächste Generation Krimis wurde von der beim Publikum (weltweit) überaus beliebten Serie Derrick verkörpert und auch wenn der Täter nun allmählich nicht mehr „irre“ war, so fiel er doch, das gewünschte Klischee bedienend, aus der Norm.
Das Land wurde vom Fernsehen erzogen, doch es war, anders als in den heute beliebten Verschwörungstheorien oft zu hören, keine Manipulation durch eine Lügenpresse, sondern: „Das Konzept der Serie, deren einzelne Folgen ursprünglich auf neunzig Minuten angelegt waren, wurde nun Schritt für Schritt geändert und dem Geschmack der Zuschauer angepasst.“[2]
Ein Schulfreund, der sich privat viel mit älteren Menschen über die Kriegszeit unterhielt, fragte im privaten Kreis und lockerer Runde immer mal wieder, wie sie diese erlebt hätten und sein ironisches Resümee war: „Alle waren im Widerstand, keiner hat geschossen.“ Die Verdrängung klappte.
Die ganz normalen Täter
Doch mehr und mehr wurde klar, dass auch die schlimmeren und manchmal schlimmsten unter den Tätern keinesfalls immer dem Bild des bösartigen Monsters entsprachen, jedenfalls nicht dem, wie es sich die Öffentlichkeit gerne machte: ein grober, unrasierter Mann, irgendwie schmierig, versoffen und mit dunkler Stimme.
So waren sie nicht, nicht mal die Nazi-Größen. Hannah Arendt, die Philosophin und politische Theoetikerin, prägte den berühmten Satz von der Banalität des Bösen, mit der sie vor allem Menschen wie den SS-Obersturmbannführer Adolf Eichmann meinte, der persönlich vermutlich nie getötet hatte, aber für die Organisaton der Deportation der Juden und der Konzentrationslager und damit für Mord in Millionenzahl verantwortlich war.
„Arendt bezeichnet Eichmann als normalen Menschen. Abgesehen davon, dass er eine Karriere im SS-Apparat machen wollte, hatte er kein Motiv, vor allem war er nicht übermäßig antisemitisch. Er war psychisch normal, kein Dämon oder Ungeheuer. Er erfüllte nur seine Pflicht, er hat nicht nur Befehlen gehorcht, sondern dem Gesetz gehorcht. Der Gesetzgeber war Adolf Hitler mit seinem Führerwillen, Eichmann war nicht länger Herr über [s]ich selbst, ändern konnte [er] nichts. Eichmanns Unfähigkeit, selbst zu denken, zeigte sich vor allem an der Verwendung klischeehafter Phrasen, einem Verstecken hinter der Amtssprache.“[3]
Es gilt als kontrovers, ob Arendt Eichmanns Charakter richtig erfasst hat:
„Noch immer steht die Person Adolf Eichmann beispielhaft für all jene Menschen, die Verantwortung für ihr Tun mit dem Hinweis leugnen, sie führten nur Befehle aus. Beispiele für solche Menschen gibt es genug. Zuweilen ist ihre völlige Ideologieferne, ihre »Normalität« als Mensch das Banale. Eichmann dagegen taugt als Inbegriff der Banalität des Bösen nur bedingt. Zu sehr hat sich Hannah Arendt vielleicht auch von dem Bild leiten lassen, das er während des Prozesses von sich vermittelt hat. Denn Eichmann war ein überzeugter Nationalsozialist und Karrierist gewesen. Aktiv gestaltend brachte er sich als Angehöriger der SS in die Vernichtungsmaschinerie des Dritten Reiches ein.“[4]
Doch fraglos hat sie den Charakter der Banalität oder Normalität des Bösen richtig erfasst.
Bis in die Spitzen der Naziführung, zum Chefideologen und fanatischen Judenhasser Heinrich Himmler, gibt es Rätsel. Galten Hitler, Goebbels und Göring als eher gebrochen, so heißt es vom ehemaligen Reichsführer SS:
„Himmler stammte aus dem konservativ-monarchistischen Bildungsbürgertum Bayerns; sein Vater Gebhard, der später als Gymnasialdirektor in München amtierte, hatte einen Wittelsbacher Prinzen erzogen, der Namensgeber und Taufpate seines Sohnes Heinrich wurde. Mutmaßlich genoss der Sohn eine behütete Kindheit in intakter Familie – und eine gute Bildung. Er besuchte humanistische Gymnasien in München und Landshut, legte nach dem Ende des Ersten Weltkriegs sein Abitur ab und schrieb sich Ende 1919 als Student der Agrarwissenschaft an der Technischen Universität München ein. Er galt als fleißiger Kommilitone und engagierte sich außerdem in einer Reserveformation der Reichswehr.“[5]
Wenn wir den Weg von der Spitze wieder nach unten gehen, finden wir auch hier keinesfalls durchgehend Monster.
Die Wohlgesinnten
Jonathan Littell hat in dem Buch „Die Wohlgesinnten“ die fiktive Geschichte eines kultivierten Nazis in historisch stimmigem Umfeld nachgezeichnet. Der promovierte Jurist Dr. Max Aue ist ein homosexueller, kultivierter Nazi, hört Bach, reagiert als feinsinniger Geist psychosomatisch auf die Erschießungen, deren Zeuge er ist, will, dass KZ-Insassen anständig behandelt werden, um ihre Arbeitskraft zu erhalten.
Littell zeichnet das vielschichtige Bild eines gebildeten Menschen, der dennoch überzeugter Nazi ist. Keine Bestie, kein dumpfer, denkunfähiger Befehlsempfänger.
Und auch jenseits der Fiktion und hierarchisch noch einen Schritt weiter auf den Normalbürger zugehend, hat man herausgefunden, dass es keinesfalls Psychopathen brauchte um die Funktionen der Vernichtungslager aufrecht zu erhalten, es reichten normale Narzissten und Opportunisten.
Nun, das ist lange her, könnte man sagen. Und vielleicht kamen in der Zeit des NS-Regimes viele Umstände zusammen, die sich so schnell nicht wiederholen. Vielleicht braucht es ja diese besonderen Umstände, wenn normale Menschen grausam werden.
Doch das wirkliche Problem ist, dass die Umstände gar nicht so außergewöhnlich sein müssen, um Menschen dazu zu bringen, anderen Leid anzutun, sie sogar zu foltern und zu töten. 1961 fand das berühmte sozialpsychologische Milgram-Experiment statt. In diesem Experiment wurden Versuchspersonen dazu gebracht, einem fremden Menschen immer heftigere fiktive Stromstöße als Strafe zu verabreichen (das Ganze war eine Inszenierung mit einem Schauspieler).
Das Experiment wurde in Variationen wiederholt und brachte kulturübergreifend stabile Ergebnisse hervor, die meisten Menschen traktierten den zu Strafenden am Ende sogar mit der maximalen Dosis der Stromstöße, fragende Zweifel wurden mit einfachen Formulierungen, wie: „Das Experiment erfordert, dass Sie weiter machen.“, für viele ausreichend erklärt.
Es zeigte sich eine Abhängigkeit des Gehorsams von verschiedenen Variablen. Ein guter Schutzfaktor gegen blindes Gehorsam war das Gefühl für persönliche Verantwortung im Selbstbild der Probanden. Erschreckend war, dass normale Menschen, ohne Hass oder Aversion gegenüber dem anderen, fähig und bereit waren, diese zu quälen, theoretisch sogar zu töten. Es reichten minimale Vorwände.
Zehn Jahre später wurde ein anderes sozialpsychologisches Experiment ersonnenen, das Stanford-Prison-Experiment von Zimbardo, Haney und Banks. Teilnehmer waren Studenten der Mittelschicht, ohne besondere psychische Auffälligkeiten, wie man zuvor testete. Diese wurden zufällig in zwei Gruppen aufgeteilt, Wärter und Gefangene. Die Wärter bekamen Uniformen, die andere Gruppe Gefangenenkleidung.
