Kopfdarstellung mit Gehirn, blau

Das Verhältnis von Gehirn und Geist ist weiter kaum geklärt. © digitalbob8 under cc

Als ich aufwuchs, war alles in der Welt für mich, wie für jedes Kind zauberhaft und neu, ich wusste nichts von der Welt, aber in meinem breiteren gesellschaftlichen Umfeld gab es wenig Ungewissheit. Zwar gab es auch hier noch Rätsel, zu erklärende Reste, aber im Rückblick betrachtet, wurde ich in einem gesellschaftlichen Klima groß, das insgesamt eine zeitgeschichtlich glückliche Insel war, auch wenn das privates Unglück nicht ausschließt.

Was das Große und Ganze anging, fühlte man sich an mehreren Stellen kurz vor dem Durchbruch, dem endgültigen. Nicht zum ersten mal in der Geschichte und gewiss nicht zum letzten Mal, aber wie immer, wenn man sowas denkt, mit dem Gefühl der Gewissheit verbunden, es jetzt zu haben und zu wissen, nämlich wie die Welt im großen, kleinen und mittleren Bereich funktioniert. Der Rest waren im Grunde Details und egal ob das damals stimmte oder nicht, dieser Glaube, verbunden mit der inneren Gewissheit, hatte psychische Effekte. Man machte alles in allem die Dinge richtig, war gut aufgestellt, so konnte und sollte es weiter gehen.

Man hatte ein Bild vom linearen Fortschritt im Kopf, anders gesagt, dass heute so geschmähte „Weiter so“ war das Programm, aber verbunden mit dem Gefühl, dass es gut wäre, wenn es genau so weiter ginge, etwas, was man sich aktuell überhaupt nicht mehr vorstellen kann, wo die Leitlinie für viele eher lautet: „Egal wie, Hauptsache anders“. Gesellschaftlich galt, dass die nächste Generation es erneut besser haben wird, als die davor und dass Forschung und Technik wesentliche Hilfsmittel dabei sind, wissenschaftlich galt, dass die großen Fragen geklärt sind und man, so wie man es jetzt macht, weiter agieren kann.

Wird man mit einer Gewissheit groß, besteht das Problem darin, Ungewissheit wieder zuzulassen, statt diese, was psychologisch normal ist, kleinzureden und die Abweichler als Menschen anzusehen, die sich einfach irren, notorische Querulanten sind oder sich in irgendwelchen spinnerten Ideen verrannt haben. Es ist doch alles klar, warum sich mit Randgruppen und Außenseiter abgeben?

Doch der Motor des Fortschritts kam ins stocken, es gab zunächst nur feine Haarrisse, die sich noch überschminken ließen, irgendwann wurden die Risse breiter und heute stehen wir mitunter vor Fragen, die schon seit hunderten von Jahren die gleichen sind und oft wird als Gewissheit verkauft, was in Wahrheit Ungewissheit ist. Aber der Reihe nach.

Die Wissenschaft von der Materie

Der große philosophische Logiker und Mathematiker Betrand Russell schreibt in seiner „Philosophie des Abendlandes“:

„In seiner ganzen Auffassung von der materiellen Welt ist der Cartesianismus streng deterministisch. Lebende Organismen unterliegen genau wie die tote Materie physikalischen Gesetzen; zur Erklärung des Wachstums der Organismen und der tierischen Bewegungen bedurfte es nicht länger wie in der aristotelischen Philosophie einer Entelechie oder Seele. Descartes selbst ließ nur eine geringfügige Ausnahme zu: die menschliche Seele kann willentlich die Richtung, nicht aber die Quantität der Bewegung der Lebensgeister ändern. Dies aber widersprach dem Geist des Systems, und da sich herausstellte, dass es auch im Widerspruch zu den Gesetzen der Mechanik stand, wurde es fallengelassen. Daraus ergab sich, dass alle Bewegungen der Materie durch physikalische Gesetze bestimmt wurden und dass infolge ihres Parallelismus geistige Vorgänge in gleicher Weise bestimmbar sein müssen. Aus diesem Grunde hatten die Cartesianer Schwierigkeiten wegen der Willensfreiheit. Und so war es für alle, denen Descartes‘ Naturwissenschaft wichtiger erschien als seine Erkenntnistheorie ein leichtes, die Auffassung, dass Tiere Automaten seien, zu erweitern: warum sollte man nicht auch dasselbe vom Menschen behaupten? Warum nicht das ganze System zum konsequenten Materialismus vereinfachen? Im achtzehnten Jahrhundert hat man diesen Schritt dann tatsächlich getan.“[1]

