Gibt es ein Ende der Geschichte, wenigstens der menschlichen Entwicklung? Und gibt es Verschmelzungen und Einheitserfahrungen, die nicht nur ungefährlich, sondern vielleicht sogar gesellschaftlich und individuell progressiv sind?
Wenn es stimmt, dass Verschmelzungen und Einheitserfahrungen kein, leider noch nicht ganz überwundener Quatsch sind, sondern das Salz in der Suppe, die Kirsche auf der Sahne, dann sollten wir verstehen, was sie dazu machen und ebenfalls, wie wir sie erreichen können. Im ersten Teil hatten wir verschiedene Wege zu diesen Erfahrungen vorgestellt: Drogen, Sex, Flow-Erfahrungen in Hobbys, beim Sport, aber auch der Schlaf oder die vielen Tagträume sind Wege, die uns das Leben versüßen, aber gleichzeitig gesellschaftlich nicht hoch im Kurs stehen.
Erst kommt die Arbeit, dann das Vergnügen, zu viel davon ist sowieso nicht gut. So meinen es viele zu wissen. Wer Glück als Lebensziel hat, der ist ein Phantast, ein Spinner, eine, mit der was nicht stimmt. Da scheint es einen Bruch zwischen Gesellschaft und Individuum zu geben. Die Psychologie kennt diesen Bruch sehr gut, in einer seiner kraftvollsten Schriften formulierte Sigmund Freud, was ‚Das Unbehagen in der Kultur‘ ausmacht, es ist der stille Handel zwischen Individuum und Gesellschaft, in dem der individuelle Triebverzicht die Eintrittskarte in die Gesellschaft ist, die sich imit Schutz und Zugehörigkeit erkenntlich zeigt.
Aber irgend etwas geht da nicht mehr auf, der Handel scheint nicht mehr so gut zu funktionieren. Oder es gibt noch einen anderen Bruch? Die Wege zu Einheit und Verschmelzungen zu erfahren beschränken sich nicht auf das Individuum allein, sondern auch auf Erfahrungen in der Gruppe oder Masse. In der Kooperation mit anderen kann man die beglückende Erfahrung machen, wie es ist mit anderen an einem Strang zu ziehen und gemeinsam Probleme zu lösen, Ziele zu erreichen. In der milden Entspannung mit anderen, im Konzert oder Stadion oder bei einet Liveübertragung kann man gemeinsam für eine Zeit regredieren. Man findet in dieser Zeit Entspannung vom Ich und steht als Einzelner nicht im Fokus und kann in diesem Rahmen Dinge tun und sagen, die am nächsten Tag, bei der Arbeit oder im Supermarkt hochgradig auffällig wären. Beim Länderspiel kann man so richtig aus sich rausgehen, aber umarmen Sie mal jemanden jubelnd im Geschäft, weil er die Suppe gekauft hat, die Sie auch so gerne mögen. Doch die Regression in der Masse kennt weitere Stufen und auch das Gefühl Teil einer besonderen Schicksalsgemeinschaft zu sein, kann erhebend sein. Verkannt und vielleicht umstellt von Idioten und Aggressoren, aber gerade deshalb ist man ja anders, nämlich auserwählt, besonders. Diese Einstellung ist für den Zusammenhalt der Gesellschaft nicht so toll, aber für den Einzelnen ein durchaus vitalisierendes Gefühl. Quasi über Nacht zählt man zur Elite, weil einem die Augen geöffnet wurden und man nun endlich erkennt, wie die Dinge wirklich laufen. Das fühlt sich super an und dass andere denken, man hätte eine Schraube locker, gehört dazu: Man versteht ja ihren Irrtum. Man war ja auch so.
Wenn also Verschmelzungen und Einheitserfahrungen das sind, was wir einerseits dringend brauchen, aber nicht alle Formen davon wirklich toll sind, dann lohnt es sich vielleicht darauf zu schauen, von welchen denn das Individuum und die Gesellschaft profitieren. Gesucht werden also Wege, die dem Individuum mehr oder weniger regelmäßigen Zugang zu bestimmten entspannenden, Sinn und Orientierung gebenden Empfindungen geben, wenn nicht sogar zu Gipfelerfahrungen. Am besten solche, die der Gesellschaft (oder sogar der Weltgemeinschaft) nicht schaden, sondern nutzen. Drogen und Faschismus wären also vielleicht keine idealen Kandidaten.
