Ältere Frau mit roter Mütze pustet grünen Ballon auf

Zunächst wächst das Ich mit den Jahren © Mike Finn under cc

Dass das Ich erscheint und verschwindet, ist kein großes Wunder, sondern etwas, was wir jede Nacht im Schlaf erleben.

Dann wachen wir auf und alles ist wieder da. Wir und die Geschichte unseres Lebens. Dabei scheint es irgendwie zwei Versionen zu geben. Zum einen die Geschichte unseres Lebens. Unsere privaten Irrungen und Wirrungen, Dramen und Liebschaften, all das was für uns wichtig ist. An diesen kleinen Dramen sind noch andere Menschen beteiligt, unser nahes Umfeld. Familie, Freunde, Arbeitskolleginnen und mehr noch, unsere Sicht auf sie.

Das ist nicht unwichtig, denn wie diese Menschen und die Beziehungen zu ihnen wirklich sind, wird von allen Beteiligten durchaus nicht immer identisch gesehen. Im besten Fall sollte es aber auch nicht zu weit abweichen, aber alles in allem stehen wir sozusagen mit einem Bein in dem, was wir gerne reale Welt nennen und mit dem anderen in Phantasien und Projektion über diese Beziehungen und unsere eigene Rolle in ihnen.

Beliebige Beispiele: Ich könnte denken, dass jemand in mich verliebt ist, die andere Person ist es aber nicht. Ein Mensch könnte in mich verliebt sein und ich bemerke nichts davon. Ich könnte denken, in einer stabilen Beziehung zu leben und mein Partner hat eine Affäre[link] nach der anderen. Ich könnte denken, meine Partnerin habe die Absicht fremd zu gehen, doch sie käme niemals auf die Idee. All das ist vermischt und findet nicht in getrennten Welten statt, die Welt, wie sie ist und meine Phantasien über sie, sind Teil einer Welt.

Die andere Version der Welt ist die Weltgeschichte im Großen. Krieg, Klimawandel, Geopolitik, KI, Demografie, Umweltzerstörung, das große Rad irgendwo da draußen. Ebenso die Normalität des Alltags. Aber irgendwie sind wir ja auch Teil davon. Vielleicht manchmal nur als Endverbraucher, wenn wir merken, dass die Preise steigen, aber zugleich natürlich in der Weise, dass uns diese Nachrichten beeinflussen, manche Menschen sogar massiv und der allgemeine Stress in der Bevölkerung ist zu spüren. Auch hier passiert nicht nur einfach objektiv etwas, sondern es ist sehr entscheidend, wie wir diese Veränderungen empfinden.

Wie wir alle wissen, können Ereignisse von welthistorischer Bedeutung stattfinden, ohne dass wir diese in dem Moment als solche registrieren und vielleicht sind wir auch von unsrer privaten Welt der Beziehungen und der Projektionen, die dazu gehören so absorbiert, dass diese für uns viel bedeutsamer sind, als das Großereignis ‚da draußen‘, was aber für uns gar nicht da draußen ist, sondern einfach unserer Sicht in die Welt beigemischt wird. Je nach Charakter kommen nur Spuren bei uns an oder so viel, dass es uns fast überwältigt. In vielen Fällen ist unsere Privatwelt viel interessanter und bedeutsamer für uns, als das große Ganze.

Weil all diese Welten vermutlich nicht getrennt sind – es gibt zumindest gravierende Erklärungsprobleme, wenn man behauptet, sie seien es – ist es gut zu erfassen, wie die Zusammenhänge zwischen meiner privaten Welt und dem Großen und Ganzen um uns herum ist. Bei dieser Betrachtung gibt es noch aber nicht nur die Unterteilung in meine kleine Insel an Bekannten und Beziehungen und allgemeine Lage, sondern überdies die Verbindung von äußeren und inneren Welterklärungen.

