Nachdem in den ersten beiden Teilen dieser Serie psychopathische Tendenzen als Persönlichkeitsmerkmal und demgegenüber Psychopathie als Persönlichkeitsstörung aufgeschlüsselt wurde, soll nun nachgegangen werden, inwiefern psychopathische Tendenzen bei Kindern auftreten könnten. Hierbei unberücksichtigt bleibt allerdings der direkte Bezug zur Psychopathie als Persönlichkeitsstörung, da man bei Kindern maximal von Verhaltensauffälligkeiten sprechen kann, ohne ihnen vorschnell eine derart schwere Diagnose anhaften zu wollen.

Störungen des Sozialverhaltens bei Kindern

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Nachahmung von Macht und Stärke versus emotionsloses, kaltes Verhalten © Caleb Wagoner under cc

Im ICD-10, dem psychiatrischen Klassifikationssystem, sind Verhaltensauffälligkeiten, die in Zusammenhang mit psychopathischen Tendenzen bei Kindern stehen könnten, unter den „Störungen des Sozialverhaltens“ (F 91.-) zusammengefasst (Deutsches Institut für Medizinische Dokumentation und Information, 2016). In Anlehnung daran finden folgende Punkte Berücksichtigung:

  • wiederholendes und anhaltendes Muster von dissozialem, aggressivem und aufsässigem Verhalten, oberhalb der altersentsprechenden sozialen Erwartungen, schwerwiegender als kindischer Unfug oder jugendliche Aufmüpfigkeit
  • Dauer von mindestens sechs Monaten oder länger
  • diagnostischer Ausschluss anderer psychiatrischer Krankheiten, z.B. affektive Störungen, Schizophrenie, tiefgreifende Entwicklungsstörungen
  • Verhaltensweisen, die beispielhaft auftreten könnten: extremes Maß an Streiten oder Tyrannisieren, Grausamkeit gegenüber anderen Personen oder Tieren, erhebliche Destruktivität gegenüber Eigentum, Feuerlegen, Stehlen, häufiges Lügen, Schulschwänzen oder Weglaufen von zu Hause, ungewöhnlich häufige und schwere Wutausbrüche und Ungehorsam

Proaktiv-Kalte Aggression

„Jedes dieser Beispiele ist bei erheblicher Ausprägung ausreichend für die Diagnose, nicht aber nur isolierte dissoziale Handlungen“, so steht es im ICD-10 geschrieben. Hervorzuheben ist dementsprechend, gemäß Petermann (2013), die Betonung einer „proaktiv-kalten Aggression“, welche weniger als Reaktion auf das Verhalten anderer, sondern mehr als „Geplantes Verhalten, das durch den erreichten Erfolg gesteuert wird“, beschrieben werden kann, und von Petermann mit folgenden Kriterien umrissen wird:

  • Mangel an Reue oder Schuldgefühlen
  • Mangel an Empathie: Missachtung bzw. Gleichgültigkeit in Bezug auf Gefühle anderer
  • Gleichgültigkeit gegenüber der eigenen Leistung, keine Besorgnis bei schlechten Leistungen in der Schule etc.
  • defizitäre Emotionalität
  • Emotionen als Mittel zum Zweck, zur Einschüchterung oder Manipulation anderer

Petermann stellt eine ungünstige Prognose für Kinder mit „proaktiv-kalter Aggression“, da zum einen Trainings unwirksam zu sein scheinen, zum anderen offenbar eine hohe Tendenz zur Deliquenz und eine hohe Rückfallquote bestehen (Petermann, 2013).

Psychopathische Tendenzen bei Kindern – Veränderbar?