Das Ende der Geschichte 1.0
Das Ende der Geschichte war der Titel eines Buches des US-amerikanischen Politikwissenschaftlers Francis Fukuyama, in dem er darzustellen versuchte, dass sich Demokratie und Marktwirtschaft als die weltweit überlegenen Strategien erweisen werden. Das Ende der Geschichte ist aber inzwischen Geschichte. Der Wunsch nach sozialer Anerkennung würde in der liberalen Demokratie und Marktwirtschaft optimal befriedigt, wesentliche Neuerungen seien daher nicht mehr zu erwarten.
Gerade der Verlust sozialer Rollen und Anerkennung ist aber eklatant in unserer Zeit, die Gesellschaft zersplittert zusehends in Subsysteme, man glaubt nicht mehr daran, dass die nächste Generation es mal besser haben wird. Vielen ist Anerkennung viel wert. Sie würden gerne auf Teile ihres Lohns verzichten, wenn sie nur mal gelobt, wertgeschätzt und überhaupt wahrgenommen werden würden. Ehrlich wertgeschätzt, nicht der flotte Spruch im Vorbeigehen.
Wertschätzung ist die Anerkennung einer Leistung oder Haltung eines Menschen, durch die Gemeinschaft oder deren exponierte Vertreter. Wertschätzung kann man sich verdienen. Die einfachste Form ist, wenn man so funktioniert, wie die Gesellschaft es wünscht. Dann ragt man zwar nicht heraus, aber das will auch nicht jeder, man fällt aber auch nicht durchs Gitter. Ausgestoßen zu sein, war für uns soziale Wesen schon immer eine der härtesten Strafen überhaupt. Das ist anstrengend, umso mehr, wenn man ein Gefühl des Defizitären oder Minderwertigen verinnerlicht hat oder gespiegelt bekommt.
Auch hier hilft Entspannung von dem Druck. Die liebe Regression, als Kontrast zur harten und kalten Realität. Bett, Badewanne, Fernseher, Alkohol, Sex und Träume, das sind Orte und Möglichkeiten des Rückzugs. Wie auch das Stadion. Man muss nichts Besonderes leisten, es reicht sich ein Stück weit mit dem Verein zu identifizieren. Analog in einer Religion. Ein bisschen geregelt ist auch das, ein echter Fan oder Gläubiger ist auch bereit Opfer zu bringen und das wird auch von der Gemeinschaft erwartet. Oder bei der Arbeit, wobei man sich hier schon wieder ordentlich abstrampeln muss und die Anerkennung, wie gesehen, keineswegs immer erfolgt.
Demokratie und Marktwirtschaft scheinen bestimmte Bedürfnisse und wohl vor allem die nach sozialer Anerkennung nicht sonderlich zu befriedigen. Diese werden aber von Menschen dringend gebraucht, leider wird immer mehr Menschen Anerkennung und Aufmerksamkeit oft kategorisch verweigert. Man gibt ihnen viel mehr das Gefühl überflüssig zu sein. Es ist auch sonnenklar, wie das geändert werden kann, nämlich, indem man Menschen eine wertgeschätzte Rolle zuspricht, die sie aufwertet. Extremisten haben das längst begriffen und tun genau das. Sie versorgen die gesellschaftlich Marginalisierten mit einem ganz anderen Rollenbild, in dem ein Attribut – oft sogar das, für welches sie ausgegrenzt werden – überhöht und idealisiert wird. Nicht obwohl man so und so ist, ist man ein besonderer Mensch, sondern weil.
Gibt es diese Möglichkeiten auch in nicht regressiver Form, dass man erlebt dazu zu gehören?
Der Mythos und das Wir-Gefühl
Der gemeinsame Glaube an etwas löst ein Wir-Gefühl aus. Klassisch resultiert diese Gemeinsamkeit eher aus dem, was man in dieser Gemeinschaft tut, als aus einer Idee. Habermas zitiert hier W.R. Smith und schreibt:
„[I]n fast allen Fällen leitete sich der Mythos aus dem Ritus ab und nicht umgekehrt, der Ritus aus dem Mythos; …“[1] Eine umstrittene Deutung, die nicht restlos aufzuklären ist, Habermas tendiert zu der Auffassung, „dass Mythen die erste Gestalt der Versprachlichung rituell verkapselter sakraler Gehalte darstellen.“[2]
Aber es sind auch Narrative, Überzeugungen und tradierte Siege und Traumata, die eine Nation verbinden. Bei uns war dies unter anderem ein stiller Fortschrittsmythos, in dem die Überzeugung vorhanden war, dass die nächste Generation es mal besser haben wird, was denn sonst? Diese Überzeugung ist nach und nach weggebrochen und hat sich in ihr Gegenteil verkehrt, viele fragen sich ob ihre Enkel noch ein lebenswertes Leben führen können und die Enkel selbst tun es auch. Ein neuer Mythos muss wachsen, man kann ihn nicht verordnen. Wie wir sahen, kann er sogar aus der Praxis erwachsen, in dem Wir diejenigen sind und uns als solche verstehen, die etwas auf eine bestimmte Art machen.
Der Mythos hat den Vorteil ein Ziel zu haben, entweder ein Ideal oder ein real zu verwirklichendes Ziel, an dem man sich orientieren und ausrichten kann. Der Mythos ist mit dem Ritus assoziiert und sollte es auch sein, wieder Habermas:
„Wir müssen beides zusammen sehen: „Framing“, also die Kraft des Mythos zur sprachlichen Welterschließung […] geht Hand in Hand mit „re-enacting“, mit der periodisch wiederholten „Aufführung“ des Mythos. Diese verjüngende und verwandelnde Rückkehr zu einem ursprünglichen Ereignis macht für Mircea Eliade überhaupt des Kern des Sakralen aus: „[D]a die rituelle Rezitation des kosmogonischen Mythos die Reaktualisierung dieses primordialen Ereignisses bedeutet, so folgt daraus, dass der, für den man rezitiert auf magische Weise in ‚jene Zeit‘ projiziert wird, an den ‚Beginn der Welt‘. Es handelt sich also für ihn um eine Rückkehr zur Zeit des Ursprungs […].““[3]
Im Ritus, in der Praxis ist ein Element der Wiederauffrischung verborgen, man vergewissert sich im Ritual immer wieder, dass man Teil des Ganzen und der Gemeinschaft ist. Gleichzeitig kann man aber in diesen rituellen Begegnungen entweder gemeinsam auf die erste Stufe der Regression zurück fallen oder sogar progressiv mit anderen ein Gefühl der Einheit erleben, welches das Ich stärkt, nicht schwächt. So können auf einer kollektiven Ebene Verschmelzungen und Einheitserfahrungen ins Leben eingeflochten werden, zusammen mit Sinn und Orientierung. Doch auf diese kollektive Ebene sind wir in Teil 2 stärker eingegangen, hier soll es um die Möglichkeiten des Individuums gehen.
Erlösung: Mystik oder Psychose?
Meine These ist, dass wir Verschmelzungen und Einheitserfahrungen brauchen und suchen. Sie sind nicht irgendwelche albernen oder infantilen Reste, die wir leider noch nicht aus der Welt schaffen konnten, sondern es sind wunderbare Erfahrungen, die direkt zum Menschsein gehören und diese sollten wir uns nicht nehmen lassen.
Doch nun gibt es ein Problem: Fast alle Einheitserfahrungen werden subjektiv als angenehm empfunden. Sie stellen die Belohnungen des Alltags das, das Außeralltägliche, das Besondere, nicht selten, um den das Pflichtprogramm irgendwie durchzuhalten. Aber nicht alle Verschmelzungen und Einheitserfahrungen sind auch für die Gesellschaft gut. Sich auserwählt fühlende Terroristen sind davon ebenfalls durchdrungen. Ebenso erzählen Mystiker und Psychotiker Dinge, die sich seltsam ähnlich anhören, so ähnlich, dass man argwöhnte, Mystiker seien einfach Psychotiker oder mindestens irgendwie schwer psychisch erkrankt.