Auch hier ein Beispiel: Wenn ich zu viel Müll produziere, in die Welt werfe und das jeder macht hat das Auswirkungen, die nicht gut sind, weder für mich, noch andere Lebewesen. Das sind äußere Zusammenhänge. Ich kann mich jedoch fragen, warum ausgerechnet ich anfangen soll, achtsamer mit dem Müll umzugehen und nicht mein Nachbar, der vielleicht viel mehr davon produziert. Man kann auch noch grundsätzlicher fragen, was es bringt, wenn ich das tue, die Inder und Chinesen aber nicht. Das sind innere Fragen, die, wenn sie nicht nur als Schutz eigener Bequemlichkeit dienen, durchaus ernsthaft diskutiert werden können.

Selbstkonzept

Damit das Ich erscheint und verschwindet, muss es erst mal irgendwann die Bühne betreten und nach unserem Weltbild geht die Erklärung ungefähr so, dass sich durch irgendeinen Zufall im Rahmen der Evolution der Lebewesen, verschiedene Verhaltensmuster der Anpassung an die jeweilige Umwelt ausbildeten. Einige wurden als eine Art Bio-Algorithmen durch die Vererbung auf die nächste Generation übertragen, die nach diesem Muster weiter lebten und es zugleich verändern und weiter ausdifferenzieren konnten.

Diese Entwicklung führte zu immer komplexeren Verhaltensmustern und durch einen weiteren Zufall bildete sich bei einigen eine Art primitives Selbstkonzept aus, dass die weitergegebenen Informationen besser schützen und ebenfalls erfolgreich vererben konnte. An irgendeiner Stelle schreiben wir diesen komplexen Verhaltensmustern also die Fähigkeit zu innerem Erleben zu, das fundamentale Wissen oder Gefühl zu existieren. Irgendwie scheint damit auch ein gewisser Wunsch oder Wille nach Weiterexistenz verbunden zu sein. Vielleicht ein evolutionäres Prinzip, um die Fortpflanzung und somit der erfolgreiche Weitergabe der genetischen Muster zu sichern.

Manchmal dachte die Menschheit, nur Menschen hätten ein inneres Empfinden, manchmal meinen wir, das höhere Säugetiere ganz sicher eines haben, aber Echsen, Vögeln und Fischen ist es auch nicht ohne guten Grund abzusprechen. Irgendwie ist es jedoch schwer einzusehen, inwiefern Insekten, die erfolgreich leben, dies ohne jede Innerlichkeit tun sollten oder könnten. Wo Bewusstsein nun eigentlich einsetzt, weiß niemand und die Wahl scheint relativ beliebig zu sein. Es gab immer wieder Physiker von Rang, die durchaus meinten, dass auch die kleinsten Teilchen der nach unserer Weltsicht eigentlich sehr toten Materie durchaus auch auf Bewusstsein ansprechen können. Hierüber wissen wir sehr wenig.

Was wir wissen, ist jedoch, dass zu jedem inneren Erleben das Erleben einer äußeren Welt gehört. Jedes Selbstkonzept hat ein Weltbild im Schlepptau, gleichzeitig entsteht durch ein Weltbild ein Selbstkonzept, das dem Selbst einen bestimmten Platz und eine bestimmte Funktions- oder Verhaltensweise zuweist. Man kann sich ja nur in einer Art von Welt irgendwie verhalten, zu Objekten und zu anderen.

Dieser Weltentwurf ist immer eine zum Selbstentwurf passende Projektion. Darum sind Weltbilder so wichtig, sie hängen direkt mit Selbstkonzepten und später auch komplexeren Konzepten, wie dem Ich zusammen. Ich kann mein Weltbild nur zum Teil selbst wählen, es muss irgendwie zu mir passen, zu dem, wie ich mich erlebe. Daraus ergibt sich, dass es zwei Ansätze gibt Welt und Ich zu ändern, nämlich die äußere Veränderung der Welt und die innere Veränderung des Selbst oder Ich. Was wie stark betont wird, hängt wiederum vom Selbstbild ab.