„Die Gefangenen erhielten Nummern, die sie statt ihrer Namen zu verwenden hatten. Diese Nummern waren auch auf der Vorder- und Rückseite ihrer Kittel angebracht. Im Falle eines Ausbruchs, so wurden die Wärter informiert, würde das Experiment abgebrochen werden. Ansonsten hatten die Wärter die Freiheit, eigenständig Regeln auszuarbeiten und alle nötigen Maßnahmen zu ergreifen, um Ruhe und Ordnung im „Gefängnis“ zu wahren.“[6]
Das Ergebnis war, dass die an sich spielerische Lage schnell eskalierte:
„Das Experiment geriet schnell außer Kontrolle. Nach drei Tagen zeigte ein „Gefangener“ extreme Stressreaktionen und musste entlassen werden. Einige der Wärter zeigten sadistische Verhaltensweisen, speziell bei Nacht, wenn sie vermuteten, dass die angebrachten Kameras nicht in Betrieb waren. Teilweise mussten die Experimentatoren einschreiten, um Misshandlungen zu verhindern. Nach nur sechs Tagen (zwei Wochen waren ursprünglich geplant) musste das Experiment abgebrochen werden, insbesondere, weil die Versuchsleiter feststellten, dass sie selbst ihre Objektivität verloren, ins Experiment hineingezogen wurden und gegen den Aufstand der Gefangenen agierten.“[7]
Auch hier hatten die Menschen an sich freie Hand und es bestand keine anfängliche Feindschaft oder Aversion zwischen den Gruppen, wieder zeigte sich, wie weit an sich normale Menschen zu gehen bereit waren und auch vor Sadismus nicht zurückschreckten. Wenn normale Menschen grausam werden, braucht es scheinbar keine großen Anlässe.
Wie sieht es heute aus?
Terror wird heute und bei uns überwiegend mit dem IS-Terror assoziiert. Jan İlhan Kızılhan ist Orientalist und Psychiater und hat sich vor allem intensiv mit den Terroristen und ihren Opfern auseinander gesetzt und dabei beide Seiten interviewt. Anders als man denken sollte, findet man hinter den monströsen Taten keine Monster. Vielmehr sind auch hier viele Terroristen geradezu erschreckend normal.
„Die Elite des IS besteht aus Intellektuellen, mit hohem akademischem Grad. Von hohen Generälen, Offizieren bis [zu] Leuten mit Doktorabschluss in Philosophie, Religion, Medizin“, so Kızılhan in einem Interview der WDR 5 Redezeit[8].
Doch jeder totalitäre Staat, jedes Terrorregime braucht Anhänger. Und auch diese, sagt Kızılhan, der auch andere Gewalt- und Terroropfer untersuchte, sind oft recht normale Menschen, die in einem anderen Umfeld vielleicht eine normale Biographie gehabt hätten. Kızılhan benennt als Ursachen den Islam, archaische Strukturen und Erfahrungen aus Regionen der Welt, in denen im Grunde nie Frieden geherrscht hat.
Für die moderne Radikalisierung in den europäischen Städten reicht aber auch das Internet und die von vielen Kindern und Enkeln der Migranten erlebte soziale Ausgrenzung, sowie familiäre Probleme, die bei einigen Jugendlichen von einer Kränkung in Wut und Aggression umschlägt. Den Rest besorgt eine faschistische Ideologie, die zwischen Menschen und Nichtmenschen unterscheidet. Diese Ideologie versorgt Menschen mit einer Identität und das zieht besonders Leute an, die sich ihrer Identität nicht sicher sind. Diese Sogwirkung sieht man an den Konvertiten, die nach Kızılhan Aussage als IS-Kämpfer weitaus brutaler sind, da sie sich als besonders linientreu zeigen wollen, da ihnen die „natürliche“ Zugehörigkeit fehlt.[9]
Kızılhan sprach mit IS-Kämpfern im Irak und war unsicher, ob diese das Gespräch führen würden, doch er erlebte sie als ruhig und besonnen, da sie, wenn sie mit ihrer Ideologie nicht gebrochen hatten, den Interviewer als Kanal sahen, um die Botschaft, die sie für richtig hielten, weiter in die Welt zu tragen.[10]
„Wie können Sie Kinder umbringen, Sie haben doch selbst Kinder?“, fragte der Psychiater und die Antwort ging stets in die Richtung, dass die Getöteten in der Augen ihrer Mörder keine Menschen mehr waren.[11] Das ist es, was eine faschistische Ideologie vermag, in Menschen und Menschen zweiter, dritter Wahl oder gar Unmenschen zu unterscheiden.
