Kettenglieder

Die Kette ist ein Symbol für Stabilität, Sicherheit, Zusammengehörigkeit, das Schicksal, aber auch Gefangenschaft und Unfreiheit. © David Light under cc

Freiheit und Schicksal sind zwei Begriffe, die sich auf den ersten Blick ausschließen, denn mit Freiheit verbinden wir in der Regel eine gewisse Form der Ungebundenheit, während Schicksal eher angestaubt daherkommt und religiös aufgeladen erscheint und etwas bezeichnet, das uns gerade keine Wahl lässt.

Doch oft genug ist es unsere Freiheit, die uns gleich in mehrfacher Hinsicht festlegt. Wir haben in der Vergangenheit immer mal wieder über das Ich und über Weltbilder gesprochen, zwei Themenbereiche. die sehr eng zusammenhängen und die, auch wenn man nicht holzschnittartig vorgeht, jede Menge unseres Verhaltens erklären.

Insgesamt definiere ich Weltbilder als die Summe der gegenwärtigen, dynamischen, bewussten und unbewussten Einstellungen dazu, wie die Welt und die Beziehungen ihrer Bewohner untereinander funktionieren. Da steckt schon jede Menge des Ich mit drin und Weltbilder sind das, was das Ich wohl am meisten zu dem macht, was es ist. Man braucht sich nur ganz praktisch anzuschauen, wozu Menschen im Guten, wie im Schlechten in der Lage sind, weil ihr Weltbild sie dazu scheinbar legitimiert. Sie werden unbeugsame Helden, Märtyrer und Freiheitskämpfer, sind fähig, das ganze Leben ihrer gefühlten Berufung zu widmen, gleichgültig, ob sie dafür Lohn und/oder soziale Anerkennung erhalten, sie sind aber auch in der Lage Selbstmordattentäter zu werden oder sich in der Bulimie zu Tode zu hungern.

Aber das ist doch kein Weltbild, sondern eine Krankheit, könnte man sagen, die Diskussion stellen wir kurz zurück, ich möchte hier nur darauf hinweisen, dass unsere Weltbilder und die damit einhergehenden Überzeugungen so stark sein können, dass sie noch unsere scheinbar fundamentalen biologischen Triebe pulverisieren, denn das unverrückbare Ideal dominiert auch den Überlebenstrieb.

Das Ich

Wenn wir vom Ich reden, dann meinen wir damit in der Regel zweierlei. Zum einen das Ich im Lichte irgendeiner Disziplin: Was die Neurobiologie zum Ich sagt, oder die Psychologie, die Soziologie, die Philosophie oder gar Religion und Spiritualität. Wenn wir im Alltag den Begriff benutzen meinen wir damit ganz unmittelbar uns selbst. Ich muss gleich noch einkaufen, zur Arbeit oder Uni und heute Abend treffe ich Freunde. Wir wissen, was in dem Fall mit „ich“ gemeint ist.

Fragt man uns aber gezielter, wer wir eigentlich sind, bezieht sich nur ein gewisser Teil der Antwort auf das was man sowieso sieht. Unsere körperlichen Eckdaten beschreiben uns nur unvollständig, schnell ist klar, dass das, was uns ausmacht, nicht einfach Haarfarbe und Körperumfang ist, auch nicht die Cholesterin- oder Elektrolytwerte, sondern vor allem unsere Einstellung zu bestimmten Themen das sind, was uns definiert. Das beginnt bei den Kategorien, Lieblingsband, -schauspieler, -baum, -farbe oder -essen und so sehr die Charaketrisierung dessen, was wir am liebsten oder am wenigsten mögen uns näher bestimmt – Rot oder Blau mögen noch viele andere, aber wer Rot, Kastanien und Bratkartoffeln kombiniert, schränkt den Kreis schon stärker ein –, unsere Individualität kommt am besten zum Vorschein, wenn wir unsere komplexen Einstellungen zu diesem oder jenem darstellen. Vor allem, wie wir sie begründen und ob wir das können: Ob man Fleisch essen sollte und warum (nicht). Ob Strafen gut oder schlecht, ob oder wann sie gerecht sind. Was das wichtigste Thema für die eigene Zukunft ist und für die Gesellschaft oder Menschheit. Wieviel Spaß das Leben machen soll, darf oder muss. Ob wir an bestimmte Werte glauben, an welche und warum. Und so weiter, Fragen, die über unsere tieferen Überzeugungen Auskunft geben, aber auch über unsere Wünschen, Sorgen und Ängste.

Nicht ohne Grund ist eine der entscheidenden Aufforderungen in der psychologischen Diagnostik jene, sich selbst und Menschen, die im eigenen Leben eine bedeutende Rolle spielen, zu beschreiben. Kann man eine Auskunft über sich und andere geben, die so ausfällt, dass nach und nach ein Bild entsteht, das einen Menschen immer plastischer entstehen lässt, ist alles in Ordnung, bleibt die Schilderung hingegen vage und sehr oberflächlich, liegt eine Identitätsdiffusion vor.

So simpel diese Frage zu sein scheint, so sehr macht die gelungene Antwort etwas klar. Nämlich nicht nur, dass man seinen Freund, seine Mutter und die beste Freundin gut kennt, sondern auch, dass man damit implizit erkennt und anerkennt, dass andere Menschen tatsächlich anders sind, anders denken, fühlen, andere Motive haben, sich über anderes freuen und ärgern. Was absolut selbstverständlich klingt, ist es keineswegs, denn viele Beschreibungen sind absolut austauschbar. Der eigene Freund ist nett, süß und man versteht sich blind mit ihm. Die beste Freundin hat eine zwar andere Haarfarbe und ist weiblich, aber ansonsten könnte es sein, dass sie eben auch einfach nur total nett ist und man sich auch hier fast blind versteht, ohne dass irgendwie klar wird, was diese beiden Menschen denn nun auszeichnet. Das gibt es häufiger, als man denkt in einem Ausmaß der Unwissenheit über Menschen, die man mitunter Jahrzehnte kennt und mit denen man zusammen wohnt, dass man sich nur wundern kann, umso mehr, als es mitunter sehr intelligente Menschen sein können, die diese sonderbare Unfähigkeit an den Tag legen.

Ein normal gesundes Ich ist dadurch gekennzeichnet, dass es nicht nur weiß, dass die Haarfarbe und Körpergröße anders ist, sondern man kann sagen, was einen selbst von anderen unterscheidet und den Charakter von sich und anderen Menschen einigermaßen skizzieren.

Weltbild

Gewöhnlich stellt man, auch wenn man mit Freunden über sich redet, nicht jedes Detail des eigenen Lebens ausführlich dar, so dass man aktuelle Top 10 Liste der Lieblingsmusik, -filme oder -länder angibt, sondern oft hat man die Fähigkeit gewonnen, die wesentlichen Züge seines Charakters darzustellen, also ob man gerne allein ist oder Gesellschaft braucht (oder beides), ob man eher impulsiv oder abwartend ist, wie wichtig oder unwichtig einem bestimmte übergeordnete Themen wie Politik, Gesellschaft, Umwelt, Religion oder Philosophie sind.

Aus all den kleinen und großen Einstellungen, Ansichten, Ideen und Prämissen, auf denen das alles beruht, wird am Ende mein Weltbild, das mein inneres Sosein, mein Ich mit am stärksten charakterisiert, weil es nicht nur bestimmte Themen des Lebens neben einander gestellt auflistet, sondern diese auch noch gewichtet, denn jeder weiß, ob Tierschutz, die Beschäftigung mit Kunst oder der Zusammenhalt der Familie Themen sind, die eine hohe, sehr hohe, normale oder nachrangige Bedeutung für das eigene Leben haben.

Damit ist mein Weltbild aber auch die Kontakt- oder Schnittstelle zu anderen, mit denen sich mein Weltbild überschneidet. Mit jemandem, den man im Urlaub kennen lernt und der aus der gleichen Stadt kommt, wie man selbst, fühlt man sich in der Ferne gleiche verbunden, auch wenn man ihn beim Bäcker um die Ecke gar nicht bemerken würden. Mit jemanden, der das Alter, Geschlecht, das soziale Milieu aber mehr noch spezifische Interessen teilt, wie an Yoga, veganem Essen, einer Mitgliedschaft bei Greenpeace, der katholischen Kirche, Schalke 04, einer bestimmten Sportart oder wer ein bestimmtes Online-Game liebt, mit dem fühlt man sich noch mehr auf einer Wellenlänge.

Noch einmal intensiviert sich das, wenn man ganze Lebens- und Interessenbereiche miteinander teilt und kurios wird es, wenn man auf jemanden trifft, dessen Interessen und Ansichten völlig konträr zu den eigenen stehen, mit dem man sich aber dennoch merkwürdig verbunden fühlt. Er oder sie ist so wie ich, in der Art die Dinge zu sehen und anzufassen, wenn auch in ganz anderen Lebensbereichen. Die Kontaktstellen-Funktion des Weltbildes ist ein Aspekt der Freiheit, denn die Verbundenheit mit anderen, wird meistens als beglückend empfunden. Viele Menschen, die still leiden, fühlen sich bereits in dem Moment besser, wenn sie merken, dass es noch jemanden auf der Welt gibt, der so empfindet wie ich.

Doch weil Freiheit und Schicksal zusammen gehören, ist die schicksalhafte andere Seite jene:

Festlegungen

Sobald ich mich der Welt mit meinem Sosein, Ichsein und meinen Weltbild präsentiere, lerne ich neben der Zugehörigkeit zu den Wahlverwandten auch die Verpflichtungen kennen, die dazu gehören. Denn Gleichgesinnte zu finden, heißt auch von ihnen gesehen und bewertet zu werden, innerhalb des Interessengebietes oder jener Gesinnung, die man teilt. Wenn ich irgendwo Mitglied bin, bin ich dann engagiert oder laufe ich einfach so mit? Will ich überhaupt engagiert sein? Sollte ich es? Ein Teil ist meine Entscheidung, doch wie die anderen mich sehen, kann ich nur zum Teil beeinflussen.

Wo fühle ich mich eigentlich wohl, in einer sehr klaren, strukturierten Umgebung oder ist mir das zu eng und ich fühle mich viel wohler in einer lockeren Gemeinschaft, in der niemand zu etwas gezwungen wird? Bis dann einer den Müll wegbringen muss. Auch wenn man zumeist keines des Extreme wählt, so wird doch eine Tendenz sichtbar und man fühlt sich von dieser oder jener Richtung mehr angezogen, kann vielleicht problemlos die etwas chaotische Studenten WG tolerieren oder stellt gerade dort fest, wie wichtig einem Ordnung und Sauberkeit sind. In der WG ist man dann vielleicht der Spießer oder Spielverderber oder das Mädchen für alles, das das weg macht, was andere liegen lassen, weil sie Unordnung besser tolerieren können. Man kommt vielleicht zu dem Schluss, nie wieder in eine WG zu ziehen und lieber eine eigene Wohnung so zu haben, die den eigenen Vorstellungen entspricht und auch damit sendet man zugleich Signale in die Welt. Je nach Einschätzung ist da jemand nun endlich erwachsen und vernünftig geworden, für andere eben spießig und man wird zumeist den Weg mit jenen Menschen weiter gehen, die die eigene Entscheidung richtig finden.

Wenn mich eine sehr rigide Struktur fasziniert, dann kann es sein, dass das meinem Wesen entspricht. Vielleicht lebt in mir eine Beamtenseele, die klare Regeln mag, an die sich nach Möglichkeit jeder zu halten hat und über die nicht alle Nase lang diskutiert wird. Umgekehrt kann es auch sein, dass ich innerlich sehr unstrukturiert bin, irgendwann selbst darunter leide und/oder massive Schwierigkeiten in der Gesellschaft bekomme und einigen gelingt es ihre innere Unruhe, oder teilweise auch süchtige oder kriminelle Tendenzen in einem Umfeld klarer geordneter Regeln in den Griff zu bekommen, zu Gott oder einem anderen Sinn im Leben finden, der sie ausfüllt und seither ihre Unruhe in den Dienst eines Ideals stellt. Man beugt sich in dem Moment also freiwillig bestimmten Regeln, während man dies früher kategorisch abgelehnt hat.

Das bringt uns auf die Frage zurück: