Gibt es Stufen, die wir gehen müssen? Natalie Medd under cc

Hierarchien begleiten uns in vielen Lebensbereichen. Sie sind aktuell nicht sonderlich beliebt, was zum Teil mit unserer Vergangenheit zusammen hängt. Das Image des Herrenmenschen bröckelt, von der Katastrophe der Nazizeit über unsere weniger aufgearbeitete Kolonialzeit, aber noch die unreflektierte Selbstverständlichkeit des Eurozentrismus, der den anderen gerne attestiert, zwar jetzt noch nicht so weit zu sein, aber bald vielleicht, ist etwas peinlich. Nicht nur, weil andere unsere Art zu leben, mitunter gar nicht teilen wollen, sondern auch, weil wir erkennen, dass sie keinesfalls so unproblematisch ist, wie wir selbst lange Zeit glauben wollten. Unsere eigenen Kinder gehen gegen diese Lebensweise auf die Straße. Keine guten Zeiten, für Hierarchien.

Auf der anderen Seite boomen Hierarchien auch, im kleinen Maßstab. In diversen Fernsehshows bewerten Menschen andere, die für sie kochen, singen, tanzen, modeln oder dafür, wie effektiv sie einkaufen oder wie gut sie sich bei Ekeltests bewähren. Wer sagt, ’so was‘ würde er nicht gucken, wenn überhaupt, dann mal zufällig, das sei doch ansonsten was für die Unterschicht, der hat ebenfalls auf eine Hierarchie zurück gegriffen.

Es gibt scheinbar immer Gewinner und Verlierer. Noch offensichtlicher ist das im Sport, da ist Gewinnen und Verlieren das Prinzip, aber auch der Ansporn. Ewige Zweite sind nahezu tragische Helden, dabei gibt es überhaupt nur einen, der im entscheidenden Moment ein wenig besser war. Aber, wie heißt es?: Der Zweite, ist der erste Verlierer. Hart.

Aber auch in der Politik geht es um Gewinnen und Verlieren, darum Erster zu sein, an der Spitze der Partei, des Landes zu stehen. Kleine Könige und Königinnen, die manchmal vergessen, dass sie eigentlich unsere Diener sein sollen. Genau diese und andere Eliten sind ins Gerede gekommen, weil sie nach Meinung vieler ihre Macht missbrauchen, so sind sie eben, die da oben. Macht korrumpiert nicht zwingend, aber doch oft und so gibt man der Hierarchie die Schuld.

Denn ohne diese gäbe es das Problem nicht, heißt es. Wir würden Gleiche unter Gleichen sein, niemand würde die Nase hoch tragen, sich als was Besseres fühlen oder gebärden, also weg mit der Wurzel des Übels, weg mit den Hierarchien. Oder?

Hierarchien auf Herz und Nieren geprüft

Vermutlich lässt sich die Forderung, dass Hierarchien abgeschafft werden sollten, nicht halten, ich glaube so gut wie niemand würde dem zustimmen, es kommt eben immer auf die Beispiele an. Wer ein neues Auto möchte, einen Staubsauger, ein Smartphone oder Kleidung, der wird sich vermutlich nicht mit dem Erstbesten zufrieden geben, sondern er wird aussuchen und abwägen. Klar hat jeder da andere Vorstellungen davon, was gut und schön genug ist, aber er oder sie hat eben welche.

Einige meinen es aber ernster und würden genau diese Art des Lebens kritisieren, das sich über Besitz, Konsum, Wachstum, immer Neues und Besseres definiert, denn genau das, heißt es dort, sei unser Problem. Gut wäre, sich zu beschränken, die Unterschiede und Hierarchien abzubauen, weil es auch irgendwie irrsinnig ist, dass man ein besserer Mensch sein soll, weil man das bessere Smartphone hat.

Aber gilt das auch noch, wenn man krank ist oder das eigene Kind? Geht man dann, wenn es vielleicht ein komplizierterer Fall ist, zum nächstbesten Doktor, Hauptsache nah? Unterschiede interessieren nicht? In der Regel ist man da doch empfindlicher und möchte dann auch nicht irgendwelche Medikamente, sondern möglichst die besten, die es gibt.

Doch auch da sind die Menschen verschieden manche denken, die Apparatemedizin, sei eh nicht so das Gelbe vom Ei, statt dessen könne man sehr gut für sich selbst sorgen, wenn man eben ein wenig aufpasst, nicht jeden Müll isst, sich ausreichend bewegt, überflüssige Gifte vermeidet und wenn dann noch eine Krankheit kommt, behandelt man diese ganzheitlich.

Aber auch das wäre noch eine Hierarchie, egal ob man nun ein anderes Medizin- oder Wirtschaftssystem favorisiert und noch die zugespitzte Aussage keine Hierarchie sei besser als irgendeine Hierarchie, erweist sich als performativer Selbstwiderspruch, denn auch diese Ablehnung ist bereits eine hierarchische Wertung.

Zudem gibt es natürliche Hierarchien, nicht nur in Wolfsrudeln oder bei anderen Tieren, auch die Organe unseres Körpers arbeiten streng selektierend, seien es Leber und Nieren die giftige und harnpflichtige Stoffe erkennen und umwandeln, sei es unser Immunsystem, was verschiedene Eskalationsstufen als Antwort auf Eindringlinge kennt oder unser Herz, das streng hierarchisch den Herzschlag über den Sinusknoten regelt, fällt dieser aus, gibt es mit dem AV-Knoten ein Ersatzsystem, der immerhin das Überleben sichert, wenn alle Zellen gleichberechtigt sind und die Herzmuskeln dazu bringen sich zusammenzuziehen, wie sie wollen, sprechen wir vom Kammerflimmern und das ist ein lebensbedrohlicher Notfall.

Auch unsere Psyche sortiert alles aus, was sie nicht gebrauchen kann und wenn wir einer fürchterlichen Situation nicht entgehen können, werden die Eindrücke oft abgespalten, eine Dissoziation, ebenfalls, um das Überleben zu sichern.

Begründungsabfolgen

Aber man kann nicht den performativen Selbstwiderspruch kritisieren und dabei den naturalistischen Fehlschluss unerwähnt lassen. Denn er besagt, dass man das was natürlicherweise da ist, nicht umstandslos und ungeprüft auf unser Zusammenleben übertragen kann. Als Begründung ist die Aussage, dass etwas so ist und daher auch so sein muss, ein Fehler.

Zum einen schreibt die Natur uns nichts vor, zum anderen gibt es in ihr so viele Formen, dass der Rekurs darauf, was die Natur will oder vorgesehen hat, pure Willkür ist. Aber auch Hierarchien sind mehr oder weniger willkürlich gesetzt und anders geht es auch nicht. Sie sind ein erster, behauptender Schritt, mit dem für jemanden festgelegt wird, dass er dies besser findet, als das. Dieser Schritt kann aber auch immer angezweifelt werden und muss daher begründet werden, man muss klar machen, wie man darauf kommt, warum etwas so sein soll.

Und nun wird es interessant. Wer sagt, Vanilleeis schmecke besser als Schokoeis, verleiht damit seinem eigenen Geschmackempfinden Ausdruck, die Begründung ist mit dem Geschmackempfinden identisch, es schmeckt einem halt besser. Wer sagt, dass Bach besser als Beethoven ist, äußert vermutlich auch ein Geschmackempfinden, würde aber vermutlich drauf pochen, dies auch begründen zu können. Wer die Grünen besser als die CDU findet, trifft zwar auch eine Geschmacksaussage, würde aber vermutlich noch stärker betonen wollen, dass dies keineswegs nur eine Geschmacksfrage, sondern die präferierte Partei wirklich besser sei.

Damit stellt sich also die Frage, warum man das meint. Man wird seine Gründe haben. Weil diese oder jene Partei eben eine bessere, Umwelt-, Renten-, Finanz-, Innen- oder Außenpolitik macht und hier kann und darf man weiter fragen, was hier wiederum mit besser gemeint ist. Das ist keine kleinkarierte Erbsenzählerei, sondern kann auf echtem Interesse beruhen, auf einem Wunsch nach Klärung und sich und dem anderen die Chance geben, sich der eigenen Position selbst klarer zu werden, denn oft haben wir zwar eine Meinung, wissen aber nicht so genau, warum überhaupt. Oft werden Vorstellungen zunächst unreflektiert übernommen, was nicht mal falsch sein muss, weil sie uns mit einem weltanschaulichen Korsett versorgen, wir haben dann eine Position und Haltung in dieser Welt, auch wenn diese vielleicht nur übernommen ist. Damit muss sie ja nicht falsch sein. Man hat aber dadurch auch die Chance, sich zu den weltanschaulichen Wurzeln durchzubuddeln, also zu dem, von dem man meint, dass es eben so und nicht anders sei. Das wäre der Durchbruch zur Ebene der Reflexion und ein hierarchischer Fortschritt.

