Das Genie entzieht sich durch besondere Leistungen der Nachvollziehbarkeit und Nachahmbarkeit durch andere. Genies sind immer Einzelfälle, die aus ihrer Zeit und ihrem Betätigungsfeld wie Leuchttürme herausragen. Dennoch kennen wir keine genauen Kriterien, anhand derer man ein Genie erkennt, vielleicht auch einfach mangels Masse. Die Frage ist auch, ob wir immer, wenn wir etwas als genial bezeichnen, meinen, dass ein Genie dahinter steckt. Wie ist es mit dem „genialen Pass“ beim Fußball? Muss der Passgeber tatsächlich ein Genie sein? Andererseits markiert das schon eine Problematik, denn der Geniebegriff ist eher für die geistigen oder künstlerischen Leistungen reserviert, als für körperliche Aspekte. Vielleicht ein Vorurteil, weil kognitive Intelligenz durchaus auch mit Körperintelligenz vergesellschaftet ist, aber es geht ja nicht um Lerntraining, sondern um Genieleistungen.

Intelligenz und Talent

Intelligenz ist sicher ein Faktor, den das Genie ausmacht, aber genau wie Talent eben nicht alles. Notwendig, aber nicht hinreichend, würde man sagen. Man muss von dem Potential auch Gebrauch machen und viele Aspekte der Hochbegabung reduzieren sich auf schnödes Lernen, auf Fleiß. Dazu kommt, dass das, was Intelligenz nun eigentlich ist oder auszeichnet, auch nicht in Stein gemeißelt ist, sondern ziemlich willkürlich ausgewählt und vielen zu sehr auf kognitive, also denkerische, Aspekte reduziert erscheint. Begriffe wie soziale, musikalische, kommunikative oder emotionale Intelligenz machen die Runde, die Diskussion ist noch nicht abgeschlossen. Das passt ganz gut zum Geniebegriff, auch der ist verschieden breit gefasst.

Der Kopfmensch

Ein häufiges Bild des Genies, das sich uns aufdrängt, ist das eines Kopfmenschen, eines Menschen, der irgendwie selbstgenügsam, aber manchmal auch etwas vertrottelt, in höheren, geistigen Sphären schwebt und für ein Alltagsleben nicht immer zu gebrauchen ist. Das führt bereits zu einer leichten Differenz zwischen Kopf und Körper, zwischen Alltäglichem und Besonderem. Nachvollziehbar, aber auch gefährlich und möglicherweise nicht für alle Aspekte, die das Genie mit sich bringt, zutreffend.

Dennoch wird das Genie oft und gerne mit dem wirren Professor assoziiert. Ein Freakfaktor, der oft dabei ist und der beinhaltet, dass ein genialer Mensch irgendwie der Welt des Alltäglichen entrückt ist. Um so mehr, wenn man an Forscher wie den Physiker Stephen Hawking denkt, der durch eine Krankheit, die ihn an denn Rollstuhl fesselt, dieses Bild des Menschen bedient, der nur mehr Kopf und Denken ist. Aber eine der ersten Assoziationen bei Genie ist ein anderer Physiker: Albert Einstein, dessen Bilder der wirren Haare und herausgestreckten Zunge im kollektiven Gedächtnis verwurzelt sind.

Dabei sind manche Genies ganz bieder und stehen mitten im Leben. Johann Sebastian Bach, dessen musikalische Genialität durch die Jahrhunderte hervorgehoben wird, war über weite Zeiten Angestellter und hatte Zeit für Ehen, aus denen reichlich Kinder hervorgingen. Auch Johann Wolfgang von Goethe war nicht linkisch oder lebensuntauglich.

Leichtigkeit

Auch wenn eine etwas sonderbare Art auch nicht zwingend dazugehören muss, so kommt sie durchaus vor. Und der Fleiß kompensiert mit Sicherheit nicht alles, denn auch der Minderbegabte kann fleißig sein, ein Genie wird er dadurch nicht.

