
Nietzsche hat den Tod Gottes als Chance begriffen, aber auch die Gefahren gesehen. © Arturo Espinosa under cc
Orientierung ist eine reale Größe und Notwendigkeit in der Welt. Die Bundestagswahl 2017 liegt hinter uns und nicht die sogenannten „Altparteien“ wurden abgestraft, sondern jene Parteien, die die große Koalition der Regierung bildeten, die Volksparteien, ein Begriff, den man der SPD oft nicht mehr zuschreiben kann. Ein „Weiter so“ will man nicht, das über Jahre als attraktiv genug empfundene „Fahren auf Sicht“ ist nicht mehr alternativlos, Kanzlerin Merkels Kommentar am Tag nach der Wahl, sie wüsste nun auch nicht, was sie anders machen sollte, wirkt mindestens hoch unglücklich. Doch Politik ist nicht unser Thema, sie markiert nur den Endpunkt einer Entwicklung, bei der uns nach und nach Angebote der Orientierung zerbrechen.
„Gott ist tot!“ So lautet eines der bekanntesten und mächtigsten Zitate der neueren Philosophiegeschichte. Es stammt von Friedrich Nietzsche, doch er legt diese Worte in den Aphorismen seines Werkes „Die fröhliche Wissenschaft“ von 1882 dem „tollen Menschen“ in den Mund, toll nicht im Sinne von großartig, sondern verwirrt. Verwirrt ist der tolle Mensch nicht, weil er Gott bezweifelt, sondern weil er in dieser Szene die Umstehenden anklagt, sie alle, auch er, hätten Gott getötet, seien sich aber, im Gegensatz zu ihm, der Tragweite dieses Aktes in keiner Weise bewusst. Was haben wir da gemacht, wie haben wir es gemacht, ist die Frage des Menschen und toll wirkt er auf die Umstehenden deshalb, weil sie überhaupt nicht verstehen, was er meint.
„Es gab nie eine größere Tat – und wer nun immer nach uns geboren wird, gehört um dieser Tat willen in eine höhere Geschichte, als alle Geschichte bisher war!« – Hier schwieg der tolle Mensch und sah wieder seine Zuhörer an: auch sie schwiegen und blickten befremdet auf ihn. Endlich warf er seine Laterne auf den Boden, daß sie in Stücke sprang und erlosch. »Ich komme zu früh«, sagte er dann, »ich bin noch nicht an der Zeit. Dies ungeheure Ereignis ist noch unterwegs und wandert – es ist noch nicht bis zu den Ohren der Menschen gedrungen. Blitz und Donner brauchen Zeit, das Licht der Gestirne braucht Zeit, Taten brauchen Zeit, auch nachdem sie getan sind, um gesehen und gehört zu werden. Diese Tat ist ihnen immer noch ferner als die fernsten Gestirne – und doch haben sie dieselbe getan!«“[1]
Ob man dies nun feiert oder bedauert, Nietzsches Befund an der Stelle ist ein anderer, nämlich der eines Verlustes an Orientierung. Gott, so kümmerlich er Nietzsches Meinung nach im Christentum auch gedacht wurde, hat doch auch eine Sicherheit gebracht, man wusste, was man zu tun und zu lassen hatte und in Nietzsches Zeit war der Gedanke, dass es Gott gar nicht geben könnte und sogar der, dass er längst tot sei, bereits verbreitet.[2] Nietzsche begegnet uns hier eher als Chronist, fraglos skeptisch gegenüber den Religionen und insbesondere gegenüber dem Christentum, aber mindestens so skeptisch gegenüber einer simplen Beseitigung von Gott und dem Akt so zu tun, als würde all das keine weiteren Folgen haben, nachdem es nun einmal geschehen ist, denn das war Nietzsche klar, geschehen ist es bereits.
Religion und ihr Heilsversprechen
Gott hat die Welt erschaffen und sorgt in Teilen auch weiterhin für sie. Ihr müsst nur glauben, gehorsam sein und ein gottgefälliges Leben führen, dann seid ihr auf der sicheren Seite. So lautete der Deal über die Jahrhunderte, mindestens in der heutigen Nacherzählung der Geschichte. So ganz stimmt es nicht, es gab immer schon Zweifler und das Christentum hat der früheren Obrigkeit historisch vermutlich mehr abgerungen, als es selbst als Herrschaft ausgeübt hat, aber fraglos gibt es auch all die Tendenzen, die Nietzsche so radikal mit dem Christentum brechen ließ.