Diese Sicht war eine Zeit in Mode, konnte sich aber nie durchsetzen und starke Gegenargumente brachten Autoren wie der Psychiater und transpersonale Psychologe Stanislav Grof oder der integrale Bewusstseinsforscher Ken Wilber vor. Wilber schreibt, man müsse zwischen prä- und transpersonalen und prä- und transrationalen Erfahrungen sorgsam unterscheiden. Grof verweist auf den Unterschied zwischen spiritueller Krise und Psychose. Über Gesundheiten und Pathologien entscheidet immer die Kultur mit, darauf weist er ebenfalls hin:
„Der Inzest beispielsweise, der in den meisten ethnischen Gruppen verabscheut worden ist, wurde in so hochentwickelten Zivilisationen, wie der der alten Ägypter und der der peruanischen Inkas vergöttlicht. Die Homosexualität, der Exhibitionismus, der Gruppensex und die Prostitution sind in bestimmten Kulturen voll und ganz akzeptiert, ritualisiert oder sakralisiert worden. Während bestimmte ethnische Gruppen wie beispielsweise die Eskimos der Partnertausch praktizierten und andere eine allgemeine Promiskuität guthießen, wurde in anderen der Ehebruch mit dem Tode bestraft. Der strikten Beachtung des Monogamieregel in manchen Gesellschaften lässt sich die Billigung von Vielweiberei und Vielmännerei in anderen gegenüberstellen.
Während manche Gruppen die Nacktheit als etwas Natürliches betrachten und den Geschlechtsakt bzw. die Entleerung von Darm und Blase auch vor den Augen anderer praktizieren, zeigen andere Abscheu vor physiologischen Grundfunktionen und vor Körpergeruch oder bedecken den ganze Körper einschließlich das Gesicht. Sogar Kindermord, Mord, Selbstmord, Menschenopfer, Selbstopferung, Verstümmelung, Selbstverstümmelung oder Kannibalismus waren in machen Kulturen vollkommen akzeptiert und in anderen glorifiziert und ritualisiert. Viele der sogenannten „kulturgebundenen psychiatrischen Syndrome“, sehr ungewöhnliche Formen des Erlebens und Verhaltens, die speziell in bestimmen ethnischen Gruppen zu beobachten sind, lassen sich kaum als Krankheiten im psychiatrischen Sinne interpretieren.“[4]
Über all das könnte und müsste man lange diskutieren. Was nun eindeutig prärational ist, wie zum Beispiel die Unfähigkeit Dinge differenzieren oder bestimmte komplexere Gruppenmerkmale überhaupt erfassen zu können, kann man gut markieren, aber was ist eindeutig trans- oder postrational? Was ist eine höhere Einsicht, eine authentische, spirituelle Erfahrung? Theoretisch ist das schon schwer festzumachen, praktisch ist es aber noch schlimmer.
Der Realitätsverlust gilt als das entscheidende Kriterium der Psychose. Dieser Realitätsverlust bezieht sich weniger auf den Inhalt des Erlebten – davon rückt man immer mehr ab – als viel mehr auf die Fähigkeit einschätzen zu können, wie das was man sagt, wohl auf andere wirkt. In Das Atman-Projekt beschreibt Wilber den Mystiker Ram Dass, der einen Psychiatriepatienten besucht, der glaubt eine Christuserfahrung zu haben. Ram Dass bezeichnet die Empfindung des Patienten als authentisch, aber dieser denkt, einzig und allein er, der Patient, könne diese Erfahrung machen, während Mystiker davon ausgehen, jeder sei in Lage diese Erfahrungen zu machen.
So wurde mit der Zeit die Frage relevant auf welche psychische Struktur eines Menschen eine spirituelle Erfahrung trifft und es entstand das Wilber-Combs-Gitter in dem außergewöhnliche, spirituelle und/oder mystische Bewusstseinszustände in einen Zusammenhang mit dieser inneren Struktur gesetzt werden. Die Kernbotschaft ist, dass man nicht sagen kann, dass spirituelle Erfahrungen generell heilend, großartig oder gefährlich sind, sondern es kommt eben drauf an, welche Erfahrung auf welchen Menschen trifft. Das kann großartig und horizontweiternd sein, aber auch extrem verwirrend und desorganisierend.
So gibt es immer wieder Berichte davon, dass es Mystikerinnen oft gelang ihr Leiden in eine Botschaft Gottes umzuinterpretieren. Nur war auch diese wohlmeinende Deutung schon eine vor dem Hintergrund, dass wir ‚wissen‘, dass es so etwas ja eigentlich nicht geben kann, also kann die private Sinnzuschreibung helfen resilienter zu werden, aber so richtig interessiert haben die Phänomene kaum jemanden, es blieb auf der Ebene, dass jemand im glücklichen Fall so seine private Pathologie bearbeiten kann.