Was Descartes und seine Interpreten hier verursachten, zeigte sich nicht als Haarriss, sondern als ein Abgrund. Denn Descartes‘ zentrale Konsequenz war die Frage, wie denn nun eigentlich, wenn es eine denkende Substanz (res cogitans) und eine ausgedehnte Substanz (res extensa) oder einfach Denken und Materie gibt, die beiden auf einander einwirken. Denn dass sie es tun, stand zu allen Zeiten außer Zweifel, aber wie? Descartes konnte dies nicht überzeugend beantworten, für ihn war die Zirbeldrüse der Ort der Wandlung, aber einen möglichen Ort oder ein Organ anzugeben ist etwas anderes als sagen zu können, wie die Wandlung dort vor sich geht.

Nun sind, seit Descartes diese Spaltung formulierte, gut 400 Jahre vergangen, Zeit genug, sollte man meinen, bei allem Fortschritt, den wir in der Tat erlebten, diese Frage geklärt zu haben. Um das Jahr 1900 setzte der Arzt Sigmund Freud darauf, dass die Neurologie einmal erklären würde, wie die Psyche des Menschen funktioniert, allerdings steckte diese, vor allem ihre technischen Möglichkeiten, noch in den Kinderschuhen. So ersann Freud eine therapeutische Methode, die er als Lückenfüller verstand, bis die Neurologie so weit sein würde, alle Fragen zur Psyche zu klären, diese Methode war die Psychoanalyse.

Für unsere Fragestellung muss man über die Psychoanalyse nicht mehr wissen, als dass sie die Neurologie komplett ignorierte, nicht boshaft oder ideologisch, sondern wohlmeinend, in der Voraussicht, dass die Neurologie die Psychoanalyse dereinst wieder ablösen würde. Auf diesem Weg geschah etwas Sonderbares, denn knapp 70 Jahre später bezeichnete der Intellektuelle, Philosoph und Soziologie Jürgen Habermas Freuds bescheidene Einschätzung als einen Selbstirrtum. Denn die Psychoanalyse sei viel mehr als nur ein Lückenbüßer, nämlich die einzige Wissenschaft, die methodisch die Selbstreflexion in Anspruch nimmt.

Die Wissenschaft des Gehirns

Nervenzellen des Geruchs

Die Darstellungen von Nervenzellen sind kleine, faszinierende Kunstwerke. © NICHD under cc

Noch einmal 30 Jahre später, um das Jahr 2000, war es dann endlich soweit. Die Neurobiologie verfügte inzwischen, mit ihren immer besser werdenden fMRTs über potente Geräte, die dem Gehirn in Echtzeit bei der Arbeit zuschauen konnten. Das führte zu einer Datenflut und einem ungeheuren Neurohype zu Beginn des neuen Jahrtausends, der in der Frage gipfelte, ob der Mensch einen freien Willen besitzt oder nicht. Aber die Diskussion führte uns zentral auch zu jenen Fragen zurück, die auf den ersten Blick schon beantwortet schienen, allerdings ohne es wirklich zu sein. Zum Beispiel der Frage, in welchem Verhältnis neuronale Aktivität (des Gehirns) zum Denken steht. Man setzte bei der Interpretation der Bilder einfach voraus, dass neuronale Aktivität das Denken ist.