Für die Führung der Menschen waren die obigen Leitsätze vermutlich prima, solange man dran glaubte, glauben konnte. In einem religiösen Umfeld war dies sicher der Normalfall, doch auch die konsequente Gottestreue konnte in die Verzweiflung führen, gerade weil man alles richtig gemacht hatte und das gewünschte Ergebnis noch immer nicht eintrat. Es ist eine eigene Welt, sich in die Seelen der aufrichtig Gläubigen einzufühlen und ihre Sorgen, Nöte und Hoffnungen nachzuvollziehen. Auch wenn vermutlich die wissenschaftlich-technische Revolution der Religion in Europa am meisten zusetzte, weil Gott für vieles im Alltag nun schlicht nicht mehr benötigt wurde, wurde unterm Strich hier das Kind mit dem Bade ausgeschüttet. Doch zunächst merkte man das nicht.
Bei konstant anwachsendem materiellen Wohl rückt das seelische Wohl ein wenig in den Hintergrund. Wir realisieren erst nach und nach, was uns dabei so nebenbei noch verloren gegangen ist. Ich habe nie so recht verstanden, warum der eher schlichte Gedanke wahr sein soll, dass, wenn wissenschaftliche Tatsachen der heiligen Schriften nicht stimmen, sie damit komplett widerlegt wären. Die moralische und die Gesellschaft regelnden und sinnstiftenden Aspekte der heiligen Bücher sind mindestens gleich stark zu betrachten und dafür fehlte der Ersatz.
Die Wissenschaft und ihre Heilsversprechen

Die Wissenschaft hat viele faszinierende Gesichter. Doch nicht jeder findet in ihr Orientierung. © Mars P. under cc
So wurde dann auch der Wissenschaft, zumeist der Naturwissenschaft, mehr aufgebürdet, als sie jemals tragen konnte. Die Versorgung mit Wohlstand und Gesundheit gelang noch mit Bravour, aber die restlichen Heilsversprechen, um die sich die Religion kümmerte, lagen brach. Neuerdings, mit dem Transhumanismus, kommt das ewige Leben wieder neu ins Spiel, ins Naturwissenschaftliche gewendet und in eine unendliche Spanne qua Genregulation übersetzt. Ob dies mal gelingt, wissen wir nicht, ob das jedoch ein Versprechen oder eine Drohung ist, darüber lässt sich trefflich streiten.
Der Buddhismus sah den Ausstieg aus dem Rad der Wiedergeburten noch als große Befreiung und Erlösung an, für uns klingt das unendlich ausgeweitete Dasein im ersten Impuls verlockend. Aber, wie gesagt, dies dämmert am Horizont der Möglichkeiten. Etwas anderes klappte jedoch nicht. Die Wissenschaft kann keine Moral formulieren. Man muss kein gottgläubiger Mensch sein, um moralisch integer zu sein, soviel gilt es festzuhalten. Im Gegenteil ist es oft so, dass Religionen den Menschen auf einer soziozentrischen Stufe des Gehorsams halten, manchmal ein Stück weit in ihrer moralischen Entwicklung bremsen. Gegenüber den Brüdern und Schwestern im Geiste und Glauben ist man stets bemüht, für die anderen hat man, wenn überhaupt, allenfalls noch Almosen parat. Doch die Fairness gebietet es festzustellen, dass der religiöse Glaube ein Gesamtpaket ist und ein moralisches Motiv im Schlepptau hat.
Denn Ethik und Moral sind die Fragen nach dem Sollen. Und: Warum sollte man überhaupt? Der wissenschaftliche Glaube kann dies nicht beantworten, aller Gehversuche durch Hochrechnungen zur optimalen Strategie zum Trotz. Aber warum nicht radikal? Weg mit Religion und Moral könnte man sagen und nicht wenige meinen, dass Nietzsche genau hierfür steht. Doch ihm geht es nicht um eine simple Antithese, denn wie wir anfangs sahen, warnt er vor den Entwicklungen einer zu leichtfertigen Entsorgung, dem Wegwischen eines ganzen Horizontes.
Denn auch wenn das „Survival of the fittest“ nicht das Überleben des Stärksten, sondern Anpassungsfähigkeiten oder insgesamt Geschicktesten meint, so ist das im Grunde genau der Zustand, den wir heute oft vorfinden und der Eindruck, dass sich irgendwelche Eliten, die ohnehin schon an der Macht sind, gerade dadurch, dass sie es sind, durchsetzen, ist das, was die Bürger dieses Landes politisch abgewählt haben.
Vom Sein und vom Wissen: Was die Wissenschaft nicht erklären kann
Welt oder Natur ist das Wirken an sich blinder und im Kern am Schicksal des Einzelnen und der Menschheit uninteressierter Kräfte. Das ist die eigentlich irritierende Botschaft der Wissenschaften und des Naturalismus. ‚Entspann‘ Dich, es kommt nicht auf Dich an‘, so ist der eher positive Teil der radikalen Botschaft, doch es gibt eine dunkle Schwester dieser Nachricht, die lautet, dass der Natur die Existenz von Dir und mir und der Menschheit insgesamt im Grunde herzlich egal ist. Wobei ‚egal‘ schon wieder zu personalisiert ist, denn „die Natur“ ist gerade keine gütige Mutter, sondern ein Bündel von Prozessen und Ereignissen, die den Naturgesetzen gemäß einfach geschehen und ablaufen und ob wir da Sonstiges hineingeheimnissen oder nicht, ist nur eine belanglose Randnotiz auf irgendeinem Planeten eines durchschnittlichen Sterns, am Rande einer unter Milliarden anderen Galaxien. Wir Wesen, die auch nach dieser Lesart evolutionär bedingt nach Aufmerksamkeit, Sinn und Bedeutung gieren, werden durch sie in den Zustand absoluter Sinn- und Bedeutungslosigkeit und kosmischen Desinteresses katapultiert. Und es waren die Existentialisten, die sich das in aller Schonungslosigkeit klarmachten und dem Absurden ein trotziges Dennoch entgegenschleuderten.
Der Mainstream machte sich diese Gedanken bereits nicht mehr. Alles prima, solange man dran glaubt, auch hier. Und ebenfalls analog zu den Religionen gilt, dass die Gläubigen so lange stillhalten, wie das Ideal ihres Glaubens, im Wesentlichen: Fortschritt von Wissenschaft und Technik, sie gut versorgt. Noch die an sich banale Erfindung einer Waschmaschine bedeutete einen immensen Zugewinn an Lebensqualität. Nach anderen Produkten wie Fenster, Heizung, elektrisches Licht und Seife. Die Massenmedien wurden schon kritischer beäugt und die Ambivalenz des technischen Fortschritts trat mehr und mehr ins Bewusstsein. Heute bedeuten neue technische Errungenschaften, auch wenn sie unsere Welt verändern, man denke nur an die allgegenwärtige Onlinevernetzung, nicht mehr zwingend eine Lebenserleichterung.
Zum Verzicht auf Sinn, Moral und dem schleichenden Verlust des sedierenden Wohlgefühls kommt noch eine weitere Komponente. Die Wissenschaft kann uns mitunter die Welt nicht mehr erklären. Ihr größter Bonus gerät ins Wanken. Denkt man einige Jahrzehnte zurück, schien vieles klarer. Man ging davon aus, dass das Gehirn das Bewusstsein hervorbringt und nach wenigen Jahren ausgewachsen ist, die Eckdaten der Psyche genetisch determiniert sind. Der Gedanke des Einflusses des Gehirns auf die Psyche im Sinne einer Einbahnstraße und dass das Gehirn zu verstehen automatisch bedeutet, die Psyche zu verstehen, ist so kaum noch haltbar. Zudem ist das Gehirn in vielen Bereichen bis ins hohe Alter veränderbar und die Gene sind viel weniger festlegend, als wir dachten.