In Wirklichkeit, das glaubte man zu wissen, ist das alles Hirnchemie und elektrochemische Entladung. Nur kommt man mit diesem Ansatz auch nicht weiter. Gemieden wird zumeist der Blick auf die Praktiken selbst und dem was dort berichtet wird, der Blick auf die Innenschau der tatsächlich Praktizierenden. Zugunsten der Sicht der Psychopathologie (Was für ein Krankheitsbild könnte dahinter stecken?), der Soziologie (dass z.B. ein Mensch Gemeinschaftserfahrungen sucht, wenn er zum Beten in die Kirche geht) und der Neurobiologie, die zu erforschen versucht, welche Bereiche des Hirns besonders durchblutet sind, wenn bestimmte Erfahrungen auftreten.
Magische Praxis und magisches Denken
Magisches Denken beschreibt in der Psychologie ein Beziehungsdenken, das man oft bei Psychosen findet. Bestimmte Eigenschaften eines Menschen oder eines Dings werden nahezu in Gesamtheit auf jemanden oder etwas mit ähnlichen Eigenschaften übertragen. Wenn man also einen Dieb mit Schnäuzer kennt, so folgt daraus, dass jeder, der einen Schnäuzer hat, ein Dieb ist. So funktionieren Vorurteile, bis hinein in den Wahn.
Die magische Praxis geht ebenfalls von diesem Denken in Beziehungen und Analogien aus, nur sind diese eben nicht per se pathologisch. Es ist wie eine eigene Sprache, die man erlernen kann und so hat man im besten Fall die uns übliche Sicht auf die Dinge zur Hand und die der analogen Sichtweise. Das ist erst mal kein Nachteil, kann aber, wie jeder Blick aus einer anderen Perspektive auch verwirren. Was stimmt denn jetzt? Das ist die vermutlich häufigste Fragen. Leichter für die Psyche der meisten Menschen ist ein eindeutiges Weltbild, in dem alles klar und widerspruchsfrei ist, selbst um den Preis, dass es sehr eng ist.
Schaut man sich Lehrbücher, die in die magische Praxis einführen wollen tatsächlich mal an, so findet man in der Regel eine interessante Zweiteilung. Magische Systeme arbeiten fast immer in Stufen, die aufeinander aufbauen. Psychologisch überraschend, für die, die sich dort nicht auskennen: Die ersten Stufen der magischen Praxis sind nahezu durchgehend geeignet, die psychische Stabilität zu stärken. Da ist nichts versponnen, es geht um das Training von Achtsamkeit, eine psychische Inventur und Reflexion, um die Stärkung von Regelmäßigkeit, Willenskraft, Ausdauer, Impulskontrolle und Gesundheit durch gute Ernährung und Körperschulung, eine alles in allem blitzsaubere und solide Sache. Es wird immer wieder darauf hingewiesen, nicht zu hasten und erst zur nächsten Stufe zu gehen, wenn man die vorherige ausreichend beherrscht.
Dann kommt irgendwann der Bruch. Im Grunde ist es gar keiner, sondern ein systematischer Aufbau, aber vieles davon ist kaum zu schaffen – schon auf den unteren Stufen – und will man weiter oben wenigstens reinschnuppern, so befindet man sich plötzlich in sehr sonderbaren Welten. Trainierte man eben noch im eigenen Körper bestimmte Reaktionen auszulösen, also etwa den Arm schwer oder leicht, kalt oder warm (gemäß der Elemente) werden zu lassen, so geht es nun darum das Bewusstsein in Dinge außerhalb des Körpers zu projizieren. Das ist schon eine beträchtliche Hürde, es folgen etliche weitere. Etwa die Kontaktaufnahme mit Wesenheiten aus inneren/anderen Welten. Die Wesen der Elemente, die Wesenheiten, die uns zu Leidenschaften und Suchtverhalten veranlassen, aber auch eine Art Schutzengel.
Interessant deshalb, weil weite Teile der Psychotherapie und auch die Geschichte der Aufklärung den umgekehrten Weg beschreiten. All diese ‚Wesenheiten‘ sind natürlich keine, sondern es handelt sich letzten Endes um Projektionen, also mehr oder weniger (unwissend und unbewusst) selbst produzierte Bilder und Folgerichtigkeiten. Allerdings gibt es gerade in der Psychotherapie auch eine Gegenrichtung. Eine, in der man in Grunde genau das tut, was die Magie tut, nämlich versucht innere Konflikte in Symbole, Bilder oder ein imaginiertes Gegenüber zu projizieren. Das innere Kind, etwas was man der imaginierten toten Mutter noch sagen will oder Worte, gerichtet an einen früheren Peiniger, aber auch seiner Angst, Trauer oder Wut kann man eine Gestalt geben um so mit ihr in einen Dialog zu kommen, sie zu bearbeiten, sie gleichzeitig aber auch auf Distanz zu halten. Allerdings vor dem Hintergrund der gemeinschaftlich sich versicherten Überzeugung, dass dies alles nur ein Spiel mit Bildern ist, die es in Wirklichkeit gar nicht gibt.