Vielleicht wird das auf keiner Ebene anschaulicher als im Sport, denn dort können viele die Unterschiede erkennen. Heute sind alle Spitzensportler der bekannten Sportarten auch gute Athleten, aber die Eleganz eines Ausnahmefußallers wie Lionel Messi bringt uns auf einen weiteren Punkt, die Leichtigkeit, die das Genie mitbringt. Das natürlich nicht nur beim Fußball, in früheren Jahren galt der Tennisprofi John McEnroe nicht unbedingt als trainingsfleißig, aber mit seinem eigenwilligen Stil beherrschte er lange Jahre die Tenniswelt.

In der Welt des Snookersports dominierte bis in die jüngste Vergangenheit mit Ronnie O’Sullivan ein Ausnahmekönner die Szene, der durch Skandale ebenso auf sich aufmerksam machte, wie durch brillantes Spiel, in einer ihm eigenen Geschwindigkeit und Sicherheit. Ein O’Sullivan in Bestform war nahezu unbesiegbar, aber oft stand er sich durch allerlei Eskapaden selbst im Weg. Aber, wenn es läuft, ist bei ihm eine Leichtigkeit zu sehen, die verzaubert.

Von den Sportlern sind es am ehesten die Schachspieler, die wir mit dem Begriff des Genies in Verbindung bringen und hier ist es wiederum Bobby Fischer, der für viele als der herausragende Spieler galt, der aber gleichermaßen durch seine problematischen Ansichten und sein exzentrisches Verhalten das Bild der Vermischung von Genie und Wahn bedient, der wir uns weiter unten widmen.

Doch auch auf geistigem Gebiet erkennen wir, dass das Genie oft schon in jungen Jahren eine Leichtigkeit bei der Lösung von Problemen mitbringt, an denen andere sich die Zähne ausbeißen. Über den genialen John von Neumann kursieren Anekdoten, nach denen er ein schwieriges mathematisches Problem in kürzester Zeit im Kopf löste, wobei er von zwei Varianten die schwierigere wählte, aber sie dennoch spielend lösen konnte.

Auch Einstein und Bach werden als Menschen beschrieben, die sich mit ungeheurer Leichtigkeit Neues aneignen konnten.[1]

Der ungewohnte Weg

Die erstaunliche Leichtigkeit, die manche Genies an den Tag legen, ist zum Teil auch darin begründet, dass sie ganze andere Wege und Herangehensweisen wählen, als üblich ist. Von dem genialen Mathematiker Carl Friedrich Gauß ist bekannt, dass er schon im Alter von 9 Jahren einen, seinen damaligen Lehrer verblüffenden Lösungsweg fand, der es ihm erlaubte, eine Aufgabe, für die die Schüler lange brauchen sollten, in kürzester Zeit zu erledigen.

Ungewohnte Wege, Ansätze und Perspektiven zu wählen, macht mit Sicherheit Genies aus, damit verbunden war, dass sie zudem an sich und ihre Fähigkeiten glauben mussten. Ob sie störrisch oder arrogant sind oder einfach nur einer besonderen Intuition folgen, können wir nicht beurteilen, aber der Durchbruch in neue Regionen gehört geradezu zum Wesen des Genies. Er muss nicht immer Neues schaffen, aber sehr oft gehört es dazu, wenigstens neue Interpretationen darzustellen.

Subjektiv muss Genies oft klar sein, dass ihr Ansatz stimmt. Was sie dazu bringt, die gewohnten Wege zu verlassen oder diese gar nicht erst einzuschlagen, wissen wir nicht, vielleicht ist es eine besondere Befähigung zum analogen Denken, das andere als gewohnte Wege intutitiv stimmig erscheinen lässt. So war Einstein ein Mensch, der wesentlich seiner Intuition vertraute und mathematisch nicht übermäßig begabt war. Er konnte jedoch verborgene Analogien finden und das Wichtige vom Unwichtigen unterscheiden und auch er ging unbeirrt seinen Weg, von dessen innerer Stimmigkeit überzeugt.