Meinte man obendrein, die Natur des Universums sei wesentlich geklärt, so finden wir auch hier heute viel mehr Rätsel und Fragen als noch vor Jahrzehnten. Dazu kommt, dass eine Konsequenz des Naturalismus, der Physikalismus, die Idee, das alles letztlich aus Materie besteht – Materie in der Form der modernen Physik, also Teilchen und energetische Prozesse –, zwar widerspruchsfrei angenommen werden kann, aber herzlich wenig erklärt. Gerade auch im Bereich von Psyche und Bewusstsein muss man, wenn man fair sein will, einerseits zugestehen, dass die Forschung großartige Erfolge erzielt hat, wenn es darum geht, psychische Merkmale auf Vorgänge im Gehirn zurückzuführen, andererseits aber ein riesiger Bereich noch nicht und vielleicht sogar prinzipiell nie erklärt werden kann.
In der Philosophie ist längst bekannt, dass die Lehre vom Sein, die Ontologie und die Lehre der Erkenntnis, Epistemologie oder Erkenntnisthorie etwas auseinandergehen und eine Aufgabe der modernen Philosophie ist es, die Erkenntnistheorie in ein monistisches Ganzes zu integrieren. Genau hier stockt der Motor und dies trifft die Wissenschaft an einer empfindlichen Stelle, denn, wir erinnern uns, ihr eigentlicher Bonus, mit dem sie in Europa die Religion vom Thron stoßen konnte, war, dass sie die Welt schlanker und besser erklären könnte und vor allem Praktiken zur Verfügung stellte, für jedermann.
Individuell und kollektiv: Revolutionen

Gleich wie man zur Religion steht, ist sie ein Leuchtturm der Sinnstiftung und Orientierung. © fusion-of-horizons under cc
Die Welt erklärt zu bekommen, einen Sinn zu sehen, ist dem Menschen ein Bedürfnis, eines, was mindestens gleichberechtigt neben dem Wunsch nach Freiheit und Versorgung steht. Eine Orientierung zu haben, ist ungeheuer wichtig. Hat man einmal eine Erklärung für die Geschehnisse in der Welt gefunden, so verteidigt man diese, oft mit Zähnen und Klauen. Dies ist individuell nicht anders als in Kollektiven und auch in Institutionen des Wissenserwerbs. Hier wie da ist Erkenntnis kein stetig und linear voranschreitender Prozess, in dem ein Erkenntnisbaustein zum anderen kommt, sondern man wehrt neue mögliche Erkenntnisse und abweichende Daten zunächst ab. Man will davon nichts wissen, macht sie verächtlich oder lächerlich.
Das wird den Grund haben, dass man die Fundamente seiner Welterklärungen nicht täglich wechselt, schon weil dies unökonomisch ist. Das Individuum und das Kollektiv des Alltags kann sich das besser leisten, als die Erkenntnismaschine Wissenschaft, aber auch hier hat Thomas Kuhn dargestellt, dass die Struktur des Fortschritts stets ein Sprung, eine Revolution ist, die dann einsetzt, wenn man abweichende Daten nicht mehr guten Gewissens negieren kann, sondern beachten muss. Das gilt für uns als Einzelpersonen genauso. Wir lassen uns unsere Überzeugungen nicht ohne weiteres nehmen, auch hier müssen gravierende abweichende Daten kommen.
Der deutsche Osten oder: Die immer wieder vertagte Hoffnung
Nun geht eine in Teilen unsympathische Revolution vom deutschen Osten aus. Ausgrenzung und Ignoranz ist der falsche Weg. Zwar stimmt es, dass die intellektuellen Vordenker der Neuen Rechten oft Westimporte sind, aber Hinweis darauf, dass die oft wohlhabenden Lebemänner der rechten Parteien nun nichts mit dem Lebensstil derer zu tun haben, die sie vertreten wollen, gilt für die linken Parteien ebenso.
Und dass rechte Parteien gerade da stark werden, wo es Fremde kaum gibt, ist nach der Wahl auch keine These mehr, die zu halten ist. Zwar sind Migranten im Osten tatsächlich rar, aber außerhalb dieses Bereichs bekommen rechte Parteien vor allem dort viele Stimmen, wo der Anteil an Armut und Zugewanderten hoch ist.