Sehr ähnlich geht die Magie vor. Grob gesagt, ist der dortige Ansatz der, dass das was der Magier beherrscht, zukünftig auch von ihm delegiert werden kann, an dienstbare Geister. Ziel ist also Herr über die Wesenheiten zu werden und sich nicht von ihnen beherrschen zu lassen. Mindestens die hohe Schule in Beharrlichkeit und Impulskontrolle wird dazu benötigt. Allerdings mit dem Unterschied, dass man die Bilder hier sehr ernst nimmt und mehr oder weniger glaubt, dass sie reale Wesenheiten sind. Für die Praxis macht das keinen großen Unterschied, außer dass bei dem magischen Weltbild, das hier gar nicht pathologisch sein muss, die Gefahr einer paranoiden Haltung größer ist. Denn sich überall von Wesenheiten umgeben zu fühlen, das ist schon nicht ohne. Man kann sich dadurch auch sehr behütet und geborgen fühlen, aber eine paranoide Regression ist eben auch möglich.
Da ist es nicht schlecht, wenn man aus all dem die Luft lassen kann und Innenwelten insgesamt mit dem Siegel privat, nachgeordnet und nicht wirklich existent versieht. Dieses Weltbild zieht einen mächtigen Bannkreis um alle Arten von Innerlichkeit, auf die es irgendwie nicht ankommt. Depressionen, Psychosen und alles weitere sind dann fehlgeleitete Hirnchemie, ein materielles Ungleichgewicht. Woher das kommt, weiß keiner, braucht auch nicht näher zu interessieren, solange man es reparieren kann. Die Frage nach dem tieferen Sinn ist damit auch beantwortet, es gibt ihn einfach nicht. Das ist die Konsequenz: Ein entqualifiziertes Universum, ohne Sinn und Ziel und man muss lernen, mit dieser Variante irgendwie klar zu kommen. Das ist keineswegs immer so leicht, wie es sich anhört und anfühlt. Wenn das Leben halbwegs rund läuft mag das noch klappen, doch auf die Frage nach dem ‚Warum?‘ gibt es in dem Bild vom großen Lotteriespiel keine Antwort, außer, dass eben auch Nieten im Spiel sind, die einer eben ziehen muss.
Magie ist im Grunde, auf den späteren Stufen ein bewusster Weg in die Psychose, besser in die auch psychotischen Bilder. Mit dem Unterschied, dass der Magier sie steuern kann. Dafür auch die langen Vorübungen, in denen man Selbstkontrolle lernen soll. Auch beim Zazen, einer mystischen Praxis, ist es ähnlich. Es gibt Erfahrungen der Einheit, aber eben konstant verbunden und geerdet durch Praktiken der äußeren Einfachheit und Struktur. Boden schrubben, den kargen Besitz in Ordnung halten, praktisch und körperlich arbeiten. Das hilft auch bei einer manifesten Psychose, die in allem Leid auch immer noch verlockend erlebt werden kann. Daran sieht man, ein Spiel mit dem Feuer und ein Eintauchen in eine wirklich andere Welt.
Die Erfahrungen, die man dort machen kann wirken jedoch erstaunlich real und das sind sie ja auch. Es gibt diese Erfahrungen, die andere Frage ist, wie sie nun zustande gekommen sind. Magie ist eine der Praktiken, ein Weg in diese Welten und es gibt andere. Neuerdings (erst) werden luzide Träume ernst genommen, es gibt Wege über Drogen, bestimmte Atemtechniken, man Nahtoderfahrungen und so weiter. Keine der Erklärungen die es gibt, sind aktuell sonderlich überzeugend, das muss man aushalten.
Das Ende der Geschichte 2.0
Wenn die Fokussierung allein auf die Rationalität es offenbar nicht fertig bringt uns weiter zu führen und inzwischen an mehreren Stellen, wie in der Bewusstseinsforschung, in der Kosmologie, aber auch im alltäglichen Leben auf der Stelle tritt, was fehlt? Was könnte der nächste Schritt sein?
Zunächst einmal das Sacken der Erkenntnis, dass die Stimme der Vernunft ihre Grenzen hat und immer wieder von unbewussten Aspekten untergepflügt wird, wie Freud im Grunde schon wusste und wie Kernberg noch mal deutlich unterstrich. Elemente des Irrationalen sind nicht aus der Welt zu drängen, ganz augenscheinlich sehen wir es an der erstaunlichen Beliebtheit, der sich diverse Verschwörungstheorien derzeit erfreuen. Diese haben große Ähnlichkeit mit den ungesunden Formen des magischen Denkens. Da ist die große, alle Fäden in der Hand haltende Macht im Hintergrund. Es gibt nicht den einen Grund diese Ideen attraktiv zu finden, sondern wie so oft ein ganzes Bündel.
Nun stellt sich die Frage müssen die alten Segmente der Psyche alle mit eingebunden werden? Haben wir von archaisch bis integral immer die ganze Palette der Stufen der Entwicklung mit an Bord? Wilber selbst schreibt, dass wir einige Strukturen mitschleppen, auch wenn diese bewahrt und negiert werden, während wir andere hinter uns lassen. Ein relativ durchgehendes Element der Psyche scheint aber auf allen Stufen die Sehnsucht nach Außeralltäglichem zu sein, also jenen Verschmelzungen und Einheitserfahrungen die immer wieder gesucht werden, ob bewusst oder unbewusst.
Unsere Gesellschaft ist nicht homogen, sondern ziemlich aufgesplittet in diverse Subgruppen, die sich horizontal aber auch vertikal in ihrer Entwicklung unterscheiden. Man dachte, die rationalen Elemente würden sich nach und nach durchsetzen, aber Rationalität allein macht nicht jeden satt, auch wenn man mit Begeisterung forschen und Erkenntnisse sammeln kann. Aber Rationalität, darunter fällt nicht nur der Glanz der Vernunft, in ihrer Freiheit und der Fülle all ihrer kreativen Möglichkeiten, sondern auch die Zweckrationalität, die Bürokratie und die nervenden Überstrukturierungen gehört dazu. Zum Teil muss das sein, aber es kann schnell zu viel werden, vor allem wenn man keinen Ausgleich hat.
Ausgleich heißt konkret, dass Individuum muss sich entspannen dürfen und aus dem Fokus der Aufmerksamkeit treten können, den es sich als Ausweg aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit selbst verordnet hat. Die Regression bis zum Faschismus oder der Drogenkonsum bis zur Zerstörung von Körper und Psyche sind die beiden schlechtesten Wege, hin zu einer,dann schwer regressiven Einheit. Entspannende Gruppenerfahrungen kann man jedoch rituell inszenieren und damit auch begrenzen. Darüber hinaus gibt es individuelle Möglichkeiten, die wir im ersten Teil vorstellten.
Aber was wäre, wenn Einheit unser Hintergrund wäre? Wenn Einheit gar nichts ist, was man schaffen oder beschwören muss, sondern bereits da ist? Die Mystiker, so gut wie aller Traditionen sagen uns genau das. Das kann gewiss zu süßlich und ‚esoterisch‘ interpretiert werden – eigentlich ein Widerspruch in sich, denn Esoterik meint den kleinen, inneren Kreis – aber das ist nicht schlimm, da längst nicht alle Menschen die Erkenntnisse der Mystiker fassen können. Aber selbst in dieser vereinfachten Form wird die Idee einer inneren Verbundenheit transportiert.
In der anspruchsvollen Version liegt keine vordergründige Tröstung. Da erscheint kein Engel, der uns final bei der Hand nimmt, es ertönen keine Fanfarenklänge, kein Tusch begleitet die Erleuchtung. Es ist schlanker: Genau hier und jetzt, bei diesem Atemzug, was fehlt mir da? Wenn ich jetzt ganz in diesem Moment bin, was fehlt?
Es mag der Einwand kommen, dass man das sehr genau sagen kann, gefolgt von einer Liste mit 50 Punkten. Die Antwort wäre jedoch, dass das Einwände des rationalen oder emotionalen, zeitlich entfalteten Ich sind. Zu wenig Geld, Freunde, Ansehen, zu viele Schmerzen, Depressionen und Ängste. Das kann durchaus einbrechen in diese Außeralltäglichkeit. Diese Anderswelt, die wo genau eigentlich ist? Ist das reine Phantasie? Probieren Sie es mal aus, es kostet nichts, nicht mal viel Zeit. Erleben Sie diesen Atemzug ganz bewusst, nur diesen. Wenn Sie meinen, es sei nicht gelungen, dann eben den nächsten. Wenn dies und das auf Sie einstürmt, warten Sie, bis der Sturm sich etwas legt und bleiben Sie beim Atem. Was fehlt?
Irgendwann werden Sie zu dem Punkt kommen, an dem Sie vielleicht sagen können, dass gerade jetzt nichts fehlt. Danach mag alles wieder so schön, mittelmäßig oder schlimm sein, wie zuvor. Aber es geht um diesen einen Moment, in dem nichts fehlt. Nur einen bewussten Atemzug lang, wobei es weniger auf den Atem, sondern auf das offene oder leere Bewusstsein ankommt. Wenn Sie das einmal erleben konnten, können Sie es auch noch mal, für einen weiteren Atemzug. Vielleicht gelingt es auf Anhieb, vielleicht auch erst etwas später. Egal wann, was Sie damit tun, ist zu meditieren. Offen sein und erst mal alle Gedanken ins Leere laufen lassen. In diesen Momenten können Sie erleben, dass in einigen davon nichts fehlt. Niemand kann Sie daran hindern, dies wieder und wieder zu erleben. Wie kommt das eigentlich? Eine Theorie ist, dass die Leere der Hintergrund aller Erfahrungen ist. Wenn Sie das wieder und wieder erleben, können Sie loslassen und sich in diese Empfindung hineinfallen lassen. Sie können diesen Hintergrund immer wieder durchschimmern lassen, indem Sie sich desselben bewusst werden. Sie können diese Empfindung selbst ausbuchstabieren, aber oft wird sie als Einheit beschrieben. Ich bin in allem. Alles ist in mir. Sagen ein Sufi-Mystiker. Alles Karma verschwindet mit einem Mal, heißt es im Zen. Das ist nicht unendlich weit weg, sondern zum Greifen nahe, nur einen Atemzug entfernt. Ohne Fanfaren und Engel, aber eben sehr leicht erreichbar. Was das für Sie bedeutet und was Sie draus machen, steht auf einem anderen Blatt.
Auf eine Art ist das das Ende der Geschichte 2.0. Gleichzeitig geht es weiter, weil der Fortschritt nicht aufhört. Die Welt wird sich weiter verändern, neue Berufe, neue Technik und Lebensformen, an die man sich anpassen muss. Wilber fasst die Aussagen vieler Mystiker quer durch die Kulturen und Jahrhunderte zusammen und kommt zu dem Schluss, dass es auf der anderen Seite der Entwicklung des Bewusstseins ein Ende gibt, das – vorgeschriebener Platz hin oder her – in der Erleuchtung seine Erfüllung findet, die uns eins mit allem sein lässt. Wenn das zu bombastisch klingt, es ist genau die Erfahrung, dass nichts fehlt.
Wieviel Einheitserfahrungen brauchen wir? Das ist verschieden, bei manchen reicht eine, andere brauchen mehr. Eins mit allem und allen heißt nicht, dass alles sorgenfrei ist und eine große Party, eins mit allem heißt eben mit dem ganzen Spektrum. Wer bin ich eigentlich nicht? Irgendwann stellt sich auch die Frage, was ich eigentlich davon habe. Nichts, denn das Ich gilt es hinter sich zu lassen, mindestens die Egozentrik. Hier gilt es auszubalancieren, was das nun für mich bedeutet und was nicht. Viel spricht dafür, dass unsere Sicht als vereinzelte Individuen eine lediglich antrainierte Sicht ist, die jedes Jahr mehr revidiert wird. Das Ende der Geschichte 2.0 heißt dieser Entwicklung und Revision ruhig auch kognitiv nachzugehen und gleichzeitig auf die Praxis diverser Einheitserfahrungen nicht zu verzichten. Sie kennen nun viele, die vermeintlich sehr einfache Übung am Ende, ist in Wahrheit eine der kraftvollsten. Das ist dann die praktische Arbeit im Wilber-Combs-Gitter, der Abbildung.