Aggression begleitet nicht nur eng die Geschichte unseres Menschseins, sondern auch die Geschichte des Lebens. Man sollte meinen, dass ein so durchgehendes Element der Lebens bestens erforscht und überbekannt ist, doch das ist nicht ganz richtig. Aggression in der eigenen Psyche, in den eigenen Motiven wird noch heute oft vehement verdrängt und geleugnet, im Fremden und der Gesellschaft löst sie Abscheu und Entsetzen aus. Es wird immer noch als erstrebenswertes Ziel angesehen, Aggressionen aus der Welt zu schaffen und ein friedliches Ganzes zu kreieren, was zeigt, dass Aggression als ein Fehler im System gesehen wird.
Es ist unmöglich das Feld der Aggressionen in Gänze abzudecken, weil sich unendlich viele Bereiche mit ihr beschäftigen. So wollen wir prägnante Splitter herausgreifen und versuchen anhand dieser Splitter eine skizzenhafte, aber durchgängige und konsistente Geschichte der Aggression zu erzählen, die vor allem biologische, psychologische und gesellschaftliche Aspekte der Aggression berücksichtigt.
Arten der Aggression
Es gibt im Tierreich etliche Arten der Aggression und diese sind auch im Menschen als aggressive Dispositionen noch gegenwärtig: Um „ein Neugeborenes zu verteidigen, das des elterliches Schutzes bedarf; die Aggression im Dienste der Revierverteidigung, die die Nahrungsquellen schützt; schließlich die Aggression, wie sie an der Rivalität der Männchen um den Besitz von Weibchen beteiligt ist.“[1]
Doch darüber hinaus ist Freud auf Aggressionen im Menschen gestoßen, die sich nicht auf die genannten Wurzeln zurückführen lassen und die keinesfalls marginal sind.
„Die Phänomene des Wiederholungszwangs, die Syndrome des Sadismus und Masochismus, die negative therapeutische Reaktion, Suizid bei schweren Depressionen und, nicht zu vergessen, destruktives und selbstdestruktives Verhalten als Teil von gruppendynamischen Prozessen lassen erkennen, dass Selbstdestruktivität ein zentrales motivationales System darstellt, das zuweilen das gesamte Verhalten beherrscht.“[2]
Es sind diese Verhaltensweisen, die es noch immer berechtigt erscheinen lassen, von einem Todestrieb zu sprechen, auch wenn dieser Begriff selbst in der Psychoanalyse infrage gestellt und außerhalb dieser abgehlehnt wurde. Beliebt ist er bis zum heutigen Tag nicht, wie hätten es gerne anders.
„Der Todestrieb widerspricht zutiefst der eher optimistischen Sichtweise der menschlichen Natur, die auf der Annahme basiert, dass wenn es in der frühen Entwicklung zu keinen schwerwiegenden Frustrationen oder Traumatisierungen kommt, Aggression kein größeres menschliches Problem darstellen würde.“[3]
Aber gibt es nicht auch allen Grund für diesen Optimismus? Michael Tomasello, der Direktor des Max-Planck-Instituts für evolutionäre Anthropologie hat unlängst „Eine Naturgeschichte der menschlichen Moral“ herausgegeben. Und in dieser stellt er detailliert dar, dass gerade der Mensch, wie sich in zig verschiedenen Experimenten erwiesen hat, gegenüber anderen Primaten als um Längen kooperativer erwiesen hat. Der Mensch ist über die Maßen fair und kooperativ, „ultrakooperativ“ wie Tomasello anmerkt und eine seiner Schlussfolgerungen lautet:
„Insgesamt scheint es, dass anderen zu helfen für junge Menschen etwas Natürliches ist und durch Empfindungen von Mitgefühl intrinsisch motiviert ist.“[4]
Passt das zusammen und wenn ja, wie?
Ist Aggression angeboren oder erlernt?
Fragen dieser Art hört man noch immer und es ist an der Zeit, sie endgültig zurückzuweisen. Fragen nach dem entweder-oder bringen die Diskussion nicht nur nicht weiter, sondern werfen sie zurück. „Der Mensch“ ist so gut wie nie an einem Ende des Pols zu verorten, weder bei der Frage, ob Aggressionen angeboren oder erlernt sind – stets beides – noch bei anderen Fragen die sich der Natur des Menschen in ähnlicher Weise nähern und sie zu einem alles erklärenden Pol hin auflösen wollten.
Ob denn der Mensch ein biologisch oder sozial geprägtes Wesen ist, ist schon deshalb nicht zu sagen, weil Biologie und Soziales, Erbe und Erworbenes eng verzahnt sind und unauflöslich ineinander greifen. Wenn es noch eines Beweises bedurft hätte, die Epigenetik ist dieser Beweis. Als ein konkretes Beispiel sind chronische Schmerzen als ein biopsychosoziales Phänomen beschrieben und anerkannt und auch gar nicht anders zu verstehen und zu behandeln.