Ideologische und pathologische Entmenschlichung
Es gibt Menschen, die Ideologie generell kritisch sehen, was wohl auch von der Definition des Begriffs und dem eigenen ideologischen Hintergrund abhängt. Aber Begriffe wie Ideologie, Weltbild, Glaube, Überzeugung oder Wir-Gefühl hängen eng zusammen. Wir hatten bei chronisch Kriminellen, die sich dem antisozialen Ende des Spektrums allmählich annähern, herausgefunden, dass auch ihnen die Dehumanisierung oder Entmenschlichung eigen ist. Es ist nicht leicht zu morden, auf Augenhöhe schon gar nicht. Bei pathologisch schwer gestörten Kriminellen ist die Entwertung anderer fester Bestandteil der Persönlichkeitsstruktur.
Beim oft ’nur‘ narzisstischen Rest muss die Ideologe nachhelfen zu bestätigen, dass man auf dem richtigen Weg ist und es gibt eine innere Beziehung zwischen der Ideologie, die man bevorzugt und der Persönlichkeitsstruktur. Otto Kernberg dazu:
„In Übereinstimmung mit Green vertrat ich die Ansicht, dass die Unfähigkeit, sich einem Wertesystem verpflichtet zu fühlen, das über Grenzen selbstsüchtiger Bedürfnisse hinausgeht, gewöhnlich eine schwere narzisstische Pathologie widerspiegelt. Die Verpflichtung gegenüber einer Ideologie, die sadistische Perfektionsansprüche stellt und primitive Aggression oder durch konventionelle Naivität geprägte Werturteile toleriert, gibt ein unreifes Ich-Ideal und die mangelnde Integration eines reifen Über-Ichs zu erkennen. Die Identifizierung mit einer „messianischen“ Ideologie und die Akzeptanz gesellschaftlicher Klischees und Banalitäten entspricht daher einer narzisstischen und Borderline-Pathologie.“[12]
Wenn normale Menschen grausam werden, dann finden wir, in unseren Breitengraden, häufig folgende Mixtur: Ein gewisser Grad an Pathologie, erlebte Kränkungen und Demütigungen sowie Regressionen in einem Umfeld Gleingesinnter, können dafür sorgen, dass auch nicht schwer gestörte oder gelegentlich sogar psychisch normale Menschen zu Mördern, Sadisten oder Terroristen werden.
Die Rolle der Ideologie ist dabei ambivalent. Auf der einen Seite schützt sie die Individuen, die an sie glauben. Kızılhan sagt, dass Menschen, die auch nach grauenvollen Taten weiter von ihrer Ideologie überzeugt sind, diejenigen sind, denen es psychisch besser geht. Die innere Überzeugung gibt ihnen die Ruhe und Gewissheit für eine gute Sache zu stehen. Erst Menschen, die ihre Taten reflektieren, kommen in die Ungewissheit, und die Reue macht sie zunächst krank, auch wenn sie das reifere Empfinden ist.
Eine Ideologie, ein Weltbild gibt Struktur, Schutz und psychische Stabilität. Es lohnt sich immer wieder darüber nachzudenken, wie wichtig psychologische Rollen und kulturelle Identitäten sind. Einerseits ist es gut und richtig, dass nicht jeder Mensch umsonst zu unserer Gesellschaft dazu gehört. Andererseits sollten die Hürden auch nicht frustrierend hoch sein und mehr an kulturellen als an biologischen Eigenschaften orientiert sein. Man kann von jemandem verlangen, sich an ein Wertesystem anzupassen, nicht an die Hautfarbe.
Die ambivalente Rolle der Ideologie sollte nicht dahingehend interpretiert werden, dass man meint, es sei ein Vorteil auf jede Form der Ideologie zu verzichten. Hier gilt es genau hinzuschauen, denn wer nicht bereit ist sich irgendwelchen Regeln unterzuordnen, ist eher präkonventionell, als postkonventionell. Zum Unterschied: Stufen der Moralentwicklung. Ideologie ist ist auch das, was Resilienz ermöglicht, Ideale zu haben ist wichtig für uns, bietet uns eine Orientierung und kaum etwas führt zu mehr Verunsicherung, als keine zu haben.