Der mehrfach enttäuschte Glaube an eine bessere Welt ist vielleicht die bessere Erklärung. Die Erklärungen und Beschwörungen, dass es uns doch gut geht, sie ziehen nicht mehr. Das uns verbindende Wir ist kaputt, mindestens in Teilen, immer mehr Leute fühlen sich nicht mehr dazugehörend und nicht mehr zu wissen, wohin man gehört, ist ein Zeichen des Verlustes an Orientierung.
Es gibt um Osten Menschen, die erst die Diktatur der Nazis und dann der DDR über sich ergehen lassen mussten und als dann doch endlich alles besser werden und die Landschaften blühen sollten, erleben mussten, wie sie von Geschäftemachern übers Ohr gehauen wurden und ihre Landstriche eher austrockneten als blühten. Doch die Enttäuschungen und das Gefühl, dass sich keiner für ihr Schicksal interessiert, ist kein Privileg des Ostens mehr, ob in Bremerhaven, dem Ruhr-Gebiet oder den Vorstädten in Köln und Berlin, überall gibt es Regionen in denen sich Menschen abgehängt fühlen, weil sie es sind. Doch auch das lehrt uns der Blick in den Osten. Die Überzeugung einiger, dass Menschen, nur weil sie Atheisten sind, die besseren Menschen seien, darf man nach diesem gesellschaftlichen Experiment auch bezweifeln. Allein, der Glaube an Gott ist in vielen deutschen Regionen inzwischen so wenig sinnstiftend und orientierungsgebend, wie der Glaube an steten Fortschritt und dass es „uns“ so gut wie nie geht.
Global ist manches anders
Weltweit ist die Dynamik der Religionen ungebrochen, sehr zur Überraschung der Eurozentristen, die davon ausgingen, dass der Siegeszug eines Weltbildes, das atheistisch, kapitalistisch, humanistisch und auf technologischen und wissenschaftlichen Fortschritt fixiert ist, nur noch eine Frage der Zeit ist. Nun erlebt man Europa selbst uneins und an Einfluss und Vitalität verlierend.
Sind das nun Stufen der Weltbilder die miteinander ringen oder gibt es so ein hierarchisches Nacheinander gar nicht, sind alle Perspektiven und Deutungen gleichberechtigt? Es ist mal wieder kompliziert. In der Regel meint man, die wissenschaftlich-rationale Weltsicht würde die mythisch-religiöse ablösen und sei dieser an erklärender Kraft übergeordnet. Doch im mythisch-religiösen Kontext gibt es eine Orientierung, für alle verbindliche Gebote und Verbote und die Frage, warum man sich moralisch verhalten sollte, ergibt hier kaum einen Sinn, die Antwort ist: Weil Gott das so will. Dass man das alles lächerlich und hinterwäldlerisch findet, mag sein, aber genau diese Lesart stößt ja gerade an ihre Grenzen. Die Rationalität finden manche durchaus irisierend, doch vielen ist sie zu kalt und dröge. Und, etwas einzusehen heißt nicht, dass man sich auch dran hält. Das Dreieck Freiheit, Versorgung und Orientierung muss überdies ausgewogen sein. Unsere stillschweigend gefühlte Überlegenheit gerät ins Wanken, vielleicht weil sie die Frage nach der Orientierung vernachlässigt. Doch das ist eher eine praktische Frage.
Theoretisch stoßen wir auch an Grenzen. Der Idee, dass Gott die Menschen machte, wurde schon früh die Idee gegenübergestellt, dass der Mensch Gott machte, schon bei den alten Griechen, später noch einmal explizit ausformuliert bei Feuerbach. Doch da ist noch etwas, denn es gibt Kräfte, von denen unklar ist, ob wir sie oder sie uns benutzen. Sprache, Kommunikation, aber auch die Sexualität, die Gene und aus Sicht einiger auch die Teme (technischen Meme). So schreibt Freud:
„Die Sexualität (ist) nicht gleichzustellen den anderen Funktionen des Individuums, da ihre Tendenzen über das Individuum hinausgehen und die Produktion neuer Individuen, also die Erhaltung der Art zum Inhalt haben. Sie zeigt uns ferner, dass zwei Auffassungen des Verhältnisses zwischen Ich und Sexualität wie gleichberechtigt nebeneinander stehen. Die eine, nach welcher das Individuum die Hauptsache ist, das die Sexualität als eine seiner Bestätigungen, die Sexualbefriedigung als eines seiner Bedürfnisse wertet, und eine andere, derzufolge das Individuum ein zeitweiliger und verlängerter Anhang an das quasi unsterbliche Keimplasma ist, welches ihm von der Generation anvertraut wurde“[3]
Auch das ist irgendwie verwirrend, da diese Systeme auch noch eigene Gesetzmäßigkeiten haben, denen sie nachgehen und wir manchmal frei agieren, indem wir diesen Gesetzmäßigkeiten nachgeben, ein anderes mal aber indem wir uns dagegen stellen.