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Jugendliches Provozieren als Zeichen reaktiver Aggression versus proaktiv-kalte Aggression © Cat Branchman under cc

Hoffnung auf eine mögliche Besserung der bislang ungünstigen Entwicklungsprognosen in Bezug auf psychopathische Tendenzen bei Kindern machen neue Forschungsansätze, die eine differenzierte Betrachtung der Entstehung dieser Tendenzen ermöglichen könnten. Dabei werden unter anderem genetische, organische, hirnphysiologische und umweltbezogene Komponenten (wie zum Beispiel Erziehung, Sozialisation) berücksichtigt. Problematisch wäre in diesem Zusammenhang jedoch, anhand einzelner Studienergebnisse auf Entwicklungsprognosen zu schließen, da von einem Zusammenspiel mehrerer Faktoren ausgegangen werden kann.
Einzelne Faktoren den anderen voranzustellen, könnte einerseits zu generalisierenden Schuldzuweisungen (z.B. in Bezug auf das elterliche Verhalten) führen, andererseits zu einer Überbetonung der Gewichtung, wie es sich zum Beispiel beim wissenschaftlichen Diskurs um das sogenannte „Krieger-Gen“ gestaltet hat, einer bestimmten genetischen Variation, die mit risikobehafteten Verhaltensweisen in Zusammenhang zu stehen scheint (vgl. für eine kritische Auseinandersetzung: Hofinger, 2011).

Nachfolgend sollen exemplarisch Studien zusammengefasst werden, die wegweisend für Interventionen bei Personen/Kindern mit psychopathischen Tendenzen sein könnten, mit dem abermaligen Hinweis der Berücksichtigung auf ein multifaktorielles Bedingungsgefüge.

Empathie: Augenkontakt bei Kindern

Die Studien des australischen Psychologen Mark Dadds, Professor an der University of Sydney, konnten unter anderem aufzeigen, (1) dass der Augenkontakt zu ihren Bezugspersonen bei Kindern, die „kalte, unemotionale“ Verhaltensweisen zeigten, deutlich reduziert ist, (2) dass vor allem den Vätern eine Schlüsselrolle bei mangelndem Blickkontakt zu ihren Kindern zuzukommen scheint und (3) dass eine Intervention, in welcher die Eltern mit Blickkontakt zu ihren Kindern authentisch ihre Zuneigung zu ihnen bekundeten, bei diesen Kindern eine deutliche Besserung der Emotionserkennung in den Gesichtern anderer ermöglichten, eine Fähigkeit, die mit Empathie in Zusammenhang steht (vgl. für eine Zusammenfassung der Studien: Dadds, 2016; The University of Sydney, 2016).

Dass Personen mit psychopathischen Tendenzen entgegen langläufiger Annahmen durchaus auch in der Lage sein können, Ängste zu empfinden (eine Vorraussetzung für Empathie), zeigen ebenfalls neuere Studien, die neue Ansatzpunkte für weitere Forschung versprechen.

Fokus: Ängste bei Psychopathen

So scheinen Psychopathen durchaus fähig, Ängste zu empfinden – wenn sie sich darauf konzentrieren (Müller, 2014). Es zeigte sich in einem Experiment anhand von fMRT-Ergebnissen, dass bei psychopathischen Personen durchaus in ähnlicher Form wie bei Nichtpsychopathen die Amygdala (das Angstzentrum im Gehirn) aktiviert ist, wenn bei Fehlern in einem Test Konsequenzen wie Stromstöße drohen (Larson et al., 2013). Sollten sich die psychopathisch veranlagten Personen allerdings parallel dazu auf eine andere Aufgabe konzentrieren, dann konnten keine solchen Aktivitäten in der Amygdala verzeichnet werden, bei Nichtpsychopathen bleibt diese dagegen weiterhin hoch. Es scheint also, dass bei Konzentration auf ein anderes Ziel (als das Primärziel, Fehler zu vermeiden) bei psychopathischen Personen klassische Bedrohungsreize in den Hintergrund treten.