Doch es ist nicht der Vorsatz besonders extravagant vorzugehen, sondern im Gegenteil, die Fokussierung auf ein bestimmtes Problem, das mit dem Denken immer wieder umkreist oder, wenn man es anders sagen will, vor dem geistigen Auge immer wieder gedreht und gewendet wird. Im Laufe dieses Prozesses erkennt das Genie Analogien zu anderen Bereichen. Muster also, die sich aufeinander beziehen und im Gegensatz zum Klischee der drögen Wissenschaft sind nahezu alle großen Ideen der Physik aus Analogien geboren.[2]

Vielseitigkeit und Neugier

Auffallend viele Genies sind, was ihre Interessen angeht, relativ breit aufgestellt. Erfolgreiche Analogieschlüsse gelingen auch nur dann, wenn man in dem Bereich, den man kennen lernen will, auf etwas schließt, das man von früher kennt. Das macht auch einen großen Teil des Faszination des Denkens aus, Zusammenhänge zu erkennen. Vermutlich kennzeichnet es das Genie, sie dort zu erkennen, wo andere sie nicht sehen, um schon mal einen Blick in den Bereich „Genie und Wahn“ zu werfen. Denn manchmal sieht das Genie Zusammenhänge auch dort, wo keine sind oder alternativ, wo es niemand anderer mehr nachvollziehen kann.

Die Leichtigkeit in der Aneignung von Neuem bringt es vermutlich mit sich, dass das Genie sich mit Vielem beschäftigt. Leonardo da Vinci, Leibniz und Goethe seien hier als Vertreter genannt, neben anderen gelten sie als Universalgelehrte oder -genies. Es kostet sie vermutlich keine große Mühe, sich Dinge anzueignen, die anderen schwer fallen, darüber hinaus ist anzunehmen, dass sie von einer großer Neugierde beseelt sind. Man kann sich kaum vorstellen, dass Genies achselzuckend und desinteressiert durch den Tag gehen, denn sich Fragen zu stellen, die sich vielleicht sonst niemand stellt und einfach ein brennendes Interesse zu haben, gehört mit Sicherheit in vielen Fällen zu dem, was das Genie charakterisiert. Und diese Eigenschaft führt uns vielleicht über eine Kluft, die uns zurück zum Alltäglichen bringt.

Ist das Genie stets männlich?

Melanie  Klein

Melanie Klein, Psychoanalytikerin und eine geniale Forscherin. © Mate Olga under cc

Im Wikipedia-Artikel über Genie ist nach einer Liste von Genies zu lesen: „Die Auswahl zeigt die Abhängigkeit des Geniebegriffs vom kulturellen Kontext: Deutschsprachige Personen sind hier überrepräsentiert.“[3] Überrepräsentierte Regionen in Ehren, aber was nicht thematisiert wird ist, dass die Aufzählung durchweg aus Männern besteht. Ist das Genie also stets männlich?

Auf die Frage gibt es zahlreiche Antworten. Biologische, geschichtliche, sozialpsychologische. Sie werden vermutlich alle ein Stück weit stimmen und aktuell geht der Trend in die Richtung, dass Frauen intelligenter sind als Männer, inzwischen auch Männer bei der Hochbegabung überholt haben, nur können wir uns noch immer keine weiblichen Genies vorstellen. Da geniale Frauen in der Vergangenheit noch viel unvorstellbarer waren, wurden viele ihrer künstlerischen Werke als die Arbeit von Männern angepriesen.

Wie und wodurch auch immer, eine Asymmetrie scheint nach wie vor zu bestehen und man erklärt es sich damit, dass die Streuung bei Männern einfach größer ist, was sowohl biologische als auch soziokulturelle Gründe hat, denn statistisch scheint es so zu sein, dass es mehr männliche Genies und Idioten gibt. Eine echte Erklärung ist das freilich nicht, nur eine Beschreibung.

Wann ist man ein Genie?

Es gibt im Grunde keine echten Kriterien, lediglich die Anerkennung anderer. Ähnlich wie beim Weisen oder Erleuchteten fehlen Marker, die uns sagen, wann und warum jemand so zu bezeichnen ist. Annäherungen über den Daumen gibt es sehr wohl und bei deren Nachvollzug haben wir es mit brancheninternen Schwierigkeiten zu tun. Beim Mathegenie liegt das Problem darin, dass schon universitäre Mathematik für die meisten Menschen ein Buch mit sieben Siegeln ist, man kann also selbst – anders als beim Spiel von Lionel Messi – kaum beurteilen, wie eine mathematische Leistung einzuschätzen ist. Aber immerhin liegen ja konkrete Probleme vor, wie mathematische Beweise, die noch niemand gefunden hat und wer sie findet, der kann so schlecht nicht sein.

