Was sind eigentlich Erzählungen?
Unter Erzählungen versteht man landläufig Märchen und Geschichten, etwas, was mehr oder weniger erfunden ist. In der Philosophie versteht man darunter eine Art Sichtweise, eine konsistente (= logisch in sich geschlossene) Sichtweise. Und so ist Geschichtsschreibung eine Art Erzählung, aber auch Mythen sind es und irgendwie auch die Wissenschaft. Menschen, die der naturwissenschaftlichen Sichtweise anhängen würden das bestreiten. Für sie bezieht sich die Wissenschaft auf nachprüfbare Fakten. Und anhand dieser Fakten entsteht dann eine Theorie. Ein sehr interessantes Ping Pong Spiel, das auch auf höherem Niveau nicht endet. Denn gegen eine ausufernde postmoderne Interpretation, die unterschiedslos alles als gleichranginge Erzählung oder Text ansieht, gibt das Buch „Eleganter Unsinn“ eine starke Antwort.
Doch eigentlich ist es noch anders. Tatsachen oder Fakten sind Ereignisse, die sich aus einer bestimmten Sichtweise heraus erst ergeben. Es ist schön und überzeugend, wenn sich aus bestimmten Theorien Vorhersagen ableiten lassen, die dann in der Praxis bestätigt werden. Mit Einstein konnte man vorhersagen, dass das Licht eines Sternes von dem vorbeiziehenden Planeten Merkur abgelenkt werden würde. Ein Erdrutsch, da durch diese Ereignis, vor 100 Jahren, Vorhersagen der allgemeinen Relativitätstheorie verifiziert werden konnten.
Schwer das als bloße Erzählung anzusehen, da es sich ja auf etwas bezieht, was stimmt. Doch auch die Religionen, die Psychologie, die Philosophie und andere Sichtweisen haben ihre Erzählungen. Und auch diese können uns Antworten geben, die zum Teil stimmen. Und nun ist die spannende Frage, ob es eine Erzählung gibt, die am Ende übrig bleibt. Das wäre zum Beispiel dann der Fall, wenn in einer Erzählung alle anderen – ohne, dass diese großen Bedeutungsverlust und ohne große Verzerrungen zu erfahren – vorkommen, Platz haben.
Die Kandidaten
Kandidaten für eine solche alles überragende Theorie ist zum einen die Physik. Wenn man etwas von der Weltformel hört, so soll das, falls sie gefunden wird, eine physikalische Formel sein. Denn, so die Überzeugung dahinter, irgendwie ist ja alles Physik. Die Frage ist nur, ob uns dieses Wissen tatsächlich etwas nützt. Konkret: Ist wirklich alles auf die Sprache der Physik zurückzuführen? Liebe und Güte, aber auch Hass und Neid oder die Kriterien der Qualität eines Liedes oder Bildes?
Das ist eher nicht der Fall, aber selbst, wenn dem so wäre: Was würde es uns für Vorteile bringen, wenn wir das, was wir in gewöhnlicher Sprache sagen können, nun in die Sprache der Physik zu übersetzen wäre? Wo genau läge da der Erkenntniszuwachs?
Ein anderer Kandidat für eine alles überragende Theorie ist die Mathematik. Hier hinter steht die Idee, dass alles in der Welt irgendwelchen statistischen Mustern oder Algorithmen folgt, aber wie weit das tatsächlich der Fall ist, ist eher Spekulation. Wie im Beitrag „Die Datenflut: Wenn Wissen in Nichtwissen kippt“ ausgeführt, hat man derzeit mehr mathematische Theorien als Möglichkeiten diese zu testen, was Wissenschaftler schon dazu brachte, die Kosmologie (die mit diesem Modellen arbeitet) nicht mehr als ernsthafte Wissenschaft zu bezeichnen. Denn es gibt inzwischen weit mehr Modelle über das Universum, als Möglichkeiten, diese Modelle empirisch zu testen und für viele ist das Experiment das Herzstück der Wissenschaft.
Für wieder andere ist Gott das, was bleibt. Analog zur obigen Argumentation behaupten manche religiöse Menschen, die Wissenschaft und die Philosophie, ja die ganze Rationalität seien alle Menschenwerk und daher nicht in der Lage Gott zu erfassen. Gott ist einfach mehr und unsere Mittel sind unzureichend.
Das kann sein, oder auch nicht. Als Argument ist es allerdings schwächer, als man zunächst meint, denn ein Argument will ja überzeugen. Und das tut es nicht, denn es stellt eine bloße rationale Behauptung auf. Ich weiß, dass es so ist. Aber woher? Kann dieser Mensch Gott erfassen? Dann ist das Instrumentarium des Menschen ja doch zureichend und seine Behauptung falsch. Oder kann er es nicht? Dann spekuliert er nur und weiß nicht, worüber er redet. Warum sollten wir ihm glauben?
Wissenschaftliche Mythen
In der Konsequenz bedeutet all das, dass auch diejenigen, die sich auf wissenschaftliche Bilder und Theorien berufen, sich auf Glaubenssätze oder wie es in der Philosophie heißt, Präsuppositionen (Vorannahemen) berufen. Man spekuliert darüber, wie die Natur ist: ein physikalisches Ganzes, ein mathematisch beschreibbares Ganzes, ob sie bottom up funktioniert (das Große ergibt sich aus den Bedingungen des Kleinen) oder top down (das übergeordnete reguliert kleinere Einheiten) und so weiter. Lauter Vorannahmen, die man eingeht, bevor man das betrachten kann, was dann auf einmal als „reine Fakten“ erscheint. Abgesehen davon, dass der Naturbegriff ziemlich unklar ist.
In der Kosmologie ist ein Streit über die Beschaffenheit des Universums ausgebrochen. Wenige Schlaglichter dazu: Gibt es ein Universum oder viele Multiversen? Gibt es dunkle Materie und dunkle Energie oder nicht? Doch der Streit ist noch grundsätzlicher, wie oben ausgeführt: Sind Computermodelle noch Wissenschaft?
Auch das Weltbild der Hirnforschung ist ein Mythos, bei dem man unendlich viele Vorannahmen akzeptieren muss, bevor man zu den angeblich reinen Fakten vordringt. Die Idee, dass der Mensch keinen freien Willen besäße, ergibt sich überhaupt erst, wenn man akzeptiert hat, dass das Gehirn des Menschen all sein Verhalten steuert und dies ohne bewusste Interventionsmöglichkeiten vor sich geht. Dann erst kommt man zu der Idee, dass das Hirn ein Naturprodukt ist, das einzig und allein aufgrund von Naturgesetzen funktioniert, dass demzufolge naturgesetzliche Ursachen alles sind und Gründe nicht viel zählen.
Dann erst schaut man sich die bunten Bilder an, wobei die Probleme hier direkt weiter gehen, denn ich sehe nicht wo oder wie „es denkt“, sondern blicke auf eine Durchblutungssituation und darin steckt die Idee: viel Durchblutung = viel Aktivität = da denkt es. Von Problemen im Rahmen der Bildgebung und ihrer beliebigen Falschfarbendarstellung mal ganz abgesehen. Denkt es erst dort wo es rot wird oder schon da, wo es orange ist? Und warum eigentlich?
Wie immer man im Einzelfall dazu steht, eines ist der Blick auf die „reinen Fakten“ der Hirnforschung mit Sicherheit nicht. Frei von vorher zu akzeptierender Theorie. Und das ist der Punkt um den es geht. Zu sagen, „Ja, aber das ist doch Wissenschaft“ bringt hier nichts, weil es auf ein Bekenntnis rekurriert, aber mehr erst mal nicht.
Parallele zu Kohlbergs Zwischenstufe 4 ½
Lawrence Kohlberg führte bei seiner Untersuchung der Moralpsychologie nachträglich noch eine Zwischenstufe ein. Charakteristisch für diese Stufe ist, dass sie die konventionellen Normen infrage stellt und am liebsten vieles anders machen würde, aber noch keine konsistente Theorie entwickelt hat, die hinreichend ist, um das dann auch zu entwickeln und druchzuhalten. Der kritische Geist ist wach, aber noch nicht klar und weitsichtig.
Was gefordert ist, ist eine Syntheseleistung oder die Erkenntnis, dass man pragmatisch und je nach Fragestellung das Betrachtungsfeld wechseln kann. Was nicht gefordert ist, ist einfach nur gegen etwas zu sein, ohne eine Verbesserung vorzuschlagen. Und noch weniger, ideologisch, bei (s)einem System zu bleiben und es dadurch zu peppen versuchen, dass man es wissenschaftlich nennt.
Moderne Mythen
Moderne Mythen gibt es viele. Man braucht nicht an Odin, Zeus oder das Christentum zu denken, wenn man von Mythen hört. Ein Mythos ist eine Heilslehre und mit einem Ziel verbunden. Wenn alle nur dies oder das täten, so die mythische Überzeugung, wäre die Welt ein besserer Ort. Wenn nur alle Christen wären oder Atheisten. Wenn alle sich vegan ernähren oder täglich meditieren würden. Oder wenn der Neoliberalismus sich durchsetzen würde oder endlich ganz weg wäre.
Mythisch-rational sind alle diejenigen, die zwar bestimmte alte Mythen überwunden haben und oft sogar lautstark gegen diese polemisieren, aber dennoch nicht bereit sind ihre Lieblingsidee zu opfern, auch wenn die Tatsachen oder gute Argumente eine andere Sprache sprechen. Sie verlassen ihren Standpunkt nicht, oft wohl, weil sie sich gar nicht vorstellen können, dass es abseits ihres Standespunktes noch eine andere vernünftige Sichtweise geben kann. Sie argumentieren mit der Folgerichtigkeit ihres Standpunktes, was manchmal sogar stimmen mag, aber die Überraschung liegt darin, dass auch andere Sichtweisen, wenn man ihnen folgt, ebenfalls in sich schlüssig sind. Innere Logik und Folgerichtigkeit allein, sind demnach nicht ausreichend als Argument.
Mythisch-rationale Menschen können sehr intelligent sein und geschickt argumentieren, letztlich gehen sie jedoch immer davon aus, der andere habe unrecht, weil er ihre Prämissen nicht übernimmt, die doch folgerichtig sind. Und dann versucht er mit allerlei mehr oder weniger geschickten Versuchen den anderen von seinen Prämissen zu überzeugen. Statistiken; berühmte Leute, die auch so denken; Zitate und Appelle und immer häufiger Videos, die den vermeintlich Dummen erklären sollen, wie ihre Vorstellung von der Welt ist und warum man falsch liegt, wenn man sie nicht teilt. Das ist Missionierung, der erkennbar mythische Zug dieser Sichtweise.
Doch wenn die innere Folgerichtigkeit nicht ausreicht und es verschiedene Arten gibt, wie man die Welt betrachten kann, wie kann man denn dann tatsächlich erkennen, welche Sichtweise besser und welche schlechter ist? Das untersuchen wir demnächst.
Quellen:
- [1] Ken Wilber, Eros Kosmos Logos, 1995, dt Wolfgang Krüger Verlag 1996, S. 220 – 226
- [2] Peter Sloterdijk, Du musst dein Leben ändern, Suhrkamp, 2009, S.9