Gibt es das schwarze Schaf der Familie überhaupt? Falls ja, welche Charakteristiken weisen diese Familienmitglieder in der Konstellation auf? Und ließen sich aus den Nachteilen, welche den Betroffenen durch eine problematische Familiendynamik entstehen, auch Vorteile ableiten? Mehr dazu in dieser Artikelserie.
Wie das schwarze Schaf der Familie zustande kommt
In einer Familie gibt es nicht selten eine besondere Familiendynamik, die individuell ist, oftmals unterschwellig abläuft, aber lebenslang prägt. Diese Dynamik kann unter anderem dadurch mitbestimmt werden:
- Anzahl der Geschwister
- Geschlecht
- Geschlechterrollenverständnis
- Abstand zwischen den Geburten
- Gesundheitszustand der Familienmitglieder
- Charaktereigenschaften und Temperament der Familienmitglieder
- Lebenssituation wie Scheidungen, Patchwork-Konstellationen
- weitere Faktoren (Schule, System, Arbeitsstelle etc.)
Oftmals merken wir gar nicht bewusst, welche Rolle wir in einem Familiensystem einnehmen. Wir bemerken vielleicht nur, dass wir uns irgendwie unwohl in unserer Familie fühlen. Vielleicht wundern wir uns selbst, warum wir so anders als die anderen Familienmitglieder sind. Da ist diese Stimme in deinem Kopf, die dir hin und wieder zuflüstert, dass du der Versager der Familie bist. Oder du hast dich in deinem Schmerz aufgebäumt und schützt dich mit Abwehr gegen deine Familie. »Na und, dann bin ich eben so!«, denkst du dir vielleicht. Doch in dir drinnen spürst du das verletzte Kind, das eigentlich nur geliebt werden möchte.
Es ist wichtig, den Gefühlen auf den Grund zu gehen, um anhand von der Familiendynamik zu verstehen, warum man so ist, wie man ist. Das kann beispielsweise im Rahmen einer Systemischen Therapie geschehen.
Das Rollenverständnis wird zur Identität
Gerade bei Geschwisterkindern kommt es seitens der Eltern oder Großeltern oft zu Vergleichen untereinander. Wer macht Dinge besser als der andere? Warum ist der eine nicht so wie der andere? Aus der Praxis weiß man, dass Eltern ihr Erziehungsverhalten dem Charakter und Temperament der Kinder anpassen. Bis zu einem gewissen Punkt müssen sie es auch, denn eine unterschiedliche Situation erfordert ein anderes Verhalten. Eine unterschiedliche Behandlung der Kinder ist dadurch also per se möglich. Diese nehmen die Kinder selbstredend wahr. Allerdings ist es von dem Punkt an nur noch ein schmaler Grad hin zu einer Urteilsbildung, einer Bewertung, einer Verallgemeinerung sowie zu einer bestimmten Rolle, die man in einer Familie (indirekt und unbewusst) zugewiesen bekommt. Ein Wechselspiel aus Veranlagung und Umwelt. Die Dynamik nimmt ihren Lauf, die oben genannten Punkte spielen natürlich auch noch mit rein.
Hinter jeder dysfunktionalen Familienkonstellation steht, dass die einzelnen Personen mit ihren Besonderheiten und auch Schwächen nicht so gesehen und bedingungslos angenommen und geliebt werden, wie sie sind. Die Ursachen dafür liegen niemals beim Kind.
»Warum kannst du nicht so sein wie deine Schwester?«
Vielleicht war dein*e Bruder/Schwester verantwortungsvoll und du galtest als chaotisch und unordentlich. Deine Schulleistungen waren womöglich schlechter und überhaupt musste man sich immer mehr Sorgen um dich machen. So wurde es dir zumindest stets kommuniziert.
Bsp.: »Deine Schwester ist älter als du, hat aber bessere Noten auf dem Zeugnis. Das heißt, obwohl dein Schulstoff noch leichter ist, bist du schlechter. Deshalb bekommt deine Schwester mehr Geld für ihre Zeugnisnoten als du für dein Zeugnis. Das soll dir als Ansporn dafür dienen, dich mehr anzustrengen.«
Du bist unsichtbar.
Vielleicht bist du ein bisschen in den Hintergrund geraten, weil du pflegeleichter warst. Dein*e Bruder/Schwester forderte mehr Aufmerksamkeit und bekam sie von den Eltern deshalb auch – schlichtweg aus dem Grund, weil deine Eltern dadurch weniger Stress hatten, da du dich unkomplizierter in das Familiensystem eingefügt hast. Du warst das unsichtbare Kind und man wundert sich jetzt im Erwachsenenalter über dich, wieso du deine Rolle im Leben nicht findest und so wenig Selbstbewusstsein hast.
Bsp.: »Wenn mein Bruder zu Weihnachten kommt, wird immer ein riesiges Tohuwabohu veranstaltet. Er und seine Frau und seine Kinder werden regelrecht hofiert. Lieblingsessen werden aufgefahren und ihnen wird zugehört. Ich dagegen wohne in derselben Stadt wie meine Eltern. Von mir wird erwartet, dass ich immer zur Stelle bin, wenn sie mich brauchen. Sie interessieren sich weniger für mein Kind. Mein Sohn, ihr Enkelkind, ist weniger besonders für sie als die von meinem Bruder geschenkten Enkelkinder. Auch bin ich in ihren Augen gescheitert, weil ich geschieden bin.«
»Du machst uns NUR Probleme.«
Auch Einzelkinder können zum schwarzen Schaf der Familie werden, weil die Eltern ihre eigene Problematik auf der Partnerschaftsebene auf das Kind projizieren und sich gegen das Kind »verbünden«, um für sich selbst wenigstens auf dieser Ebene eine Einheit herzustellen.
Bsp.: »Wir verstehen das nicht. Wir haben doch alles getan, damit aus dir was wird. Warum machst du uns nur solche Probleme? Warte nur ab, bis dein Vater von der Arbeit heimkehrt, dann erlebst du dein blaues Wunder.«
Du bist eine Kümmer-Natur.
Oder du warst das jüngste Kind und eigentlich waren deine Eltern sowieso schon überlastet. Oder sie hatten aufgrund einer Suchterkrankung, Depression etc. mehr mit sich selbst zu tun. Nicht wenige Kinder übernehmen dann die Verantwortung für die Eltern und werden zu regelrechten Kümmer-Naturen, die sich von da an auf das Leben der anderen stark konzentrieren und Verantwortung für andere übernehmen – auch in ihren späteren Paarbeziehungen. Sie helfen anderen Menschen, indem sie Verantwortung für deren Leben übernehmen, weil diese Menschen es in ihrem Leben selbst nicht tun. Die Verantwortung für ihr eigenes Leben vernachlässigen Kümmer-Naturen demgegenüber, weil dafür weder Zeit noch Energie übrig bleibt. Kümmer-Naturen sind prädestiniert dafür, das schwarze Schaf der Familie zu sein. Schließlich bekommen sie doch nichts in ihrem eigenen Leben auf die Reihe, oder? Zumindest wird das oft in ihrem Umfeld behauptet.
Du bist ein Rebell.
Bsp.: »Wir haben alles versucht, aber du kriegst es einfach nicht hin. Schon als Kind warst du unser Problemkind. Hast dich immer geprügelt. Immer laut und am Brüllen. Liegt es daran, dass du der Junge bist? Deine Schwestern sind so gut geraten, aber du …«
Du musstest laut sein, um dir Gehör zu verschaffen. Nun bist du der Rebell der Familie, das Sorgenkind. Vielleicht bist du als Erwachsener Künstler geworden. Möglicherweise hast du Probleme, in einem Alltagsjob zu bestehen, weil du mit Autorität schlechter umgehen kannst. Ein typisches schwarzes Schaf also, jedenfalls im landläufigen Sinne.
Ungleichbehandlung beim schwarzen Schaf der Familie
Bsp.: »Als wir bei Tisch zusammensaßen und mein Vater einen Witz machte, weil das Essen meiner Mutter misslungen war, mussten alle am Tisch lachen. Mein Vater, meine Geschwister und ich. Meine Mutter musste auch lachen, doch dann gab sie mir plötzlich vor der versammelten Mannschaft eine Ohrfeige, weil ich mitgelacht hatte.«
Das ist ein typisches Beispiel, wie sich die Konstellation für ein schwarzes Schaf der Familie kennzeichnet. Die Mutter reagiert ihren Frust an dem jüngsten Kind ab, dasjenige, welches den geringsten Widerstand bietet. Und es war nicht etwa so, dass dieses Kind am nächsten zur Mutter saß. Nein, die Mutter musste über den Tisch langen, um an die Wange des Kindes heranzureichen.
Diesbezüglich gibt es in der therapeutischen Praxis auch noch dramatischere Fälle. Emotionaler Missbrauch, körperliche und sexuelle Misshandlungen können besonders ein Kind der Familie betreffen. Vielleicht weil es das jüngste oder älteste Kind ist. Eventuell, weil es als Kuckuckskind vom Vater betrachtet wird oder ähnliches.
Rollen der Kinder können wechseln
Je nach Situation können die Rollen der Kinder auch wechseln. Wenn Geschwister oft verglichen werden, so wird ein häufiger benachteiligtes Kind es umso mehr auskosten, wenn es mal positiv abschneidet. Auch können beide Geschwister sich im Rückblick benachteiligt fühlen, wenn man sie nach ihrer Erinnerung fragt, weil beide in einer steten Konkurrenz zueinander standen. Jeder wird für sich andere Situationen erinnern, bei denen er den Nachteil hatte. Es ist durchaus möglich, dass jedes Geschwisterkind sich selbst für das schwarze Schaf der Familie hält, weil beide sich überwiegend an beschämende und bestrafende Situationen in der Kindheit erinnern.
Es kommt immer auf die jeweilige Sichtweise an.
Lebenslange Prägung
Vieles, was du als Erwachsener erinnerst, sind genau die Sichtweisen, die dich in deiner Kindheit geprägt haben. Ob es darüber hinaus auch positive Erinnerungen gab oder dein*e Bruder/Schwester die Kindheit komplett anders wahrgenommen hat, spielt zunächst eine eher untergeordnete Rolle.
Wenn man beispielsweise als Erwachsener mit den Familienmitgliedern spricht und sie nicht abblocken oder deine Wahrnehmung in Frage stellen, sondern sich offen zeigen, kann es gegebenenfalls zu einer Änderung der Familiendynamik kommen. Es könnte sogar sein, dass die Eltern sich einsichtig zeigen, sich entschuldigen und ihr Verhalten zukünftig ändern. Eventuell ließe sich auch ruhig, ihre Sicht der Dinge besprechen, und es wird deutlich, dass sie es ein wenig anders sehen oder die ungleiche Behandlung nicht so wahrgenommen haben. Solange jeder in seiner Wahrnehmung akzeptiert wird und der Austausch respektvoll erfolgt, können solche korrigierenden Erfahrungen sehr heilsam sein.
Zunächst jedoch geht es um deine Sichtweise, sie ist das, was haften bleibt in deiner Erinnerung. Sie hat dich lebenslang geprägt. Schließlich sind es die negativen Prägungen aus der Kindheit, die dir auf deinem Lebensweg die Probleme bereiten. Sie bestimmen, welche Schlüsse du aus diesen gezogen hast. Anhand dieser Prägungen und deiner damaligen Schlussfolgerungen daraus, hast du ein bestimmtes Wissen dahingehend aufgebaut, wie du bist, deinen Alltag bewältigst, Beziehungen führst etc. Durch diese Brille nimmst du dich selbst und die Welt wahr.
Warum ich so anders bin
Das schwarze Schaf in der Familie ist häufig die Projektionsfläche für die ungesunde Beziehungsdynamik in der Familie. Es ist oft der Symptomträger, der anzeigt, was falsch läuft. Tauchen Eltern mit einem »verhaltensauffälligen« Kind in der Praxis auf – einem Kind, das Probleme macht –, muss immer auch der familiäre Hintergrund beleuchtet werden. Ein professioneller Therapeut wird das tun, ohne die Familienmitglieder zu verurteilen. Er wird da ansetzen, wo die größten Ressourcen für Veränderung sind.
Es gibt unzählige Konstellationen, warum man sich auf die eine oder andere Art in der Familie benachteiligt fühlt. Deshalb sind Verallgemeinerungen auch schwer möglich. Als Erwachsener fragt man sich dann, warum man so anders ist als die anderen, sein Leben nicht auf die Reihe bekommt, Angst hat, nicht genügen zu können, dysfunktionale Beziehungen führt, nicht im Arbeitsleben richtig Fuß fassen kann usw.
Im nächsten Teil der Artikelreihe wechseln wir vom Kindheitsrückblick ins Erwachsenenalter. Wir grenzen die Punkte ein, die das schwarze Schaf der Familie im Erwachsenenalter ausmachen. Woran kannst du an dem Verhalten deiner Familie erkennen, dass du das schwarze Schaf in der Familienherde bist? Hier liest du es: Was das schwarze Schaf in der Familie kennzeichnet – Dysfunktionale Familienstruktur (2).