Schwieriger ist es in der Kunst. Was ist nun eine einzigartige Darbietung, woran erkennt man ein Genie? In der Musik vielleicht noch an der Virtuosität, aber das ist nicht alles. Und wer kann schon genau unterscheiden, ob das, was sich gut anhört, überhaupt richtig gespielt wurde? Oder ist „richtig“ gar kein Kriterium mehr für das Genie? So wie alle, können ja schließlich auch alle.

Für den Kunstkenner Peter Raue ist Barnett Newmans „Who’s afraid of Red, Yellow and Blue“ das bedeutendste Werk des 20. Jahrhunderts, doch Kritiker sagen, es könne auch die Arbeit eines Malergesellen sein. Ist das immer ein Kriterium, zu sagen: „Kann ich auch“? Ist es allein die Kunstfertigkeit die zählt, etwas filigran, naturgetreu oder aufwendig zu gestalten? Es ist schwierig, es auf diesem Terrain zu sagen, aber es wäre so unfair wie falsch, zu behaupten, Kunst sei beliebig.

Vielleicht hat die Technik noch mehr als der Sport die besten Karten im Bezug auf die Nachvollziehbarkeit genialer Erfindungen. Niemand versteht, wie ein Kernspintomograph oder ein Smartphone funktioniert, aber viele haben die Möglichkeit, es zu benutzen. Um nicht von Autos, Brücken, Häusern, Dampfmaschinen, Klimaanlagen und Espressomaschinen zu reden und Sonstigem, was unser Leben erleichtert, in einem Ausmaß, das wir uns nur noch selten bewusst machen, weil es so normal geworden ist, weil der Kampf ums Überleben bei uns längst nicht mehr auf der Agenda steht.

Die Philosophie als Liebe zur Weisheit sollte den engsten Bezug zum Genie haben. Da sich hier aber in der Tat viele sehr gute Denker tummeln, gibt es auch viel Kritik und der eine hält denjenigen für genial, den der andere als überschätzt empfindet. Philosophie ist zu einem hohen Maße die Folgerichtigkeit von Argumenten und damit ein Aspekt der Logik von Aussagen und wie Schach oder Mathematik eine Form des folgerichtigen Schließens.

Genie und Wahnsinn

Johann Sebastian Bach

Johann Sebastian Bach. Sein musikalisches Genie beeindruckt bis heute. Elias Gottlob Haussmann under gemeinfrei

Gerade auf mathematisch-logischem Gebiet gibt es einen Zusammenhang zwischen Höchstleistungen und Schizophrenie. Zum Teil werden genetische Einflüsse angenommen, aber alles in allem ist auch hier ein komplexer und kaum aufzulösender Zusammenhang biopsychosozialer Natur zu vermuten.

Das Genie versteht, was wir nicht verstehen. Das könnte man zunächst als Auszeichnung empfinden, hat aber den Nachteil, einsam zu machen. Wer etwas mehr weiß als der Durchschnitt, ist sozial an der Sonne, weil er als intelligent gilt und Intelligenz ist sexy und hilfreich. Man ist im Basislager der Evolution beim Aufstieg auf den Berg. Man trifft dort viele Menschen und kann sich gut fühlen, weil man einer der Privilegierten ist, denn Intelligenz genießt nahezu überall einen hohen Stellenwert. Das wirkliche Genie aber ist ein Extremsportler, fast immer bei der Erstbesteigung. Dahin kommen andere zu seiner Zeit in der Regel nicht. Eine wunderbare Aussicht, aber da der Mensch immer auch ein Beziehungswesen ist, möchte er seine Eindrücke und Erkenntnisse, wenigstens in einigen Fällen, gerne mitteilen. Doch wenn man seine Umwelt überfordert und einen niemand versteht, ist das Gefühl nicht einfach Stolz, und auf der Seite der Zuhörer Bewunderung, sondern oft verstörend. Man würde sich gerne mitteilen, doch selbst die Gutwilligen können nur mit den Schultern zucken. Schön ist das gewiss nicht. Wird man dann noch angefeindet, weil man nicht oder falsch verstanden wird, oder weil, was es durchaus nicht selten gibt, die geniale Erkenntnis in einem Bereich des Lebens einen nicht vor grandiosen Irrtümern in anderen schützt, wird die Sonderleistung zunehmend zur Bürde. Echte Universalgenies sind eine Rarität und vermutlich etwas entspannter als jene mit Genieleistungen in Teilbereichen.