Doch was genau sagt die Durchblutungssituation einer Region im Gehirn nun über das Denken aus? Man meinte eine Zeit lang bestimmte Regionen des Gehirns, die Areale bestimmten Aktivitäten zuordnen zu können. Hier sitzt die Sprache, da das Sehen oder dort die Eifersucht. Wenn in einer Region Aktivität ist, das heißt, wenn sie durchblutet wird, wird da dann gerade gedacht? Oder ist Neuroaktivität nur eine Voraussetzung für Denken? In der Tat ordnete man Areale des Denkens, Fühlens, der Bewegung, des Wollens, Hörens und so weiter zu.

Allerdings hat man inzwischen die Idee der Areale schon wieder aufgegeben. Zu einem gewissen Teil sind bestimmte Fähigkeiten, dieser oder jener Art zwar bestimmten Regionen zuzuordnen, aber wie die Literaturwissenschaftlerin Sri Hustvedt schreibt, die sich in die Forschungen intensiv eingearbeitet hat: „Es scheint spezialisierte Regionen im Gehirn zu geben, aber sie arbeiten nicht isoliert und sie sind nicht unveränderlich.“[2] Die Hirnareale arbeiten also nicht alleine, sondern zusammen und sie erfüllen mitunter auch Aufgaben der Nebenregion.

Selbst wenn man von der Formel Denken = Durchblutung ausginge, die rein gar nichts erklärt, sondern nur Beobachtungen korreliert, man hätte es fast immer mit mehreren Regionen zu tun, die zeitgleich stärker durchblutet sind. Denkt man an sich selbst, hat man es allein mit sieben oder acht verschiedenen Bereichen zu tun, die zeitgleich aktiv sind. In welchem Verhältnis sind diese nun aber gewichtet und was bedeutet das für das Denken? Wo sitzt überhaupt die Untergrenze des Denkens, wenn man die Formel Denken = Durchblutung unterstellt? Ab wann springt das Denken an, wie viel Durchblutung muss dafür da sein? Ist das bei allen Menschen gleich? All das und mehr ist vollkommen ungeklärt, es wirkt nur so sicher, weil wir scheinbar objektive Parameter haben, die bunten Bilder.

Wie ist man auf die Korrelationen zwischen Denken und Durchblutung eigentlich gekommen? Das ist durchaus nachvollziehbar: Wir sagen jemanden, er solle an eine Rose denken und schauen, was zur gleichen Zeit im Gehirn passiert. Oder wir zeigen Bilder einer Rose und schauen, was sich während dessen im Gehirn tut. Das ist immer ein Prozess, bei dem jemand etwas tut oder gezeigt bekommt, also bereits mit seiner Umwelt interagiert. Ein häufiger Fehler liegt nun darin, nachher so zu tun, also hab diese Interaktion nie stattgefunden und zu behaupten, all dies habe sich zu allen Zeiten nur im Hirn abgespielt. So kommt man auch 500 Jahre nach Descartes auf die sonderbare Idee, dass man, wenn man das Gehirn gut genug kennt, alles von einem Menschen kennt.

Aber werden Rosen denn überhaupt von allen Menschen: Rosenfreunden, Gärtnern, Parfümeuren, Allergikern gleich bewertet? Gibt es ein Rosenareal? Oder eher eine Region für Farbe, eine für die Form, eine weitere für den Duft und wieder eine für haptische Besonderheiten, wie die Stacheligkeit? Und was ist mit kulturellen Besonderheiten? Es gibt Kulturen, in denen man die Rose der Liebe zuordnet, aber in anderen ist sie ein Symbol für Schmerz oder Tod.