Ist der Mensch aggressiv hassend oder liebend? Beides ist in ihm, als Disposition, als Möglichkeit des Verhaltens. Gleiches gilt für die Fragen nach Gut und Böse, oder ob der Mensch nun eine rationales oder emotionales Wesen ist: Alle Versuche, sein Sosein nach der einen oder anderen Seite aufzulösen sind krachend gescheitert. In der Sexualität finden wir immer liebend begehrende und aggressive Elemente vereint und noch der harmloseste Kuschelsex ist eine Überwindung und Infragestellung von körperlichen und soziokulturellen Grenzen, mithin ein aggressiver Akt.
Am nächsten kommen wir dem gegenwärtigen Bild vom Sosein des Menschen in einer Vorstellung von dynamischen, sich also immer wieder ändernden und anpassungsfähigen Gleichgewichtssystemen. Sowohl in einem Individuum, als auch im Ganzen der Menschheit. Intuitiv wissen wir das vermutlich und finden biographische Brüche weitaus faszinierender, als glatte Biographien, die uns schnell langweilen.
Aggressiv oder kooperativ?
So ist auch die oben gestellte Frage, ob der Mensch nun ein aggressiver, destruktiver und selbstdestruktiver Akteur ist oder ein kooperativer letztlich kein Widerspruch, doch das muss erläutert werden. Um ein psychologisch konsistentes Bild zu erhalten muss man sich noch einmal der Frage nach der gelernten Aggression widmen. Peter Fonagy schreibt dazu:
„Es gibt Situationen in denen das Konzept einer reaktiven Aggression zutiefst unbefriedigend erscheint. Zum einen ist hier an die exzessive Grausamkeit von Menschen und Gruppen zu denken, die ohne Grund und ohne zuvor provoziert worden zu sein eine Brutalität und Bestialität an den Tag legen, die paradoxerweise im Tierreich ihresgleichen sucht. Die Fähigkeit zu Gewaltexzessen ist eine menschliche Eigenschaft und nahezu per definitionem jenseits dessen, was als Reaktion auf Frustration gerechtfertigt erscheint.“[5]
Der Mensch ist ultrakooperativ, aber auch ultrabrutal. Beides passt in dem Moment zusammen, wo wir nicht mehr davon ausgehen, dass Aggression gelernt werden muss, sondern als Disposition und Verhaltensweise in uns vorhanden ist und in Gegenteil schrittweise verlernt wird. Empirische Befunde bestätigen dies. Wieder Peter Fonagy:
„Aggression tritt nicht plötzlich auf, sie verschwindet allmählich. Berichte von Müttern legen den Schluss nahe, dass körperlich aggressives Verhalten am Ende des 2. Lebensjahrs seinen Höhepunkt erreicht, um dann stetig abzunehmen (Tremblay et al. 1999). Rund 90% aller Mütter bestätigen, dass im Alter von 17 Monaten ihr Kind körperlich aggressiv gegen andere ist. Ungefähr eines von vier Kindern dieser Altersstufe hat ein anderes Kind geschlagen. Interessanterweise neigen Mütter dazu, dies zu vergessen, um ein Jahr später zu behaupten, ihr Kind habe bis zum 2. Lebensjahr kein anderes Kind geschlagen. Im Alter von 12 Monaten verfügen Kinder über die kognitiven, körperlichen und emotionalen Möglichkeiten, sich anderen gegenüber aggressiv zu zeigen, und sobald dies der Fall ist, so scheint es, beginnen sie tatsächlich zu schlagen, zu beißen und zu treten. Es ist keine Übertreibung, zu behaupten, dass sobald das kindliche Gehirn Kontrolle über ein Bein oder einen Arm erlangt, dies auch in den Dienst der Aggression gestellt wird, das heißt, zu treten, zu schubsen, zu ziehen, zu vernichten.“[6]
Das klingt wenig schmeichelhaft, aber es macht Sinn. Denn überlagernd mit dem Alter, in dem Kinder allmählich, wenn alles gut läuft, ihre Aggressionen verlernen, lernen sie etwas anderes, Kooperation, genauer, eine bestimmte Art der Kooperation, Fairness. Kinder sind extrem früh, eigentlich zu früh, um es gelernt zu haben, in der Lage anderen zu helfen und das tun sie auch. Doch Kooperationsbereitschaft und die Sorge um den anderen reichen nicht aus, um Moral zu erklären, die Fairness ist ein weiterer notwendiger Baustein, und Fairness heißt ein Gesamtsystem zu beurteilen und beruht nicht auf einem Gefühl eigener Zufriedenheit, das sich einstellt, wenn man jemandem hilft, sondern auf einem Gefühl der Pflicht.[7]