Pathologische Hierarchien

Nicht immer gelingt dieser Fortschritt, aber wie gesagt, das muss kein Nachteil sein, denn man kann trotzdem von etwas überzeugt sein, was man einfach nur glaubt oder mit Begründungen schneller zufrieden sein, als andere. Meistens sind das Begründungen, die zwar philosophisch betrachtet keine sind, die sich aber auf die reale oder gefühlte Mehrheit berufen: ‚Weiß man doch‘, ‚Kennt man doch‘, ‚Das sagen doch alle‘, ‚Das sieht doch jeder‘ oder ‚So ist es doch auch‘, sind solche Erklärungen, die sich darauf verlassen, dass man es selbst vielleicht gerade nicht weiß, aber es irgendwer wissen wird, sonst würde es nicht überall erzählt.

Das ist insofern nicht ganz falsch, weil man sich darauf verlassen können muss, dass nicht hinter allem ein riesiger Betrug steckt und man kann ‚Berechtigungen erben‘, das heißt, sich auf die Erkenntnisse der Menschheit verlassen, auch dann, wenn man sich nicht von A bis Z alle selbst überprüft hat.

Solche Traditionen und ihre Erklärungen sind identitätsstiftend, halten also eine Gruppe, Gemeinschaft oder Nation zusammen. Da auch Praktiken dazu gehören, erkennt man sich anhand bestimmter Stile wieder, ob es sich um Dialekte, Speisen, Kleidungen oder traditionelle Bräuche und Riten handelt.

Pathologisch können solche Abgrenzungen in dem Moment werden, wo die Identität der eigenen Gruppe in besonderer Weise bedeutsam erscheint und nicht nur als anders, sondern auch besser. Wenn Deskription, Identifikation oder Identitätssbildung in Wertung übergeht. Ein weiteres Mal ein naturalistischer Fehlschluss. Man müsste nun wieder vorgehen wie gewohnt, in dem man begründet, was ‚besser‘ konkret heißen soll und welchen Kriterien man folgt, warum es diese sein sollen und so weiter.

Erst wenn von bestimmten Eigenschaften willkürlich behauptet wird, sie seien unter allen Umständen besser und nicht nur unter konkreten und jeder, der diese Eigenschaft nicht besäße, sei weniger wert, wird es gefährlich. Es ist schön, wenn man Schlittschuh laufen kann, aber wenn man Schlittschuhläufer zu besseren Menschen macht, ist das fragwürdig bis grotesk, denn Querflötenspieler, Fischer oder Fassbauer könnten dasselbe für sich beanspruchen.

Ein Gemeinschaftsgefühl, die Bewahrung traditioneller Erzählungen, Bräuche, Riten und Praktiken ist unproblematisch und muss keinesfalls mit der Abwertung anderer einher gehen. Wer die Südtiroler Lebensart und Kochkunst mag, muss die eines Inselvolkes nicht ablehnen. Erst wenn ich aus meinen oder unseren Eigenschaften bessere machen will, wird es problematisch. Auch das noch nicht sofort, man kann durchaus reflektieren und anerkennen, dass man diese eigene Heimat, eben zum Teil deshalb so mag, weil man hier her kommt und sich geborgen fühlt, wenn man Berge sieht und Knödel isst. Dass kann dem Küstenbewohner durchaus auch so gehen, wenn er das Meer sieht, hört und riecht und frischen Fisch isst. Man fühlt sich dann in aller Regel, aber nicht immer, trotzdem einer Region wohler und das ist schön. Manche fühlen sich dort aber auch beengt, manche sind in der Kindheit vier mal umgezogen und haben daher mehrere Heimaten oder keine oder eine ganz andere, wie die Musik oder Literatur.