Und was mit der ganz privaten Geschichte, die der Einzelne mit Rosen verbindet, vielleicht mit der Rose, die man zum Heiratsantrag bekam oder jene, mit der man ein Herz zu erobern versuchte oder der, die man am Ende einer Krise in der Beziehung zur Versöhnung verschenkte? All diese Rosen werden sicher tiefe Spuren in den betreffenden Menschen hinterlassen haben und diese werden einmalig sein, weil die Erinnerung daran zwei ganz bestimmte Menschen und ihre Schnittpunkte auf dem Lebensweg verbindet, mit ihren ganz privaten Interpretationen ihrer Beziehung. Wie sollten die Bilder von Rosen da in allen Menschen dasselbe auslösen können, inklusive der gleichen Neuroaktivität?

Jürgen Habermas drückt es so aus:

„Der Reduktionismus, der alle mentalen Vorgänge deterministisch auf die wechselseitigen kausalen Einwirkungen zwischen Gehirn und Umwelt zurückführt und dem „Raum der Gründe“ oder, wie wir auch sagen könnten: der Ebene von Kultur und Gesellschaft, die Kraft zur Intervention bestreitet, scheint nicht weniger dogmatisch zu verfahren als der Idealismus, der in allen Naturprozessen auch die begründende Kraft des Geistes am Werke sieht. Der von unten ansetzende Monismus ist im Verfahren, aber nicht in seiner Konklusion wissenschaftlicher als der Monismus von oben.“[3]

Das ist eben der Punkt. Das auf seine neuronalen Verschaltungen zurückgeführte Individuum verliert seine Geschichte, denn auch der noch so genaue neuronale Blick, mag zeigen, dass ich zur Rose ein bestimmtes Gesicht oder ein bestimmtes Gefühl assoziiere, aber ich brauche genau den beteiligten Menschen, um mir erklären zu lassen, was es mit diesem Gesicht, im Zusammenhang mit der Rose und jenem Gefühl auf sich hat. Ist es das Gesicht der ersten Liebe oder ist es jemand, der sich bedankt hat, weil man ihm mal aus einer Not geholfen habe, oder ist es mein Florist? Ein Bild der aktuellen Hirnaktivität gibt uns darüber keinen Aufschluss. Aus der Momentaufnahme, kann ich keine Geschichte rekonstruieren. Ein Hirnscan ist wie ein Foto oder ein Kurzvideo. Ich sehe darauf jemanden, vielleicht lachend zusammen mit anderen, daraus kann ich ablesen, dass diese Menschen, in diesem Augenblick zusammen Spaß hatten, aber wer das ist, was diese Menschen verbindet, was für eine Situation das damals gerade war – eine zufällige Urlaubsbekanntschaft für genau einen netten Abend; eine langjährige Freundschaft, die diese Menschen schon lange verbindet – all das kann eine Kurzsequenz nicht aufklären, die Beteiligten schon.

Und genereller lässt sich das, was wir mit unserer machen Sprache können, nämlich eine Geschichte rekonstruieren, mit dem Hirnscan nicht leisten. Wieder Habermas:

„Gedanken, die wir im mentalistischen Vokabular ausdrücken können, lassen sich nicht ohne semantischen Rest in ein empiristisches, auf Dinge und Ereignisse zugeschnittenes Vokabular übersetzen. Darin besteht die Crux jener Forschungstraditionen, die genau das leisten müssen, wenn sie ihr Ziel einer nach üblichen wissenschaftliche Standards verfahrenden Naturalisierung des Geistes sollen erreichen können. Gleichviel, ob es sich um einen Materialismus handelt, der intentionale Zustände oder propositionale Gehalte und Einstellungen auf physischen Zustände reduzieren möchte, oder um einen Funktionalismus, wonach elektrische Schaltkreise im Computer oder natürliche physiologische Zustände in der Hirnrinde die kausalen Rollen „realisieren“ sollen, die mentalen Vorgängen oder semantischen Gehalten zugeordnet werden – auf der grundbegriffliche Ebene scheitern diese Versuche einer Naturalisierung des Geistes an der erforderlichen Übersetzung.“[4]

Gehirn oder Geist?