Postmoderne Splitter der Orientierung …

Wo soll die Reise hingehen? © spline splinson under cc
Es ist ein altes Spiel, dass die Freiheit, alles zu machen, schnell den Charakter der Willkür annehmen kann. Aber die Freiheit als eine Form freiwilliger Unterwerfung, Verpflichtung oder Einsicht in die Notwendigkeit, erscheint dann doch wieder einigen als Freiheit mit Sternchen und Fußnote versehen.
Nietzsche hat das schon groß gedacht und an dieser Stelle bezieht er auch Position:
„In der Tat, wir Philosophen und »freien Geister« fühlen uns bei der Nachricht, daß der »alte Gott tot« ist, wie von einer neuen Morgenröte angestrahlt; unser Herz strömt dabei über von Dankbarkeit, Erstaunen, Ahnung, Erwartung – endlich erscheint uns der Horizont wieder frei, gesetzt selbst, daß er nicht hell ist, endlich dürfen unsre Schiffe wieder auslaufen, auf jede Gefahr hin auslaufen, jedes Wagnis des Erkennenden ist wieder erlaubt, das Meer, unser Meer liegt wieder offen da, vielleicht gab es noch niemals ein so »offnes Meer«.“[4]
Doch die Erfahrung zeigt, dass die Tür des Käfigs zu öffnen und viel Spaß in der Freiheit zu wünschen nicht ausreicht. Ist der Tod Gottes so anspruchsvoll, dass er tatsächlich nur etwas für Philosophen und freie Geister ist? Bedeutet er für die anderen wirklich überwiegend Orientierungsverlust? Die Pointe der Mystik ist auch nicht, als ein Ich das ganz große Sinngefüge zu erleben, sondern die Einsicht, dass da niemand ist, der uns retten wird. Die andere Pointe ist, dass das auch nicht schlimm ist. Aber das ist noch weiter weg, ungreifbarer, nichts, woran man sich festhalten kann.
Wem können wir glauben? Es gibt negative Grenzen des Perspektivismus. Egal welches Weltbild wir haben, kommt ein Tsunami, so trifft er uns alle. Doch all die Gleichmacher-Beispiele sind zerstörerische, negative Beispiele. Wenn der Meteor kommt, sind wir alle tot. Hat der Perspektivismus auch positive Grenzen, etwas, worauf wir uns alle einigen können, gar müssen?
… und die große Geschichte 2.0
Der Wunsch, all die Fragmente einzusammeln und zu einer großen Geschichte 2.0 zu integrieren, einem neuen Mythos der kräftig, verbindlich und intelligent ist, ist ein schöner Traum. Die große Geschichte ist allerdings das, was von der Postmoderne als „das alte ontologische Denken“ (Luhmann) kritisiert wurde und was es eigentlich zu überwinden gilt. Wenn heute schon und demnächst noch mehr virtuelle Welten mit den üblichen zusammenwachsen, wird dann alles noch fragmentierter oder gewinnen wir neue Erkenntnisse, Möglichkeiten und Orientierungen?
An was sollen wir uns zukünftig orientieren, wenn wir unsere komplexe Welt verstehen wollen? Meines Erachtens gibt es tatsächlich hierarchisch unterschiedliche Grade der Welterklärungen oder Weltbilder mit typischen Bedürfnissen, Lebens- und Denkweisen. Es scheint sich herauszuschälen, dass die gemeinsamen Überzeugungen, die zentralen Mythen dieser Weltbilder eine Wirkung entfachen, die oft hinter äußeren Einflüssen nicht zurücksteht.
