Nachdem man eine Zeit lang zuversichtlich beobachtete, dass der Intelligenzquotient in westlichen Gesellschaften aufgrund besserer gesellschaftlicher Bedingungen mit jeder Generation steigt (Flynn-Effekt führt dies auf Ernährung, Bildung, medizinische Versorgung zurück), werden in den letzten Jahren kritische Stimmen laut. Wie es scheint, werden wir immer dümmer. Von einer abnehmenden Intelligenz ist die Rede. Studien deuten darauf hin, dass unser Intelligenzquotient sinkt. Andere sagen, alles halb so wild.
Ein wissenschaftlicher Konsens, inwiefern eine Zu- oder Abnahme unserer Intelligenz die menschliche Spezies voranbringt oder gefährdet, bleibt aus. Womöglich steckt in jeder Annahme ein Körnchen Wahrheit.

Immer bequemer, immer dümmer?

Ein Mann aus dem Antiken Griechenland könne uns heutzutage locker das Wasser reichen, mehr noch: Er würde uns intellektuell überbieten. Dies behauptet zumindest Entwicklungsbiologe Gerald Crabtree.
Crabtrees Analysen brachten ihn zu der Schlussfolgerung, dass die Menschen eine überaus kognitiv fragile Spezies seien, die ihren geistigen Höchststand vor etwa 2000-6000 Jahren gehabt hätte. Metaanalytische Schätzungen der Freien Universität Brüssel über US-amerikanische und britische Studien mit 202.924 Personen scheinen dies zu bestätigen und prognostizieren zukünftige Verluste im IQ pro Dekade. »The drop is around 7 to 10 IQ points per century«, sagt Michael Woodley von der Brüsseler Universität und untermauert damit, dass offenbar unser Intelligenzquotient sinkt.

Intelligenzquotient sinkt? Mögliche Gründe

Papierlampe verschlungen, indirektes Licht

Das psychologische Konstrukt der Intelligenz bietet sehr viele Facetten. (All changes made to the image settings are applied to the selected photo only.) © BenFrantzDale under cc

Neben der evolutionsbiologischen These des mangelnden Überlebenskampfes, bei welchem kognitive Spitzfindigkeiten gefragt waren, um etwa Beutetiere zu erlegen oder vor Raubtieren zu flüchten, könnten seitens der Forscher weitere mögliche Aspekte, genetische und umweltbezogene, ursächlich sein.

Vorsicht, ein Tiger! Versus: Wie räume ich den Spüler ein?

In Sicherheit vollführen die meisten von uns immer gleiche Tätigkeiten, welche unseren Intellekt nicht sonderlich herausfordern. Zu überlegen, welche Mahlzeit zubereitet werden sollte, oder beim Geschirr spülen auf die Teller zu starren, kann nicht als intellektuelle Meisterleistung gewertet werden. Die natürliche Selektion bei unseren Vorfahren führte dazu, dass wir von hohem kognitiven Nutzen profitieren können. Fähigkeiten wie vorausschauendes Denken beim Schach oder Kreationen in der Architektur sowie technologische Innovationen fallen dabei als »Nebenprodukte« ab.

Nun ist der durchschnittliche Intelligenzquotient entsprechend der Normalverteilung eben ein durchschnittlicher. Einzelne »Überflieger« dürfen nicht darüber hinwegtäuschen, wie es um die Intelligenz der Mehrheit bestellt ist und dass allem Anschein nach unser Intelligenzquotient sinkt. Der Anbau von pflanzlichen Nahrungsmitteln genauso wie die Tierhaltung ließen den menschlichen Geist träger werden, so die evolutionsbiologische Annahme.

Aktuelle Bevölkerungszusammensetzung

Andere Ansätze sehen einen Zusammenhang zwischen sinkendem Intelligenzquotienten und den aktuellen Lebensbedingungen, die Einfluss auf die Bevölkerungszusammensetzung nehmen. Zum einen, so die Überlegung, könnte ein möglicher Grund sein, dass durch die bessere medizinische Versorgung breitgefächerte Überlebensvorteile entstehen, kurzum: Viele Menschen können länger leben. Während Erfahrungen und Weisheit im Alter reichhaltiger sein können, nimmt die fluide Intelligenz bereits ab dem 20. Lebensjahr stetig ab, was sich auf den durchschnittlichen IQ einer Gesellschaft auswirken könnte. Auch wird ursächlich festgestellt, dass klügere Frauen im Schnitt weniger Kinder bekommen, was sich ebenfalls beeinflussend auswirken kann. Allerdings scheint die Datenlage zu gering, um aussagekräftig zu sein. Auch ist man bisher uneins darüber, inwiefern sich Mobilität und Globalisierung sowie die damit zusammenhängenden Veränderungen in der Populationszusammensetzung auswirken können.

Darüber hinaus könnte es noch viele weitere Faktoren geben, die einer Intelligenzsteigerung im Wege stehen. Selbst wenn sie auf den ersten Blick kühn erscheinen mögen, sollte ein hypothetischer Zusammenhang zumindest nicht von vornherein ausgeschlossen werden: wie zum Beispiel die zunehmende Verbreitung von Parasiten wie Toxoplasma gondii. Dabei handelt es sich um Parasiten, die nach neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen auf Gehirn und Verhalten Einfluss zu nehmen scheinen.

Wie steht es mit unserer Bildung?

Universum, Einstein Spruch, Stupidity

Über die Unendlichkeit des Seins (All changes made to the image settings are applied to the selected photo only.) © rstrawser under cc

Folgt man den Studienergebnissen zur Intelligenzabsenkung in den letzten Jahrzehnten, scheint offenbar ein gut strukturiertes, langjähriges Schulsystem nicht vor etwaiger »Verdummung« zu schützen. Seit vielen Jahren fordern einige Politiker, Psychologen sowie auch Lehrer eine bessere Anpassung der Lerninhalte: weg von sturem Auswendiglernen und Herunterbeten der Inhalte (Anpassungen, welche auf ein Gesellschaftssystem der letzten beiden Jahrhunderte orientiert sind), hin zu Herausforderungen, die kreative, unkonventionelle, praktisch bezogene Lösungsansätze erfordern (Herausforderungen, welchen wir in diesem Jahrhundert begegnen werden).

Dabei scheint der kindliche Geist durchaus hochbegabt zu sein, ehe er in das institutionelle Bildungsräderwerk unserer Gesellschaft gerät, wie zum Beispiel der Neurobiologe und Hirnforscher Prof. Gerald Hüther proklamiert. Auch die Bundesregierung unterstützt einen digitalen Wandel an den Schulen und will die Fähigkeiten der Lehrer im Umgang mit den Medien stärken, um eine bessere Wettbewerbsfähigkeit der Schulabgänger auf dem Weltmarkt zu erreichen.

Was messen Intelligenztests?

Natürlich darf auch die diagnostische Betrachtung bei einer solch provokanten These (»Werden wir immer dümmer? Unser Intelligenzquotient sinkt!«) nicht vernachlässigt werden. Zum einen, messen verschiedene Intelligenztests oft verschiedene Arten von Intelligenz. So beziehen sich manche zum Beispiel auf die Messung des Kurzzeitgedächtnisses, andere wiederum auf die Messung des Arbeitsgedächtnisses mit der Verarbeitung von Informationen, dem schlussfolgernden Denken und der Entscheidungsfindung. Das Konstrukt der Intelligenz wird unter Psychologen breit diskutiert.
Hinzu kommt, dass im Laufe der Jahre die IQ-Tests anspruchsvoller geworden sind. Allerdings besteht auch die Möglichkeit, sich mit den Aufgaben online vertraut zu machen und diese zu üben.

Während die IQ-Scores beim Kurzzeitgedächtnis analog zum Flynn-Effekt mit jeder Generation zu steigen scheinen, nehmen die Scores beim Arbeitsgedächtnis offenbar ab. Hier wäre demzufolge eine »Nachjustierung«, also Verbesserungsbedarf, von Nöten.
Demgegenüber untermauern andere Metaanalysen den Flynn-Effekt, also eine Intelligenzsteigerung über die vergangenen Dekaden unabhängig von Alter und Kenntnisstand.
Insgesamt bedarf es also noch weiterer Forschung dazu, welche das Konstrukt der Intelligenz, die Populationszusammensetzung und andere mögliche Kovariablen spezifiziert.

Ob Intelligenzsteigerung oder -minderung, eines scheint jedenfalls festgeschrieben zu sein: Wie die Bundeskanzlerin in der Berliner Runde zur Bundestagswahl 2017 betonte, stehen wir derzeit vor dem bedeutendsten Umbruch beziehungsweise der größten Herausforderung der Menschheitsgeschichte: dem digitalen Wandel. Es stellt sich die Frage, ob die fortschreitende Technologisierung unsere Bequemlichkeit oder unsere Intelligenz forcieren wird, im Konkurrenzkampf der Arbeitswelt 4.0 – hoffen wir, dass zukünftig nicht unser Intelligenzquotient sinkt.

Quellen