In Bezug auf zukünftige Interventionen wäre also u.a. denkbar, dass dem Blickkontakt und dem Trainieren von Empathie bei Kindern mit „kalten, unemotionalen“ Verhaltensweisen ein besonderes Augenmerk zukommen könnte. Darüber hinaus könnten Personen mit psychopathischen Tendenzen in „kritischen Situationen“ lernen innezuhalten, um sich mögliche Konsequenzen bewusst vor Augen zu führen (Müller, 2014). Die Forschung erarbeitet sukzessiv Schritte zum Verständnis der Psychopathie – überaus hilfreich in Bezug auf etwaige psychopathische Tendenzen bei Kindern.

Obacht vor Stigmatisierung!

Bild im Maul mit Zähnen gelbe Schrift

Man muss aufpassen, die Kinder nicht zu stigmatisieren. © TORLEY under cc

Zum Abschluss dieses doch sehr brisanten Themas hinsichtlich etwaiger psychopathischer Tendenzen bei Kindern oder Heranwachsenden ist es uns aus ethischen Gründen wichtig, zu betonen, sowohl im klinischen Kontext, als auch im pädagogischen oder sozialen Umfeld keine voreiligen Schlüsse zu ziehen. Ein Kind, welches aggressive Verhaltensweisen an den Tag legt, ist oftmals nur ein Symptomträger eines unstimmigen sozialen Umfeldes. Sich nun darauf zu verlassen, dass die Problematik auf Seiten des Kindes besteht und sein Verhalten sozial genormt werden muss, kann und darf nicht der einzige Ansatzpunkt sein.
Mögliche chronische Traumatisierungen sind ebenso abzuprüfen wie offene oder verdeckte aggressive Verhaltensweisen im sozialen Umfeld gegenüber dem Kind. Dies könnte sowohl im engeren oder weiteren familiären Umfeld oder Bekanntenkreis der Fall sein. Darüber hinaus können auch Komplikationen in Bezug auf die Interaktionen in der Peergroup, das heißt unter den Gleichaltrigen, zu problematischen Verhaltensweisen beim Kind führen.

Dem Kind mit Geduld begegnen

Geduld ist hier maßgeblich, da nicht jedes Kind sogleich im Gespräch mit seinen Ängsten oder seiner Wut herauskommt und die Ursachen dafür benennen kann. Viele Kinder kennen die Ursachen für ihre aggressiven Verhaltensweisen nicht einmal selbst. Sie können es schlichtweg nicht einordnen. Hier bräuchte es einen verständnisvollen und geduldigen, erfahrenen Kinder- und Jugendpsychotherapeuten, der das Kind in seinem sozialen Kontext auch über eine längere Zeit beobachten könnte, ehe es mit einer „Verdachtsdiagnose“ auf Lebenszeit stigmatisiert werden würde. Die Befragung der Erwachsenen im Umfeld des Kindes reicht dafür nicht aus, es müssen Beobachtungen in speziellen Situationen erfolgen. Einen Aufwand, welchen weder die klinische oder therapeutische, noch die pädagogische Versorgungslandschaft in Deutschland leider oftmals nicht zulässt und der demzufolge aus Kostengründen häufig gescheut wird/werden muss.

Viel zu oft sind leider die Kinder sich selbst überlassen mit der Schwere dieser „diagnostischen Etikettierung“, sodass man befürchten muss, dass diese zusätzlich den Schweregrad der selbsterfüllenden Prophezeiung mit sich bringen könnte. Ein Kind, welches sich denkt: „Was soll’s, dann bin ich eben so“, könnte Verheerendes erleben in Bezug auf den eigenen Lebensweg und stünde für ein Versagen der gesellschaftlichen Verantwortung. Und so sind etwaige psychopathische Tendenzen bei Kindern eben auch ein gesamtgesellschaftliches Problem. So lange man die therapeutische Versorgungslandschaft, die angedachten sozialen und familiären Unterstützungen sowie den geringen Personalschlüssel beim pädagogischen Personal weitestgehend nicht hinsichtlich möglicher und nachhaltiger Optimierungen angeht, werden leider noch viele weitere kindliche Symptomträger folgen.

Quellen: