Neben den individuellen Kränkungen, die wir zuletzt untersuchten, gibt es es auch kollektive Kränkungen und damit sind solche gemeint, die die ganze Menschheit betreffen sollen. Ob die Kränkungen der Menschheit dann tatsächlich immer alle kränken, wird zu untersuchen sein.
Die drei Kränkungen der Menschheit
Die Idee, dass es kollektive Kränkungen gibt verdanken wir Sigmund Freud, der bestimmte Konsequenzen seiner Psychoanalyse als eine der drei großen Kränkungen der Menschheit ansah. Die erste Kränkung sei jene gewesen, dass die Erde nicht den Mittelpunkt des Universums darstellt, die kosmologische Kränkung, die uns Kopernikus zufügte. Die zweite, biologische Kränkung, brachte uns Darwin bei, nämlich die Idee, dass der Mensch kein göttliches Produkt sei, sondern eines aus der evolutionsgeschichtlichen Ahnenreihe der Tiere. Die dritte, psychologische Kränkung, schließlich stammte von Freud selbst, in der Erkenntnis, dass der Mensch nicht einmal Herr im eigenen Haus sei und gemeint ist hier das psychische Haus. Freud berührt hier die Frage nach der Willensfreiheit.
Weitere kollektive Kränkungen
Freuds postulierten Kränkungen wurden weitere zugefügt. Es ist vor allem der studierte Physiker und Philosoph Gerhard Vollmer, der Freud, mal mehr, mal weniger gelungen, kritisiert und uns, in einem Text von 1994 auf weitere Kränkungen der Menschheit hinweist. So besagt die ökologische Kränkung, dass der Mensch zum einen in die Biosphäre eingebunden und zum anderen, von ihr abhängig sei.[1]
Doch nicht nur der Körperbau des Menschen, auch sein Verhalten entstammt direkt dem Tierreich. Diese Erkenntnis der vergleichenden Verhaltensforschung nennt Vollmer hier die ethologische Kränkung. Als weitere Kränkungen fügt er die an, dass der Computer intelligenter werden könnte als der Mensch und die neurobiologische Kränkung, die in der Erkenntnis liegt, wie weitreichend Bewusstseinsprozesse mit neurobiologischen Prozessen interagieren.[2] Auch von weiteren Kandidaten für die Kränkung der Menschheit hört man hier und da.[3]
Nun haben wir zu Beginn der Jahrtausendwende eine jahrelange und intensive Debatte um die Neurobiologie, ihre Möglichkeiten und Grenzen, insbesondere um einen neurobiologischen Determinismus erlebt. Ein teilweise recht erbittert geführter Streit, nicht immer auf hohem Niveau, der jedoch zu der Möglichkeit einer grundsätzlichen Neuausrichtung auf diesem und jenem Gebiet führte.
Man muss den Lesarten der Neurobiologen oder Hirnforscher nicht in allem zustimmen, zumal es mitunter gravierende Deutungsunterschiede innerhalb der eigenen Fraktion gibt und kann doch viele Aspekte ihrer Forschung wertschätzen. Die Verbesserung der bildgebenden Verfahren, insbesondere des fMRT erlauben den Neurobiologen Einblicke in die Arbeit des Hirns (eigentlich nur auf die Durchblutungssituation) in Echtzeit. Auch hier gäbe es noch viel zu sagen, doch belassen wir es dabei, dass es beachtliche technische Fortschritte und demzufolge große Mengen an Vergleichsdaten gibt.
Der kränkende Charakter von Erkenntnissen
Was macht eigentlich den kränkenden Charakter der oben genannten Erkenntnisse aus? Wenn eine Kränkung ein Ärgernis, verbunden mit Traurigkeit ist, eine Enttäuschung des Selbst- und auch des Weltbildes, dann liegt die kollektive Kränkung darin, dass der Mensch von seinem vermuteten Platz, als Krone der Schöpfung verdrängt wurde. Der Mensch, nicht mehr ein Sonderwesen, kein geniales Produkt eines weisen und gütigen Gottes mehr, sondern bestenfalls ein primus inter pares, wenn überhaupt?
Gewiss war die Erkenntnis vom Menschen als Produkt einer auf natürlicher Auslese beruhenden Evolution ein Schock für viele und die Schockwellen sind mitunter bis in unsere Zeit und über unserer Kulturkreis hinaus zu vernehmen. Aber war es das für alle? Wir wissen gar nicht, wie gottesfürchtig der um seine Ernte besorgte Landwirt oder der Arbeiter in der industriellen Revolution tatsächlich war, weil wir allgemein nicht genau wissen, wie gottesfürchtig die Menschen damals überhaupt waren. Wie intensiv haben sie überhaupt über die Stellung des Menschen im Kosmos nachgedacht? Selbst ob die an den Religionskriegen beteiligten Soldaten immer im gefühlten Auftrag Gottes unterwegs waren oder ob nicht auch hier und da andere Motive eine Rolle spielten, darüber kann man nachdenken. Aber gleich, wie man es bewertet, für einige Gelehrte waren die wissenschaftlichen Erkenntnisse sicher eine Kränkung und das nicht nur, aufgrund eines zu befürchtenden Machtverlustes.
Die beschriebenen Kränkungen haben alle eine Gemeinsamkeit und die besagt: Mensch, die Wissenschaft hat herausgefunden, dass es ganz anders ist, als du denkst, ganz anders, als die Tradition es dir gesagt hat.
Die Kränkungen der Menschheit sind alle wissenschaftlich-technischer Natur und damit ist nicht nur eine Arbeitsweise gemeint, sondern wissenschaftlich-technisches Weltbild. Und dieses Weltbild ruft uns durch die Jahrhunderte ein lautes „Nein“ zu, es enttäuscht die traditionalistischen und religiösen Vorstellungen des einen oder anderen Menschen durch immer neue Paukenschläge. Aber trifft und erschüttert das wirklich alle? Haben wir vergessen, wie definitiv bis angewidert der Arzt und Dichter Gottfried Benn mit der „Krone der Schöpfung“, in seinem Gedicht Der Arzt II abgerechnet hat, vor fast 100 Jahren?
Und sind wir nicht bei aller vermeintlichen oder tatsächliche Gekränktheit seit einigen Jahren auch Zeuge einer Gegenbewegung? Die Botschaft war bisher so: Du denkst, du stündest im Mittelpunkt? Quatsch. Seist anders als ein Tier? Unsinn. Könntest tun, was du willst? Nix da. Die Natur bräuchte dich? Du brauchst sie. Nur du verfügtest über ein Ich und Intelligenz? Auch Krähen können da mithalten. Zuletzt wurde sogar noch unsere politische, moralische und sonstige gefühlte Überlegenheit infrage gestellt.
Nach all diesen Degradierungen, Zurechtstutzungen und narzisstischen Kränkungen möchte man fragen, wo die ganzen Narzissten heute noch her kommen, aber einer möglichen Antwort hierauf sind wir hier und hier nachgegangen. Die Gegenbewegung sieht so aus, dass die Dauerbotschaft: Du irrst, es ist ganz anders, heute, aus dem Lager Wissenschaft, zum Beispiel der Neurowissenschaft ein Stück weit revidiert wird.