Schlaganfälle oder bestimmte Tumore, könnte man jedoch argumentieren, beweisen die nicht, wie es um das Verhältnis von Gehirn und Geist letztlich bestellt ist? Ist in einer Hirnregion die Durchblutung unterbrochen oder eingeschränkt, kommt es zu ganz spezifischen Ausfallerscheinungen, die davon abhängen, welche Hirnregion(en) unterversorgt ist (sind). Man kann möglicherweise den einen Arm nicht mehr bewegen oder ein Bein, sieht die eine Hälfte der Dinge nicht und kann sich die fehlende Seite auch nicht vorstellen. Oder man hat subtilere Defekte, versteht den emotionalen Klang der Wörter, weiß aber nicht was die bedeuten oder man versteht die Bedeutung, aber die emotionale Färbung dabei nicht. Ziemlich eindeutige Beweise, so scheint es, für die Dominanz des Gehirns, über den Geist.

Wem das nicht reicht, der möge sich eben Hirnschrittmacher anschauen. Werden sie an die richtige Stelle gesetzt, so können sie die Bereiche elektrisch triggern, die ansonsten durch Botenstoffe chemoelektrisch gereizt wurden, bis die natürlichen Signale aus irgendeinem Grund versiegten. Ein weiterer Beweis. Leider funktionieren sie nicht immer so zuverlässig, wie erwünscht, doch da gibt es noch einen ganz anderen gravierenderen und philosophisch prinzipiellen Punkt. Wenn man jemandem einen Hirnschrittmacher einbaut, dann tut man so, als seien die materiellen Aspekte das, worauf es in Wirklichkeit ankommt und unterstellt zugleich, dass man den Geist im Grunde völlig ignorieren kann. Teilweise hat man damit Erfolg.

Doch kurioserweise hat man auch mit dem genauen Gegenteil Erfolg, beispielsweise bei Depressionen. So schreibt Siri Hustvedt:

„Eine gängige und wirksame Behandlungsweise von Depression ist die Kognitive Verhaltenstherapie, kurz KVT. In vielen Fachaufsätzen, Vorträgen und auch Werbeanzeigen formulieren KVT-Befürworter eine Variante der folgenden Aussage: „negative Selbstbilder sind dysfunktional und haben Auswirkungen auf Stimmungen, Selbstbild, Verhalten und sogar körperliche Befindlichkeit eines Menschen“. Indem negative Bewusstseinsinhalte in positive verwandelt werden, können Betroffene sich „besser“ denken, so die Grundannahme in der KVT. Bei diesem Ansatz werden „Gedanken“ – das, was ein Patient bewusst denkt – von seinem körperlichen Zustand getrennt. Die Gedanken wirken auf den Körper zurück. In der KVT werden Gedanken somit als etwas vom Körper Verschiedenes betrachtet, das ihn aber auf rätselhafte Weise manipulieren kann. Dies ist ein philosophisches Problem, denn die Gedanken scheinen immateriell zu sein, aus Nichts zu bestehen.“[5]

Gleich wie man sich entscheidet, ob nun der materiellen Körper den Geist beherrscht, oder umgekehrt, die ursprüngliche Problematik löst sich nicht auf und das geht auch nicht so leicht. Denn:

„Wie Probleme im Kontext von Depression und ihrer Behandlung gelöst werden, hängt von der jeweils zugrundeliegenden Theorie des Geistes ab. KVT übernimmt den kartesianischen Dualismus, aber mit seinen Rästseln wollen sich ihrer Vertreter nicht befassen. Viele Studien belegen die Wirksamkeit der KVT bei Depressionen. Dass eine Methode anschlägt, bedeutet aber noch nicht, dass sie aus den Gründen, die ihrer Verfechter anführen, funktioniert.“[6]

Aber seien wir ehrlich: Regiert nicht klar und eindeutig das Gehirn über den Geist? Wir wissen vielleicht noch nicht wie Rückkopplungseffekte genau funktionieren, aber wir wissen, dass es sie gibt und jeder, der sich dem Lager der Materialisten zurechnet, befindet sich auf der Seite der Vernunft, während die andere Seite doch eher obskur wirkt, oder?

