
Selbst feine Eindrücke graben sich durch Wiederholungen ein, wie Wasser in den Stein. © Bernd Thaller under cc
Ignoranz hat einen schlechten Ruf, der Ignorant auch. Der Ignorant ist jemand, der mit den sprichwörtlichen Scheuklappen und einer „Interessiert mich nicht“-Einstellung durch die Welt geht und einfach nicht wahrnimmt oder nicht auf das reagiert, was anderen wichtig ist.
Das gibt es auch in der Jugend und ist dort oft nur eine Phase, eine Masche, man probiert sich aus, muss seine Einstellung zur Welt und seine Rolle in ihr finden. Cool oder gechillt zu sein, wie es da häufig genannt und erprobt wird, ist etwas, das bei beiden Geschlechtern in einer gewissen Phase der Jugend attraktiv ist. Vermutlich, weil genau das Gegenteil im eigenen Leben der Fall ist, die Welt steht Kopf, alles ist neu und anders, drinnen tobt die Sexualität und draußen erzählt jemand etwas von binomischen Formeln. Irgendwer ist immer da, der mit all dem Getöse der inneren und äußeren Veränderungen besser zurecht kommt und diese Lebensphase souveräner und unbeirrbarer meistert und diese Menschen nimmt man sich oft zum Vorbild. Und nicht selten sind diese Menschen etwas eigen, gehen ihren Weg durchs Leben, sind oder wirken genau deshalb eben cool, souverän und sind ein wenig ignorant. Coolness hat zumindest einen gewissen Verwandtschaftsgrad zur Ignoranz.
Die Wegbeschreibung oder selektive Wahrnehmung
Im Zeitalter von Navi und Smartphone ist die Frage nach dem Weg vielleicht etwas aus der Mode gekommen, eigentlich schade, denn daran kann man, über den richtigen Weg hinaus auch sonst viel lernen. Etwas klischeehaft aber dennoch nicht ganz falsch könnte es sein, dass sie einen Weg anhand von Frisörläden, Boutiquen und Dedignerläden erklärt, er, auf der Basis von Trinkhallen, Baumärkten und dem Autohaus an der Kreuzung. Selektive Wahrnehmung nennt man das und diese meint meistens die Fähigkeit sich auf einen bestimmten Teilbereich des Lebens konzentrieren zu können und anderes auszublenden. Wie weit das geht, wurde vor einigen Jahren in dem berühmten Gorilla Aufmerksamkeitstest dargestellt, den heute irgendwie jeder kennt (falls nicht: hier klicken). Aber selbst, wenn man weiß, dass man sich im Kontext eines Aufmerksamkeitstests befindet, ist erstaunlich, was einem dennoch entgehen kann: hier klicken.
Das Gerücht will es, dass Männer Ignoranz besser können. Wenn sie von einem Geschäft erzählt, das er nicht kennt und sagt: „Das da hinten, in dem neuen Hochhaus“, kann es vorkommen, dass er fragend sagt: „Hochhaus?“. Im Laufe der Zeit verfestigt sich das zu Mustern, so dass man tatsächlich nur noch bestimmte Dinge wahrnimmt und auf die anderen buchstäblich mit der Nase gestoßen werden muss und auch dann nicht sicher ist, dass man wirklich erkennt, worum es geht. Das geht bei Hochhäusern noch vergleichsweise einfach, bei sozialen Sichtweisen und Perspektiven ist das deutlich schwieriger, was eine beliebte Quelle für Missverständnisse in Partnerschaften ist.
Aber auch in größeren sozialen Kontexten kennt man inzwischen das Phänomen der Blasen und Echokammern, in denen man, inzwischen beinahe, ob man will oder nicht, mit dem immer Gleichen konfrontiert wird, Schonkost für die Seele. Ob dieser Trend ungebrochen anhält, wird man sehen, zunächst scheint er bequem. Warum sich mit allerlei Unnützem abgeben, da das Leben schon bei der Bewältigung des Alltags hart genug ist?. Das Ausblenden von Unbekanntem und Nichtbekömmlichen und damit auch eine gewünschte oder jedenfalls bequeme Form der Ignoranz, hat derzeit jedenfalls Konjunktur. Einer der langen Schatten, den die Personalisierung unserer Daten wirft.
Der Bauarbeiter und der Traum vom unkomplizierten Leben
Wir kennen diesen Zusammenhang einer durchaus positiv besetzten Form der Ignoranz auch noch aus einem Klassiker, der immer mal wieder zu hören ist, wenn Menschen im Laufe des Lebens, oft auch in der frühen, idealistischen Phase merken, dass das Leben reichlich kompliziert ist und sich das in absehbarer Zeit auch nicht ändern wird. Dazu kommen noch die 1000 Gedanken und ernst gemeinten Träume von einer besseren Welt, die man hat, wenn man jung ist und manchmal auch behält, wenn man älter ist.
Ich hörte öfter eine Variante der Geschichte in Form des phantasierten Bauarbeiters, der klaglos arbeiten geht, am Feierabend sein Bier trinkt und der sonst nicht viel vom Leben erwartet und damit, so wird dabei vorausgesetzt, zufrieden ist. In der weiblichen Form könnte das die Geschichte der Hausfrau und Mutter sein, die mit ihrer Rolle ebenso ausgefüllt, wie zufrieden ist. Abgesehen davon, dass dies auch eher klischeehafte Bilder sind, in denen ein vermeintlich einfaches Leben einer komplexen Situation gegenüber gestellt wird (man will ja nicht wirklich Bauarbeiter oder Hausfrau werden, sondern wünscht sich, dies würde einem als Lebensmodell genügen), ist hier ein weiteres Mal ein eher positives Bild der Ignoranz erkennbar. Man hat seinen kleinen Radius des Lebens, der Rest geht einen nichts an und interessiert auch nicht.
Wenn wir mal ausblenden, dass diese Phantasie auch einiges unterschlägt: Das sind Ideen, die man in Situationen der Überforderung und Verunsicherung hat und manchmal ist diese Überforderungssituation hausgemacht.
Wir lernten sensibel zu werden, für alle und alles offen zu sein

Sich gegen das Leid von Mensch und Tier einzusetzen, bleibt dennoch wichtig. © BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN under cc
Die Zeit nach der gesellschaftlichen Revolution von 1968 war vor allem dadurch geprägt, dass man gegenüber immer mehr Phänomenen, Menschen und Lebensansätzen Offenheit und Toleranz entwickeln sollte. Das würde, nach den ideologischen Verengungen in der Nazizeit und dem reaktionären Muff in den Jahren danach, mehr Farbe, Abwechslung und Spaß ins Leben bringen. War es zunächst noch schockierend, als Mann lange Haare und als Frau kurze Röcke zu tragen, musste man sich die Haare weniger Jahre später schon grün färben, um noch aufsehen zu erregen und heute schockt das Aussehen prinzipiell kaum noch. Aber allein um Gewöhnung sollte es nicht gehen, man sollte sich auch mit den neuen Ansprüchen auseinandersetzten, sich für die Motive und Ansprüche interessieren, nicht einfach nur achselzuckend vorbeigehen.
Sensibilität und Verständnis standen auf der Agenda und immer wieder auch jede Menge Eigenschau, in der gefragt wurde, ob man nicht selbst überkommene Einstellungen in sich entdeckt und mal überdenken sollte. Nun sind Verständnis, Empathie, Offenheit, Sensibilität, Achtsamheit und Toleranz allesamt Eigenschaften mit einem tollen Klang. Aber oft genug haben wir eine Variante derselben gelernt, bei der wir uns selbst vergessen haben und ein Gefühl dafür verloren ging, wann der Bogen überspannt war.
Es galt ein netter, toleranter Mensch zu sein und alles und jeden voll supie zu finden, abgesehen von jenen reaktionären Spießern, die bei diesem Spiel nicht mitmachen wollten. Auf die durfte und sollte man schimpfen, alles was bunt, multi und pluralistisch war, war gut. Dabei übersah man, dass man sich im Zuge der pluralen Begeisterung oft Verhaltenswiesen einkaufte und nun gut finde musste, die man in der eigenen Familie nie und immer akzeptiert hätte. Aber, wer Ideen hat, von denen er überzeugt ist, zieht diese oft durch und wenn Verständnis nicht die erwünschten Erfolge brachte, galt als Lösung eben noch mehr Verständnis zu zeigen. Von der schweren Kindheit bis zur kulturellen Eigenart wurde erst mal alles durchgewunken und man selbst hatte sich im besten Fall still zu verhalten und nur ja nicht intolerant zu wirken, das war kurz vor Rassist oder Nazi und damit den sozialen Höchststrafen, bevor diese vom Kinderschänder abgelöst wurden.
Von der Toleranz zur Ignoranz
Selten reflektiert ist die Idee, dass es eine ziemlich direkte Linie von der Toleranz zur Ignoranz gibt. Der Spruch: Wer für alles offen ist, ist nicht ganz dicht, kleidet dies in humoristischer Weise noch am ehesten ein. Anders formuliert: Wer alles gut findet, verliert seine Identität. Nicht zwingend, wenn man diesbezüglich wenig Zweifel hat, ist das kein Problem und Neugier und Offenheit sind die Tore, durch die es zu einem glücklichen Leben geht. Aber wer eine Persönlichkeit noch ausbilden muss und wesentlich hört, dass es wichtig ist, das richtig und spannend zu finden, was andere haben, sagen, tun und lassen, hat nie einen Kompass erhalten, den er verlieren könnte.
Es ist auch mit reichlich Verdrängungsarbeit verbunden, dieses und jenes gleichermaßen toll zu finden, denn viele Ansätze widersprechen einander einfach diametral. Nun ist es toll, wenn man stets beide Seiten verstehen kann, aber es kommt der Tag, an dem man sich für eine der beiden Seiten entscheiden muss, will man sich nicht stromlinienförmig der jeweiligen Einstellung anpassen und zum Opportunisten werden. Aber dann hat man bereits seine Identität verloren, beziehungsweise, es ist nicht gelungen, überhaupt eine zu errichten. Und alles gleichermaßen toll zu finden, für und gegen nichts Stellung zu beziehen, lässt einen schleichend abstumpfen.
Es ist eine Definitionsfrage, was man unter Toleranz versteht. In einer eher engen Variante ist es ein mehr oder minder gelassenes und manchmal mürrisches Akzeptieren von Verhaltensweisen oder Ansichten, die man sich nicht zu eigen machen würde. Muss man halt so hinnehmen, ist die Untergrenze der Toleranz, man sieht aber keinen Sinn darin, sich damit irgendwie näher zu beschäftigen. Toleranz kann aber auch in einer erweiterten Variante vorliegen, das würde bedeuten, sich für das was andere tun auch, wenigstens ein Stück weit, zu interessieren. Spätestens in dieser zweiten Variante, die über ein passives, reines Ertragen von etwas hinaus geht, kommt es aber dazu, dass einem Widersprüche diverser Lebensstile auffallen, die dann einfach nicht zusammen passen. Man muss sich dann schon anstrengen diese Widersprüchne nicht zu sehen. Ein Ergebnis ist, dass man sich einfach nicht groß und länger damit befasst, entweder alles ablehnt und der Auffassung ist, man möchte mit all dem Kram nichts zu tun und einfach seine Ruhe haben. Oder man findet das alles, für den Moment ganz aufregend und reizend und all die Menschen, die eine bestimmte Idee vertreten, ganz liebenswert, was aber bei Licht betrachtet oft damit zu tun hat, dass man kritische Fragen nicht stellt und Schwierigkeiten ausblendet. Zwei gehäufte Löffel mehr Verständnis und alles ist wieder gut, so meint man. In beiden Fälle mutiert Toleranz zur Ignoranz und ich weiß nicht, ob das dem Toleranzgedanken am Ende tatsächlich noch entspricht.
Wenn man zu offen ist

Neugierde und Offenheit machen das Leben spannend. © Eva-Maria Vogtel under cc
Offenheit ist schön, wenn man die innere Möglichkeit hat, bei Bedarf die psychischen Fenster auch wieder zu schließen und die Rollläden herunter zu lassen. Wenn man also abschalten und bei sich bleiben kann. Doch das gelingt nicht allen und die Folge ist, dass die Welt mehr oder weniger ungefiltert auf sie einprasselt. Alle Sinne offen, man ist überall zugleich, bekommt alles mögliche mit und muss es folglich verarbeiten. Und wenn man sehr viel mitbekommt, ist oft recht schnell der Punkt erreicht, an dem alles zu viel wird.
Es gibt drei Linien das Feuerwerk der Sinne zu bearbeiten, die eine ist der narzisstische Weg, bei dem man einfach alle Kritik ausblendet und in einer ‚alle lieben mich‘ Scheinwelt lebt. Der Rest findet nicht statt. Der andere Weg ist die paranoide Lösung, die Signale der Außenwelt in ein gewaltiges inneres Netz aus mehr oder weniger phantasierten Beziehungen und Gründen umleitet und sie dort konsistent, aber oftmals ein wenig eng und irgendwann für andere nicht mehr nachvollziehbar interpretiert. Am offensten und schutzlosesten ist der Weg der Borderliner, die kaum über psychische Umleitungssysteme verfügen und die Eindrücke der Welt recht ungefiltert mitkriegen und oft gezwungen sind auf diese direkt agierend einzugehen.
Zudem ist die Stimmung in der Bevölkerung und vielleicht noch mehr in den massenmedial transportierten Teilen der Öffentlichkeit angespannter geworden. Aggressiv und theatralisch, bisweilen hysterisch, mit viele Getöse aber oft wenig greifbaren Änderungen und Ergebnissen. Auch das prasselt ja auf uns ein, Nachrichten in Echtzeit, aus anderen Teilen der Welt, von denen wir früher noch nicht mal wussten, dass es sie gibt. Dazu kommt, dass das Internet, virtuell oder nicht einfach eine riesigen Teil unseres Lebens ausmacht und beeinflusst. Mitsamt der hier lauernden Gefahren, wie Cybermobbing und Hate Speech.
Ein Bombardement an Reizen, die es früher einfach nicht gab. Dazu ein Wegfall an Hemmungen auf vielen Ebenen, die es früher vermutlich stärker gab, dazu mehr Möglichkeiten als früher, seine Hemmungslosigkeit auszuleben. Mit all dem muss man erst mal fertig werden und das schafft man nicht immer und schon gar nicht jeder. Dazu muss man selektieren, auswählen, ausblenden, die Schotten dicht machen und ein Stück weit ignorant sein.
Diese Ignoranz kann und muss man manchmal lernen und es gibt psychotherapeutische Methoden, die einem dabei helfen können. Man konzentriert sich darauf sich nur auf einen Sinn zu achten, etwa alles, was man jetzt gerade hören kann. Dazu kann man die Augen schließen und nur auf die Hörwelt achten. Dann konzentriert man sich auf alles, was man riecht, sieht, fühlt oder schmeckt, so intensiv es gerade geht. Auf diese Weise kann man lernen, selbst Herr (oder Frau) im eigenen Haus zu werden und das zurückzuweisen, was gerade nicht gebraucht wird. Das ist ein Weg für den man einige Zeit braucht, aber es ist ein lohnender Weg. Generell sind alle Wege die zu mehr Ich-Stärke führen dazu geeignet, die Eindrücke der Welt besser verarbeiten zu können und sie alle helfen uns dabei potentiell Unwichtiges aus dem Weg zu schaufeln.
Ressourcen, Resilienz und Ignoranz
Weil Ignoranz keinen guten Klang hat, heißen die Fähigkeiten sich der Widerstandskraft zu bemächtigen heute Resilienz oder Rückgriff auf Ressourcen. Resilienz ist dabei größtenteils die Fähigkeit, den negativen Eindrücken und Einflüsterungen der Welt nicht nachzugeben und seinen eigenen Weg weiter zu gehen. Hat man dies mehrere Male gemacht und Probleme und Herausforderungen in seinem Leben erfolgreich gemeistert, kann man auf diese Erfahrungen zurückgreifen und Therapeuten erinnern einen gerne daran. Wie habe ich das denn eigentlich geschafft, damals?
Die sprichwörtlichen Scheuklappen des Pferdes sind ja dazu da, dass das Pferd nicht zu viel von der irritierenden Welt mitbekommt und ein Teil der Psychopharmaka tut nichts anderes, als die Empfindsamkeit einfach chemisch ein wenig herunterzuregulieren. Die oft erste Selbsttherapie der Angsterkrankten, der Alkohol, macht auch nichts anderes. Andere Faktoren die die Resilienz steigern haben wir ironischerweise aus unserem Alltag verdrängt. Eine Steigerung der Resilienz wird auch dem religiösen Glauben attestiert, doch der hat bei uns keine Konjunktur. Es ist der Kern der ödipalen Situation, dass der Vater eine gewisse Zeit im Leben das letzte Wort hat, was einerseits belastend ist, aber andererseits eine klare Orientierung ermöglicht und vor den Chor anderer Stimmen schützt. Man hört sie schon, aber sie haben nicht die Autortät des Vaters. Doch oft existiert diese Konstellation nicht mehr und die Autorität des Vaters ist geschwächt.
Wir müssen ständig Entscheidungen treffen, die sich zu einem Teil darum drehen, was für unser Leben wichtig und unwichtig ist. Wie so oft im Leben ist das ein Dreiklang aus den Werten, die die Eltern durch Wort, Tat und Verschweigen vermittelten, der aktuellen Stimmung in Zeit, Kultur und Region, sowie dem eigenen Temperament und den Erfahrungen und Reflexionen des eigenen Lebens. Damit wir einen Teil dieser Entscheidungen nicht jedesmal neu überlegen müssen, graben sich Gewohnheiten, wie Rillen immer tiefer in den Stein und irgendwann fließt das Wasser den immer gleichen vorgeprägten Weg. Der Mensch ist ein Gewohnheitstier. Stur tut er, was ihm bekommt, was links und rechts des Weges liegt sieht er nicht, interessiert ihn nicht. Und das ist nicht schlecht.
Wenn Ignoranz zum Problem wird
Doch wenn wir ehrlich sind, ist der schlechte Ruf der Ignoranz nicht völlig unbegründet. Ausgewachsene Ignoranten bringen uns mindestens dazu die Augen zu verdrehen, ihnen selbst mag das wenig ausmachen, aber es gibt ja auch noch eine Umwelt, die vom Ignoranten in der Regel wenig begeistert ist. Hier müssen wir Ignoranz als therapeutischen Weg von der Ignoranz als häufiger Lebenseinstellung unterscheiden. Denn, auch wenn man ein Recht darauf hat privat ungestört zu sein und sich für das zu interessieren – oder eben auch nicht zu interessieren – wonach einem selbst der Sinn steht, man bekommt ja auch Rückmeldungen aus seiner Umgebung anhand derer man erkennen kann, ob man eher als cool, charakterstark oder ignorant angesehen wird.
Es müssen in der Regel starke Reize, prägnante Begegnungen und Erfahrungen sein, die uns Menschen dazu bringen umzudenken. Dann allerdings sind wir in der Lage sogar jahrzehntelange Gewohnheiten zu ändern, nicht selten von einem Tag auf den anderen. Auf einmal haben manche ihr Thema gefunden, irgendetwas macht klick. Hat man so einen Bereich für sich entdeckt und merkt, wie er das eigene Leben bereichert, kann es, wohl auch temperamentbedingt sein, dass man sich damit zurückzieht und im Stillen nun beginnt, zu malen, zu sammeln oder Kurzgeschichten zu schreiben, doch andere entwickeln ein starkes Sendungsbewusstsein und wollen der Welt ihre Erkenntnisse mitteilen. Egal, ob das Thema vermeintlich klein oder groß ist. Denn der Mensch ist nicht nur ein Gewohnheitstier, sondern auch ein Beziehungswesen. Er lebt vom Austausch, vom Geben und und Nehmen von Arbeit, Emotionen und Gründen.
Diese Gründe bringen wir gern vor, wenn wir von etwas zutiefst überzeugt und begeistert sind oder es als Notwendigkeit ansehen. Allerdings macht man dann oft frustrierende Erfahrungen mit der Ignoranz. Andere sind weit weniger von dem eigenen Thema begeistert und oft nicht bereit, sich näher damit auseinanderzusetzen. Falls sie zuhören, ist das eher ein Akt der geduldigen Höflichkeit, innerlich sind sie oft schon woanders. Manchmal hört man auch Bemerkungen, wie „Interessant, womit Du Dich so beschäftigst“, was eine etwas bittersüße Komponente hat, weil man ahnt, dass das Thema nicht ankommt, man selbst aber irgendwie als Freak wahrgenommen wird. Wer selber ein gewisses Sendungsbewusstsein in einem Bereich verspürt, der weiß, dass es einem dabei ums Thema, den Inhalt geht, insofern ist das Interesse an der eigenen Person hier weniger das, was man erreichen wollte.
Grade der Offenheit
Noch frustierender ist vielleicht die angetäuschte Offenheit. Einige Menschen scheinen vom eigenen Herzensthema tatsächlich inintial begeistert zu sein, unterhalten sich angeregt über die Ideen, notieren sich vielleicht noch bestimmte Buchtitel oder Webadressen und man denkt, hier hätte man etwas bewegt. Trifft man diese Menschen einige Zeit später wieder, ist das ehemalige Interesse am Thema nahezu vollkommen erloschen oder es hat nie die Bedeutung von „sehr interessant“ überwinden können. Das Thema hat für einen selbst aber möglicherweise einen ganz anderen Stellenwert, einen, der zur Änderung von Einstellungen und Verhalten führte.
Aber wie offen soll man sein, was können wir da vom anderen erwarten? Wir können andere Menschen nicht zwingen, sich für die Themen zu erwärmen, die uns wichtig sind. Wir tun das selbst ja auch nur im begrenzten Umfang. Was wir allerdings erwarten dürfen, ist, mit Themen, die unseren Herzensanliegen sind, angehört und ernst genommen zu werden. Wenigstens, wenn wir mit den Menschen in einer engeren Beziehung stehen. Es bleibt dem anderen überlassen, ob er auf unser Angebot reagiert oder nicht.
Es ist jedoch auch unser Recht, auf ein Thema mit Nachdruck hinzuweisen, vor allem dann, wenn es von überindividuellem Interesse ist. Doch auch da gehen die Interessen und vor allem, die Ansichten darüber, was die zwei, drei wichtigsten Bereiche überhaupt sind, auseinander. Man muss im Leben Prioritäten setzen, doch niemand kann einem vorschreiben, wo diese liegen.
Offenheit ist jedoch ein Baustein des Fünf Faktoren Modells oder kurz der Big Five, in der Psychologie und bereits bei der kurzen Beschäftigung mit den Ideen der Big Five wird klar, dass der Grad der Offenheit zwar recht offensichtlich so ist, dass mehr Offenheit und Neugier glücklich machen, allerdings ihrerseits von anderen Faktoren abhängen. Wie wir oben schon feststellen, ist der Grad an Ich-Stärke oder Ich-Schwäche, bei den Big Five Neurotizismus genannt, wichtig. Menschen, die sich bedroht fühlen, werden tendenziell konservativer, ihre Offenheit, Neugierde und Bereitschaft zur Verhaltensänderung sinkt.
Das Beste aus beiden Welten und eine wenig verstandene Paradoxie
Wenn Ignoranz, positiver als gewöhnlich, als die Fähigkeit sich auf das für das eigene Leben Wesentliche zu konzentrieren interpretiert wird, so soll der Hinsweis auf die Dynamik der Psyche gleichzeitig nahelegen, dass das im besten Fall der erste Schritt ist. Aus einer soliden Basis heraus gewinnt man überhaupt erst die Bereitschaft und Stärke sich dem anderen zuzuwenden. Die Hinwendung nach innen ist dabei der Weg sich dem Außen überhaupt wieder öffnen zu können. Und die Öffnung nach außen ist es, die das Ich stärker macht und zudem auch noch glücklicher.
Man kann das schlecht umdrehen aber beides hängt zusammen. Wer sich im Außen verströmt ohne selbst gefestigt zu sein, wird dazu neigen, zu projizieren. Er sieht dann im Außen, was in sich brach liegt und nach Aufmerksamkeit ruft. Das kann dazu führen, dass man zwar im Außen viel Gutes tut, die innere Wunde aber nicht heil wird. Doch gleichzeitig kann die Beschäftigung mit dem Außen, der altruistische Wunsch das Wohl des anderen vergrößern zu wollen, in einem hohen Maße dazu führen, die Fixierung auf das eigene Ich zu überwinden. Wie man glücklich und gelassen wird und das Leben als sinnvoll begreift beantwortet sich dabei meist ganz von selbst, im vorbeigehen, gerade, in dem man von der expliziten Beschäftigung mit diesen Themen ablässt.
Wer also seine eigene Welt in Ordnung bringt vergrößert automatisch seine Bereitschaft sich für die Bedürfnisse anderer zu öffnen und wird gerade nicht egoistisch. Wer ein starkes Bedürfnis spürt die Welt zu retten, sollte auch mal den Blick nach innen richten und schauen, wofür die Verbesserung um Außen symbolisch stehen könnte. Die berühmte Schattenarbeit. Wenn man beides in eine gelungene Balance bringen kann, ist auch das, was man im Kleinen tut vermutlich ungeheuer hilfreich und hier stellt sich die subjektiv unterschiedliche Gewichtung als ein Segen heraus, weil sehr viele Nischenbreiche des Lebens von engagierten Menschen Zuwendung erfahren. Es gibt fast nichts, dem nicht irgendwer sich mit Hingabe widmet, im besten Fall zu seinem eigenen Wohl und zum Wohl der Welt.
So lasst uns denn die Scheuklappen aufsetzen, wenn wir merken, dass es nötig ist, aber gleichzeitig im Hinterkopf behalten, dass wir sie auch wieder ablegen können und sollten und dass der zweite Schritt zur Lebenszufriedenheit oft nur dadurch geht, dass man die Kreise des Interesses größer werden lässt.