Vielleicht sind diese Wirkungen das positiv verbindende Element. Man kann sie erforschen und praktisch nutzbar machen und das geschieht aktuell in systematischer Weise, indem die Wirkungsweise von Placebos und Nocebos untersucht werden, bei denen neben einer Konditionierung vor allem die Erwartung eine Rolle spielt. Unklar ist, wie weit dieser Effekt reicht, wie lange er andauert und wie weit er sich auf andere überträgt. Wir wissen, dass ein überzeugter Arzt oder Heiler besser wirkt, als einer, der unsicher erscheint. Oder reicht bereits eine gute Show?
Die Weltbild-Methode trägt dem Rechnung, unter anderem basierend auf der Idee, dass man mit den Überzeugungen des Patienten therapieren sollte und nicht gegen sie. Doch wie weit reicht das über das Gebiet von Krankheit und Heilung hinaus? Jeden machen zu lassen, was er will, führt offenbar nicht zu einer größeren Freiheit sondern zu mehr Narzissmus in der Gesellschaft und Narzissten sind gerade dadurch definiert, dass sie sich für andere Menschen, deren Sichtweisen und Bedürfnisse nicht interessieren. Hier wäre ein Training, das einem früh klarmacht, dass es noch andere Menschen gibt und man nicht ein kleiner König oder eine kleine Prinzessin in einem Hofstaat von Bediensteten ist, schon ein Gewinn. Das decken die Religionen ab, aber was kommt danach? Religionen versorgen uns mit Ritualen, können im besten Falle wärmen, dem Leben Sinn und Orientierung geben, doch sie erklären die Welt nicht so gut, dass das allen attraktiv erscheint. Darin ist die Wissenschaft besser, aber sie kann uns nicht sagen, warum wir überhaupt am anderen interessiert sein sollten.
Versuche, das Beste aus der Welt der Religionen in eine säkulare Form zu transferieren, sind nett und bemüht, aber was den Kohl fett macht ist, dass man tatsächlich glaubt und überzeugt ist. Die postmodernen Gehversuche, sich bei den Religionen wie im Gemischtwarenladen zu bedienen und sich von allem das zu mir passende zu nehmen, stellt den Glauben auf den Kopf, denn die Heilkraft der Religionen liegt wesentlich darin, dass man ein Stück weit sich den Religionen oder einer anderen Idee, die größer ist als man selbst, anpasst oder für diese Idee lebt, nicht, dass man das, was größer als man selbst ist, dem eigenen Ich anpasst.
Wenn wir wissen, wie aus Erwartungen Wirkungen werden und diese sich zu langfristigen Überzeugungen verfestigen, wenn wir begreifen, dass es gut und wichtig ist Ideale zu haben, für die man zur Not auch Opfer bringt, können wir noch mal etwas zurückspulen und an der Stelle neu starten, ohne alte Fehler zu wiederholen. Bei der Wahl im September wurde dem Fahren auf Sicht, dem reinen Pragmatismus eine Absage erteilt. Man darf wieder Visionen haben, ohne zum Arzt gehen zu müssen. Wenn wir darauf achten, nicht den ekelhaftesten Lautsprechern nachzurennen, ist das schon ein Schritt in die richtige Richtung. Visionen zu haben heißt Ziele zu setzen, zu sagen, wo es im idealen Fall hingehen soll und es heißt damit, Orientierung anzubieten.
Quellen:
- [1] Friedrich Nietzsche: Werke in drei Bänden. München 1954, Band 2, S. 126-128.
- [2] https://de.wikipedia.org/wiki/Friedrich_Nietzsche#.E2.80.9EGott_ist_tot.E2.80.9C_.E2.80.93_Der_.E2.80.9Eeurop.C3.A4ische_Nihilismus.E2.80.9C
- [3] Sigmund Freud, Triebe und Triebschicksale, G.W. Bd 10, S. 217f
- [4] Friedrich Nietzsche: Werke in drei Bänden. München 1954, Band 2, S. 205-206