Durch die Anonymisierung greift ein zunehmend rauer Umgangston im Netz um sich. Die Möglichkeit, sich hinter Avataren zu verstecken oder (für Mutige) unter Klarnamenprofilen vom heimischen Sofa aus zu frotzeln, scheint für Viele einfach zu verlockend zu sein. Nicht erst seit heute ruft dieses Verhalten Kommunikationswissenschaftler und Psychologen auf den Plan. Denn hinter jedem Adressaten, hinter jedem Opfer, von Hate Speech, Cyber-Mobbing und angeblich neutralen Meinungsäußerungen steckt auch immer ein Mensch. Jenes sollten der oder die verbalen Angreifer nie vergessen. Mit der vermeintlich medialen Macht durch Pseudonymität geht stets Verantwortung einher.
Rauer Umgangston im Netz: Warum pöbeln wir?
Die Lage der Nation scheint angespannt zu sein, so jedenfalls lautet ein möglicher Grund für die Pöbeleien im Netz. Gesellschaftspolitische Forderungen, den Namenlosen die Maske vom Gesicht zu reißen, werden von offizieller Seite laut. Selbstredend ist George Orwells Dystopie eines totalen Überwachungsstaates beim Aufheben von sozialmedialer Anonymität nicht weit.
Doch möglicherweise gibt es noch andere Wege, dem Herausposaunen des eigenen Frustes, wann immer es einem passt, Einhalt zu gebieten. Appellieren wir an die menschliche Vernunft, in der Hoffnung, dass dieser Quell bei einigen noch nicht vollständig versiegt ist. Schließlich ist Hate Speech nur der Gipfel der Intoleranz. Auch das sich »miteinander Verbünden« gegen andere. Mit dem bewussten Ziel, die Outgroup oder den Ausgestoßenen fertig zu machen. Hetzen, ist ein geeignetes Wort dafür.
Wesentlich häufiger und nicht weniger verletzend, ist die »neutrale« Meinungsäußerung im täglichen sozialmedialen Umgang miteinander.
Von der Meinungsäußerung derer, die es nur gut meinen
Die, die es nur gut meinen, können unter Umständen die verletzendste Kritik üben, weil diese als »Wolf im Schafspelz« daherkommt. Man schätzt den anderen, ahnt nichts Böses im sozialen Miteinander und plötzlich schlägt die Keule der Meinungsäußerung zu. Fatal für die Stimmung am restlichen Tag. Vor allem, da man zunächst nicht ausmachen kann, warum der Andere, vermeintlich soziale, gute Bürger, harsche Worte, Hohn und Spott auf einen niederprasseln lässt. Was könnte dahinter stecken?
Mögliche Gründe des »normal« Meckernden
- knapp gehaltene Ressourcen wie Löhne, bezahlbarer Wohnraum und bezahlbare, qualitativ hochwertige Lebensmittel, ergo härterer »Überlebenskampf«
- Ein kaputtes Wir
- Abbau der eigenen Aggressionen und Frustrationen, die sich im Alltag aufgestaut haben
- Beziehen des Gesagten auf die eigene Person, mit dem Wunsch, sich abzureagieren
- Auf der Suche nach Empfindungen und dem eigenen Ich, Grenzen ausloten
- Expertise kundtun, Statusdenken, um sich besser zu fühlen
- Egoismus und Selbstbezogenheit
- mangelnde Empathie?
- Verstecken hinter Konventionen, die eine zunehmend raue Etikette akzeptieren (»Man muss abhärten, wenn man bestehen will.«, »Ich selbst habe auch schon genügend einstecken müssen.«, »Das Leben ist kein Ponyhof.«)
- Mangelnder Respekt: Unterschätze den anderen nicht, nur weil er höflich zu dir ist!!
Die Gründe dafür, dass ein rauer Umgangston im Netz um sich greift, mögen vielfältig sein, so wie die Menschen verschieden sind. Aber es ist die eine Seite, unterschiedlicher Meinung zu sein, und eine andere, sich über den anderen zu erheben, um sich besser zu fühlen. Kooperation statt Konkurrenz. Oder haben wir schlicht und ergreifend verlernt, Kritik zu geben? Der Grad zwischen »Gut meinen« und Grenzüberschreitung ist ein schmaler. Für alle die, welche tatsächlich jemanden unbeabsichtigt durch ihre Kritik verletzen: Möglicherweise ist es an der Zeit, wieder zu erlernen, wie man konstruktive Kritik gibt, ohne jemandem zu nahe zu treten. Außerdem ist Nörgeln schlecht fürs Hirn. Zwei Aspekten, denen wir in den nächsten beiden Artikeln nachgehen.