Das Genie sieht Muster und analoge Beziehungen, wo wir keine sehen. Vermutlich hat das auf der biologischen Seite auch etwas mit Dopamin zu tun, was in Gedanken zur Sucht näher ausgeführt wurde. Aber ist man ein Genie, weil man wahnsinnig ist oder wird man wahnsinnig, weil einen niemand versteht? Schwer zu sagen. Das Genie entzieht sich zuerst der Massen, dann auch den Experten.

Man sollte allerdings keine falschen Umkehrschlüsse ziehen, denn längst nicht jeder, der nicht verstanden wird, ist genial. Er könnte sich auch einfach schlecht ausdrücken oder störrisch sein und seine Fehler nicht einsehen. Wer meint, er verstünde alles besser, sollte in aller Regel kein Problem damit haben, die Sichtweise der anderen Seite, kurz, knapp und präzise darzustellen und daran scheitern viele, wenn nicht so gut wie alle, die meinen, ihre Erkenntnisse seien einzigartig. Es ist wohl richtig und erfreulich, dass viele sich, vor allem in jungen Jahren, die wirklich großen Fragen des Lebens immer wieder neu vorlegen. Fragen nach dem Sinn, dem Tod, der Religion, der Ethik, der Liebe und der Existenz. Sich das zu fragen, ist wunderbar. Nur wurde über all diese Fragen schon intensiv und auch von Genies nachgedacht und wenn man wirklich am Ball bleibt, staunt man wie tief und gründlich diese Themen behandelt und durchdrungen wurden und in Wissenschaft, Philosophie, Kunst, Psychologie, Religion und Spiritualität.

Verkannt oder verrannt?

Dass wir heute reihenweise falsche Umkehrschlüsse vorfinden, liegt an etwas schrägen gesellschaftlichen Entwicklungen. Da ist zum einen der Hype um Hochbegabung, sozusagen der Vorstufe zum Genie. Jedes Gezappel und jede Lernstörung wird gerne als Indikator für Hochbegabung angesehen und dann wird solange getestet, bis irgendwer dem Kind eine Hochbegabung bescheinigt. Kann man das noch als alberne Marotte abtun, so ist in dem Fall der Umkehrschluss wirklich mal interessant. Warum muss denn jedes Kind heute auch noch hochbegabt sein? Warum schaffen wir es nicht ein Kind zu lieben, das einfach im besten Sinne normal ist?

Ich haben schon vor Jahren mit einer Frau gesprochen, die eine Hochbegabtenschule besucht hat und sie erzählte mir, dass es früher eine Rarität war, dass Eltern mit ihren Kindern kamen, nun würden sie Schlange stehen und weit über 90 % würden wieder nach Hause geschickt. Ebenfalls vor einigen Jahren sprach ich mit einem Professor für Mathematik, der Autor renommierter Bücher aus dem Fach war und berichtete, dass alle paar Wochen jemand zu ihnen an die Uni gekommen sei, der meinte, eine ganz neue, andere, bessere Mathematik gefunden zu haben und in nahezu allen Fällen hätten diese Menschen einige einfache Aspekte übersehen oder fehlgedeutet, ließen sich jedoch nicht wieder von ihrem Irrtum abbringen.

Aber es gibt auch die andere Seite, bei der von merkwürdigen Teilbegabungen die Rede ist. Der Neuropsychologe Oliver Sacks hat in seiner Geschichte der Primzahlzwillinge aus „Der Mann der seine Frau mit einem Hut verwechselte“, beobachtet, dass Zwillinge, die mit niemandem kommunzierten, sich selbst Zahlen zuriefen. Für alle Beobachter war das einfach nur wirr, für Sacks ein Grund der Sache nachzugehen und er fand heraus, dass die Zwillinge unglaublich große Primzahlen austauschten. Er lernte einige andere Primzahlen auswendig, rief sie den Zwillingen zu und durfte daraufhin „mitspielen“.

Primzahlen sind auch das Stichwort zu einer anderen Erfahrung. Der Chemiker, Apotheker und Zahlentheoretiker Peter Plichta hat mit seinen Büchern über das Primzahlkreuz einen sehr eigenwilligen Ansatz gewählt. Ich hatte vor Jahren die Möglichkeit mit jemandem zu sprechen, der aus mehreren Gründen mit am besten beurteilen kann, ob an Plichtas mathematischem Ansatz etwas dran ist und er beantwortete meine Frage erst ausweichend und dann klar und knapp mit: „Ja!“.

Ist das Genie glücklicher als andere?

Tannen und Berg im Nebel

Das Terrain, in denen das Genie sich bewegt, ist oft so unzugänglich wie faszinierend. Morgennebel im Gebirge von Caspar David Friedrich under gemeinfrei

Manche sind verkannt, krank, einsam, andere werden sich, wie manche Exzentriker, mit dem Leben arrangiert haben. Vielleicht hängt es auch von dem Bereich ab, indem die Genieleistung auftritt. Im logisch-mathematischen Bereich ein Genie zu sein, hat statistisch vielleicht eine etwas höhere Unglücksprognose, das Musikgenie kann durchaus glücklich sein, auch wenn man generell konstatieren muss, dass eine Vielzahl von Höchstleistungen aus allen Bereichen von Menschen kommt, die psychisch als angeschlagen oder krank galten.

Wenn Genies zu Weisen werden, erkennen sie glaube ich, dass das wahre Glück in eher kleinen Dingen und Momenten liegt. Solchen, die wir auf den ersten Blick vielleicht geringschätzen würden. Und noch eine analoge Bewegung gibt es. Man weiß nicht genau, was spirituelle Genies ausmacht, aber nicht selten steht ihr Genie mit erschütternden Ereignissen, oft in Todesnähe, im Zusammenhang und eine wesentliche Erkennntnis des spirituellen Genies ist, als Lebender im Leibe zu sterben. Danach ist alles anders, man schätzt das Kleine und die Kluft zwischen dem Genie und der Welt wird geringer. Denkend oder meditierend kommt man zur selben Einsicht, dass die Symmetrie, das gleiche Recht für alle, wesentlich ist. Kant hat das klar erkannt, ebenso der Mahayana-Buddhismus.

Es ist reizvoll, die Welt aus einer exklusiven Warte zu sehen, gewiss, aber mindestens die spirituellen Genies kehren alle zurück. Entweder wird, wie bei Meister Eckehart das scheinbar Banale gewürdigt.[4] In der östlichen Mystik versucht man polar dazu, das vermeintlich Besondere zu erden, nicht so wichtig zu nehmen. Das Genie weiß, dass es erhebend ist, über das nur Alltägliche hinaus zu gelangen in Sphären, wo kaum jemand wandelt. Doch auch der Alltag ist nicht langweilig, sondern voller Rätsel und Wunder, überall gibt es etwas zu entdecken, eine Brücke, über die manche Genies in unser aller Leben zurückkommen, aus Einsicht.

Der Mahayana-Buddhismus fragt, wie es sein kann, dass man in der Einheit allen Seins lebt, wenn es einen Rest von unerleuchteten Menschen gibt. Epikur fragt, wie man glücklich sein kann, wenn es den Freunden schlecht geht. Kant sagt, dass wir nicht wollen können, weil es nicht vernünftig und gerecht ist, dass Bedingungen, die für den einen gelten, nicht auch für alle anderen gelten. Wenn es dem Genie gelingt, dass das Band zwischen ihm und der alltäglichen Welt nicht reißt, kann es in der Welt glücklich sein und beglückend wirken, was für beide Seiten ein Gewinn ist.

Quellen:

  • [1] Douglas Hofstadter & Emanuel Sander, Die Analogie – Das Herz des Denkens, Klett-Cotta 2014, S. 662
  • [2] Douglas Hofstadter & Emanuel Sander, Die Analogie – Das Herz des Denkens, Klett-Cotta 2014, S. 599f
  • [3] https://de.wikipedia.org/wiki/Genie#Der_Geniebegriff_heute
  • [4] Vergleiche hierzu die deutsche Predigt: Intravit Jesusu in quoddam castellum, von Meister Eckehart