3D-Mensch versucht Seite umzublättern

Die Leere des Vergessens ermöglicht uns immer neue Betrachtungen. © andy.brandon50 under cc

Wenn man keine Angst vorm Vergessen hat, besonders vor einer Demenz, dann gilt es zumindest als Fehlleistung: Wo ist denn bloß der Schlüssel? Zu dumm.

Das Vergessen hat also einen schlechten Ruf in unserer Gesellschaft. Gerade im Zusammenhang mit dem Vergessen können wir aber auch etwas tiefer verstehen, was wir eben erst angekratzt haben: Die Bedeutung der Einbettung eines Begriffs in eine Geschichte, Erzählung oder wie man heute gerne sagt, in ein Narrativ.

Das Vergessen – Erzählung und Wahrheit

Erzählungen sind nett, so ist in vielen Fällen unsere gesellschaftliche Einstellung, doch am Ende des Tages muss man bei der Wahrheit bleiben, zählen die Fakten. So haben wir es wieder und wieder gehört. Erzählungen seien etwas für Kinder, für lange Winterabende, vielleicht für Künstler und Verliebte, doch auf der anderen Seite steht immer die harte Realität und die kann man nicht ausblenden. Etwas verkürzt könnte man sagen, es ginge allein um die Wahrheit und die Erzählung die dieser am nächsten kommt, gewinnt.

Auf der anderen Seite erleben wir seit Jahren das genaue Gegenteil. Eine Kontroverse löst die andere ab und wir reiben uns verwundert die Augen über Fake News und Menschen, die sich nicht einmal Mühe zu geben scheinen, um bei der Wahrheit zu bleiben. Was auf den ersten Blick noch verwunderlicher ist, ist, dass sie damit Erfolg haben. Denken wir an Diskussionen über Trump, Corona und aktuell Putin.

Gleich wo man sich inhaltlich positioniert, wird man immer das Gefühl haben, dass die eigene Erzählung die richtige ist und die anderen sich einen Bären aufbinden lassen. Damit sind wir mitten im Thema Vergessen, denn wie wir das Vergessen betrachten hat einen gewaltigen Effekt. Wie so oft glauben wir, dass wir im Großen und Ganzen bereits wissen, wie es sich mit dem Vergessen verhält, nämlich so, wie wir es sozial erlernt und übernommen haben. Es ist peinlich, man ist im besten Fall schusselig, wenn man dauernd etwas vergisst und im schlimmeren Fall krank. Vergessen, das ist defizitär, negativ besetzt oder einfach: schlecht.

Das stimmt bereits aus einer neurowissenschaftlichen Sicht nicht und auch hier müssen wir sehen, dass diese Sicht nur eine von vielen ist. Erneut ist unsere Erzählung jedoch die, dass es nur eine beste Geschichte, Lesart oder Perspektive gibt und diejenigen, die das nicht so sehen, noch nicht so weit sind, etwas dümmlich, naiv oder dass sie, in gerissener Absicht das Falsche erzählen.

Vergessen ist nicht unbedingt eine Fehlleistung

Hannah Monyer ist Gedächtnisforscherin und Neurowissenschaftlerin und sieht sich darüber hinaus noch als Brückenbauerin über verschiedenen Disziplinen hinweg, wie Kunst und Philosophie.

Die Studienlage über das Vergessen aus der Neurowissenschaft ist dünn, man weiß hier wesentlich mehr über das Erinnern, Forschungen über Ersteres wurden in der kognitiven Psychologie durchgeführt. Durch die wachsende Popularität der Neurowissenschaften in den letzten 25 Jahren, hat sich auch hier oft ein Narrativ eingeschlichen, zu glauben, die Sicht der Neurowissenschaften sei besonders exakt und wissenschaftlich gesichert, da man ja auf bildgebende Verfahren zurückgreift. Auch diese Erzählung beinhaltet eine Schieflage, warum haben wir in Licht und Schatten der Hirnforschung ausgeführt, Stephan Schleim fragt ganz akutell: Sind Hirnscans nur Kaffeesatzleserei? Soll heißen: Wahrheit und Exaktheit hier, versus Geschichten und etwas Nachdenkerei dort, ist eine weitere gesellschaftliche Gewohnheit, mehr aber auch nicht. Sie steht auf tönernen Füßen.

Darum ist die Wahrheit über das Vergessen immer eng mit der aktuellen Lesart darüber verbunden. Erinnern, die Merkfähigkeit zu steigern ist gut und wichtig, Vergessen ein Problem, ein Defizit, peinlich. Mit einem Überblick über eine breitere Forschungstradition stellt sich das jedoch etwas anders dar.

Wir erinnern uns besonders an das, was uns wichtig ist und wichtig heißt, mit einem emotionalen Gehalt verknüpft, je größer die Emotion, um so intensiver erinnern wir uns. So brennen sind unsere schönsten, aber auch unsere schrecklichsten Momente in unsere Psyche ein und wir vergessen sie in der Regel nie mehr. Was haben Sie vor drei Tagen gegessen? Wer stand beim vorletzten Einkauf vor ihnen an der Supermarktkasse? Wenn dieses Ereignis nicht besonders herausragte, weil vor ihnen eine alte Freundin oder ein Promi stand oder das Essen ein Festessen oder eines mit einem besonderen Menschen war, werden Sie Mühe haben, es zu erinnern. 10.000 weitere Eindrücke der letzten Tage haben Sie ebenfalls vergessen. Warum? Weil sie vollkommen unbedeutend für Sie und Ihr Leben sind. Aber der erste Kuss, der erste öffentliche Auftritt, eine Erkenntnis oder Begegnung, die Ihr Leben veränderte, können Sie noch nach vielen Jahrzehnten erinnern.

Warum? Gleicher Grund, andere Gewichtung, weil es für Ihr Leben, die Geschichte Ihres Lebens wichtig und bei einigen Ereignissen sogar zentral für Ihre Lebensgeschichte ist. Wie wir wissen, ist auch diese eine Erzählung, die immer wieder modifiziert und umgeschrieben wird. Auch das ist kein Defizit oder keine Fehlleistung, sondern die Geschichten in unserem Leben wachsen immer mehr an. Was früher bedeutend war, wir heute relativiert, dafür tauchen eventuell ganz neue, andere Strängen, Themen und Erzählungen am Horizont auf.

Computer und Gehirn

Wenn wir Computer bewundern, dann häufig für ihre immense Speicherkapazität und brutale Rechenkraft. In der Computertechnik selbst steuert man jedoch um. Man hat festgestellt, dass Computer in einigen einzelnen Spitzenleistungen dem Menschen weit überlegen sind, vom Rechnen über Schach bis Go und das war es, von dem man zuvor dachte, es würde den Menschen ausmachen, seine kognitiven Höchstleistungen.

Doch bei simplen Alltagsleistungen, bei Bewegungen, bei Emotionen sind Computer, Roboter und KI noch weit vom Menschen entfernt, je mehr wir die Gesamtheit all dessen betrachten, umso weiter. Man versucht diese Lücke durch neuronale Netzwerke zu schließen, was nichts anderes bedeutet, als dass Computer inzwischen die Arbeitsweise des menschlichen Hirns übernehmen und zu kopieren versuchen.

Eine wesentliche Fähigkeit des Menschen ist vergessen zu können. Wenn Sie mit dem Fahrrad an parkenden Autos vorbei fahren, dann achten Sie nicht bewusst auf deren Farbe, sondern eher, ob eines gerade aus der Parklücke zieht. Als Radfahrer ist das lebenswichtig, Marke und Farbe sind völlig egal. Aber natürlich bemerken Sie die Farbe auch. Fünf Sekunden und 20 parkende Autos später haben Sie das alles schon wieder vergessen und es ist nicht schlimm, da Sie nichts davon haben.

Es ist für Ihr Leben völlig unerheblich, ob das Auto 157 an der Straßenseite, am Morgen, blau oder grau war. Stellt sich die Frage, wer denn entscheidet, was im Leben wichtig ist. Klar, zu überleben ist schon gut, Essen, Trinken und eine warme Wohnung lernen wir aktuell auch wieder zu schätzen. Dann natürlich noch Beziehungen in Form von Partnerschaft, Familie, Freundschaft und sozialer Anerkennung. Manches ist uns evolutionär eingebrannt, anderes gesellschaftlich tradiert, doch beides wirkt aufeinander ein. Die Bedeutung von Arbeit, Kooperation, der Frage wie intro- oder extravertiert man ist hat immer eine soziale und biologische Komponente, beide ergänzen einander ein und dann kommt in manchen Fällen noch die höchstpersönliche Sicht auf meine individuelle Lebensgeschichte und ihre Ausdeutung dazu. In manchen Fällen mehr in Richtung einer Übernahme der Erwartungen anderer, zumeist unbewusst, in anderen Fällen eine eine Reflexion über diese Mitgaben, die jeder bekommen hat.

Aus all dem kristallisieren sich Erwartungen, Ziele und Bedeutungen heraus, die mit einem erhöhten emotionalen Gehalt verbunden sind. Diese Bereiche bekommen immer mehr Aufmerksamkeit und verstärken sich dadurch selbst, bis ein gravierender Bruch eintritt. Als Kind sind Spielen und Süßigkeiten vielleicht zentrale Lebensinhalte und Kinder können überhaupt nicht verstehen, warum Erwachsene, wenn sie die Zeit haben, nicht einfach auch spielen oder Süßigkeiten essen – sie dürften ja, wenn sie wollten.

Als Erwachsene belohnen wir uns manchmal auch noch mit Spielen und Schokolade, aber es sind in aller Regel weitere Komponenten hinzu gekommen, einige wurden oben bereits erwähnt. Einer der weiteren Unterschiede zwischen Gehirn und Computer ist, dass der Computer nicht vergessen kann. Anders als man denken könnte, sagt Hannah Monyer, dass der Mensch durchaus über genügend Speicherkapazität im Hirn verfügt, aber der Bonus ist eben, dass all das radikal aussortiert wird was für uns unwichtig ist.

Zugleich dringt man in das, was man als bedeutend erachtet immer tiefer ein, dafür wird noch mehr von dem was nicht wichtig ist aussortiert. Die oben erwähnten Brüche sind zunehmendes Lebensalter, bedeutsame Begegnungen, sowie plötzliche Wendungen des Schicksals, persönlicher oder kollektiver Natur. All das kann die Verarbeitung auf ein neues Organisations- oder Komplexitätsniveau hieven.