Schlecht wäre auch Folgendes:
„In einem aktuellen Aufsatz untersucht der Psychologe Philip Zimbardo von der University of California, Berkeley, die Täterpsychologie: Unter welchen Bedingungen werden aus gewöhnlichen Menschen folternde Sadisten? Unter anderem gibt er folgendes Zehn-Punkte-„Rezept“ an:
- Gib der Person eine Rechtfertigung für ihre Tat. Zum Beispiel eine Ideologie, „nationale Sicherheit“, das Leben eines Kindes.
- Sorge für eine vertragsartige Abmachung, schriftlich oder mündlich, in der sich die Person zum gewünschten Verhalten verpflichtet.
- Gib allen Beteiligten sinnvolle Rollen, die mit positiven Werten besetzt sind (z. B. Lehrer, Schüler, Polizist).
- Gib Regeln aus, die für sich genommen sinnvoll sind, die aber auch in Situationen befolgt werden sollen, wo sie sinnlos und grausam sind.
- Verändere die Interpretation der Tat: Sprich nicht davon, dass Opfer gefoltert werden, sondern dass ihnen geholfen wird, das Richtige zu tun.
- Schaffe Möglichkeiten der Verantwortungsdiffusion: Im Falle eines schlechten Ausgangs soll nicht der Täter bestraft werden (sondern der Vorgesetzte, der Ausführende, etc.).
- Fange klein an: Mit leichten, unwesentlichen Schmerzen. („Ein kleiner Stromschlag von 15 Volt.“)
- Erhöhe die Folter graduell und unmerklich. („Es sind doch nur 30 Volt mehr“)
- Verändere die Einflussnahme auf den Täter langsam und graduell von „vernünftig und gerecht“ zu „unvernünftig und brutal“.
- Erhöhe die Kosten der Verweigerung, etwa indem keine üblichen Möglichkeiten des Widerspruchs akzeptiert werden.
Die These Zimbardos und eine Interpretation des Milgram-Experiments ist, dass unter solchen Rahmenbedingungen die meisten Menschen bereit sind, zu foltern und anderen Menschen Leid anzutun.“[13]
Gut hingegen ist, Ideologien zu vertreten, die einerseits klare Orientierung bieten, andererseits nicht faschistisch und entwertend gegenüber jenen sind, die nicht mitmachen wollen. Menschen sind prinzipiell auch zur Aggression fähig, das sollte bedacht werden. Orientierungen, die insgesamt weniger auf ein Kollektiv abzielen, als vielmehr das Individuum und seine Verantwortung in den Mittelpunkt stellen, sind in diesem Kontext gut. Wir sahen oben, beim Milgram-Experiment, dass ein Gefühl für Verantwortung ein Individuum schützt, jeden Befehl blind auszuführen. Ein reifes Ich, das sich nicht narzisstisch als Nabel der Welt versteht, sondern konstruktiv und kreativ einbringt, aber auch Grenzen setzt. Ideen des gemeinsamen Lebens sind ja auch Einladungen, man hat das Recht zu formulieren, unter welchen Bedingungen diese stattfinden. Wer nicht will, der muss ja nicht, sollte dafür dann aber auch nicht noch belohnt werden.
Wenn normale Menschen grausam werden, ist eine Idee schwer entartet. Das kann man erkennen und ändern. Klarheit und Struktur, zu der auch Grenzen gehören, beißen sich nicht mit einer prinzipiellen Offenheit für alle Gutwilligen. Wie wir sehen, ein schwierig zu findendes Gleichgewicht, aber ein wichtiges. Wir müssen uns klar werden, was wir wollen, uns trauen das zu formulieren und jeweils angemessen zu verteidigen. Law and Order ist ein Rezept, was Regressionen eher fördert und zu Grausamkeiten einlädt, doch davon gibt es schon genug. Auf klare Ziele kann man auch flexibel zusteuern, wir müssen sie nur formulieren.