Schritt 1: Das ist alles meins und ich habe das alles erschaffen

Wir wissen nicht sehr viel über das Welterleben von Säuglingen. Aus ihrem Verhalten können wir ableiten, dass sie erstaunlich schnell lernen. Mit Sicherheit haben auch sie ein Weltbild, es muss nonverbal sein, da sie noch nicht sprechen. Es wird darüber spekuliert, wie sehr sie eins mit der Mutter oder doch schon getrennt von der Welt und anderen sind, offenbar lernen sie schnell zu unterscheiden, wie Daniel Stern untersuchte.

Da wir sie nicht befragen und sie es nicht sagen könnten, wissen wir nicht, inwieweit Säuglinge denken, dass sie die Welt selbst erschaffen haben, aber man kann ein wenig davon ausgehen, dass sie sich tiefere Fragen danach, wo diese Welt nun herkommt einfach noch nicht stellen können. Aber es ist eine Welt um sie herum da und diese Welt funktioniert im besten Fall nach den Regeln der Babys. Wenn sie schreien, ist sofort die besorgte Mutter da und schaut, was nicht stimmt. Man kann annehmen, dass sie sich manchmal wie der Mittelpunkt der Welt fühlen müssen. Wie symbiotisch oder getrennt sie Um- und Mitwelt erleben, wissen wir nicht.

Man nimmt an, dass die Frühphase der psychischen Entwicklung der Menschheit ungefähr so verlief, wie die Frühphase der Kindheit heute noch verläuft. In dem Moment, wo man sich selbst als gesondert wahrnimmt, entsteht Welt. Solange nur irgendwelche Bio-Algorithmen in mir ablaufen, stellen sich Fragen nach Welt noch nicht, diese tauchen erst mit einem inneren Erleben, mit dem ersten Selbstkonzept auf.

Schritt 2: Es gibt andere mächtige Wesen und sie sind auf meiner Seite

Schritt 2 ist im Grunde schon der in die Religion. Die Wurzel der Religion ist vermutlich die Entdeckung, dass man von den anderen doch getrennt ist und gleichzeitig, dass es andere Wesen gibt, die viel mächtiger sind, als man selbst. Das ist in der individuellen Entwicklung der Kindheit ganz normal. Die Eltern sind größer, kräftiger, sie können und dürfen Dinge, die dem Kind verwehrt sind.

Stellt man sich vor, dass Religion nicht in dem Sinne eine Erfindung der Menschheit ist, dass man gelangweilt herum saß und zur Unterhaltung Götter brauchte oder Angst vor Gewitter hatte und dafür eine Erklärung finden wollte, sondern, dass das ‚Übersinnliche‘ Teil des Lebens war, erscheint vieles klarer. Die damaligen Menschen waren viel näher mit der Natur verbunden, ein Donnergrollen und Knacken im dunklen Wald wird sie nicht verängstigt haben. Die ‚Geister‘ Verstorbener, vielleicht eines Jagdgefährten, können ihnen im Traum erschienen sein, daher konnten sie annehmen, dass es eine andere Welt gibt, in der sie weiterhin existieren, das ist nicht irreal. Da man sich selbst als lebendig erlebte, dachte man vermutlich auch, dass Feuer, Wolken, Meer und Blätter (im Wind), die sich alle bewegen und von denen manche sogar Laute von sich geben können, lebendig sind.

Gefährlich war es für Menschen damals dennoch, wegen der anderen Menschen. Die Gefahr durch sie umzukommen, war ungleich größer als heute. Weil man aber auch Naturgewalten und anderes fürchten konnten, weil es auch in ihrer Welt Unerklärliches gab. Wie reichhaltig man Innenwelten erlebte, ist schwer zu sagen, es gab in jedem Fall dramatisch weniger Möglichkeiten der Ablenkung, als heute. Was häufiger war, war das kultische Gemeinschaftserlebnis, das einerseits auch Zugänge zu anderen inneren Räumen eröffnete – man konnte sich von ihrer Realität selbst überzeugen – und andererseits das Gemeinschaftsgefühl stärkte.

Die religiöse Grunderfahrung ist vermutlich lange Zeit gewesen, dass man sich von höheren Mächten umsorgt und in ihrer Gemeinschaft geborgen fühlte, man konnte vieles abgeben, für was man heute die Verantwortung übernehmen muss oder auch nur meint, es zu müssen.