Doch wie steuert der Körper den Geist, wenn die dafür nötigen Regionen bereits ge- oder zerstört sind? In dem Film Das Geheimnis der Heilung stellt Joachim Faulstich einen Schlaganfallpatienten vor, den es schlimm erwischt hat. Ein an sich sehr intelligenter Mensch wurde durch den Schlaganfall bei halbseitiger Lähmung auf das geistige Niveau eines kleinen Kindes reduziert und da es für Schlaganfälle bestimmte Zeitfenster (von einigen Stunden) gibt, in denen die Heilung in aller Regel sehr gut möglich ist, diese Zeit aber längst überschritten war, gab es für den Mann wenig Hoffnung. Durch die Kraft der Imagination und mit der Hilfe einer Therapeutin schaffte der Patient, was niemand mehr für möglich hielt, indem er nur im Geiste die fehlende linke Körperseite reaktivierte.

Er konnte sich, wie viele Schlagfanfallpatienten, die eine Seite des Körpers nicht vorstellen und wenn er ein Zimmer imaginieren sollte, bestand dieses Zimmer nur aus einer rechten Hälfte, die linke war leer. Geduldig fing die Therapeutin nun an mit dem Patienten die linke Seite des Zimmers zurück zu erobern, indem sie ihn aufforderte, sie neu einzurichten, erst mit einem einzelnen Bild, dann nach und nach immer mit immer mehr Einzelheiten, am Ende war das Zimmer wieder ein Ganzes und im Zuge dessen gewann der Patient, wider alle Erwartungen, seine kognitive Leistungsfähigkeit zurück auch und die körperlichen Einschränkungen vergingen sehr weitgehend, was angesichts des Gewebeuntergangs, den man nach einigen Stunden Sauerstoffmangel annehmen muss, kaum möglich ist. Auch hier dominierte der Geist den Körper, was aber, trotz der eindrucksvollen Heilung philosophisch unbefriedigend bleibt, da wir nicht wissen, wie so etwas sein kann. Die Ungewissheit verfolgt uns auf Schritt und Tritt.

Das Problem des Dualismus ist und bleibt, dass vollkommen unklar ist, wie etwas an sich Immaterielles auf Materie einwirken kann, gleichzeitig ist ebenso unklar, wie Materie auf den Geist einwirken soll, beide hält das aber augenscheinlich nicht davon ab, fröhlich zu interagieren. Der Gegenspieler zum Dualismus ist der von Habermas angesprochene Monismus. Monismus bedeutet schlicht und einfach, dass es nicht zwei getrennte Substanzen gibt, sondern nur eine und da wir zwei zur Auswahl haben, können wir uns nun entscheiden, ob wir der Meinung sind, alles sei in Wahrheit nur Materie oder alles sei nur Geist.

Die letzte Idee scheint uns intuitiv absurd zu sein, wir sollten uns jedoch erinnern, dass es der konsequente Materialismus ist, der uns zu dieser Intuition nötigt, der erst seit wenigen hundert Jahren dominiert. Das dann allerdings, wenn wir uns kurz schütteln und die Kuriositäten mal beiseite lassen, aus gutem Grund. Zu überzeugend scheinen die Beweise zu sein, die uns zeigen, dass alles Materie ist und wie wäre eine Welt aus Geist auch überhaupt zu denken, schließlich können wir den Tisch, den Stuhl und die Wand anfassen und die verschwinden auch nicht, wenn wir sie uns wegwünschen. Denn wegwünschen, seien wir ehrlich, können wir uns eigentlich gar nichts, auch wenn wir es noch so gerne hätten. Wobei wir schon zwei Gegenbeispiele hörten, auch wenn da weniger der Wunsch der Vater des Gedankens war, als vielmehr Arbeit. Die fehlende Hälfte des inneren Zimmers des Schlaganfallpatienten musste aktiv eingerichtet werde und auch Depressionen verschwinden nicht einfach dadurch, dass man es sich wünscht, die Lebensbilanz muss dazu neu und anders gezogen werden.

Denk Dich frei oder alles Hormone?

Testosterone Filmplakat

Vital, smart, sexy, agil und druchsetzungsstark. Diese Mythen kreisen um ein Hormon. © Anderson Sky under cc

Dennoch erscheinen uns Ansätze, die auf die Kraft des Geistes setzen nach wie vor merkwürdig. Allerdings sprechen nicht nur Randereignisse, sondern generell psychosomatische Symptome und Noceboeffekte ihre eigene Sprache. In der Hypochondrie und dem psychogenen Tod erfahren sie ihre negativen Höhepunkte, die es auf der anderen Seite des Spektrums allerdings ebenfalls gibt. Dort kennen wir Placeboeffekte und die Kraft der Erwartungen, die es vermögen, dass wir über uns hinauswachsen und selbst chronische Schmerzen bewältigen können, all diese Effekte sind längst nachgewiesen. Genau, wie die unspezifischen und daher breit ansetzenden Effekte von kompetenten Entstressungsprogrammen, Yoga und Meditationen, die in Gipfelerfahrungen, Wunderheilungen und Erleuchtungen ihre positive Höhepunkte finden. Zu naiv sollte man jedoch nicht daran gehen. Es reicht nicht, sich nur feste einzureden, dass es einem jeden Tag ein wenig besser geht, aber die Kombination aus Erwartungen und ihrer Bestätigung in der Realität kann man nutzen und immer weiter verstärken.

Aber ist es nicht schlicht vernünftiger, davon auszugehen, dass alles Materie ist? Abertausende Diabetiker spritzen sich täglich ihr Insulin und ihr Blutzucker sinkt, messbar und vorhersagbar. Menschen, die unter Parkinson leiden, nehmen ihr Dopamin und es geht ihnen besser. Ist das nicht überzeugend? Ja und nein, denn der Zucker sinkt auch, wenn man Menschen suggeriert, dass sie Insulin bekommen und man ihnen Kochsalz spritzt, auch die Parkinsonsymptome bessern sich und längst fordern Ärzte, die sich damit systematisch beschäftigen den Placeboeffekt aktiv in die Medizin einzubeziehen, wo genau die Grenzen dieser Effekte liegen, weiß man nicht, aber das was man heute weiß, reicht aus, um Menschen auf vielfältige Weise zu helfen.

Wenn wir jedoch die Kirche im Dorf lassen, gibt es dann nicht doch mehr, oder wenigstens regelmäßigere, berechenbarere Hinweise auf eine materielle Welt, in der die Gedanken und Gefühle, also Psychisches oder Geistiges doch der Materie nachgeordnet ist? Auch da ist die Datenlage durchwachsen. Nehmen wir etwas das männliche Sexualhormon Testosteron, das den Mann zum Mann macht. Wenn Männer es nehmen, deren natürliche Produktion nachgelassen hat, werden sie wieder vitaler, aggressiver und potenter, so das Versprechen von Ärzten und beim Doping. Frauen profitieren von dem leistungssteigernden Effekt noch viel mehr. Das Testosteron könnte also bestimmte Unterschiede zwischen Männer und Frauen ohne großen Aufwand erklären, so die größere Aggressivität von Männern mit viel Testosteron, die eben dann zupacken, wenn andere noch zögern, was sich auch in Verhandlungen um Karriere und Gehalt manifestiert.

Doch wie man bei Hustvedt lesen kann, konnten Studien nicht klären, dass es einen Zusammenhang zwischen Testosteron und aggressivem Verhalten beim Menschen gibt. Es gibt sogar Studien die einen wichtigen Einfluss von Östrogen, dem weiblichen Sexualhormon auf die Aggression beider Geschlechter nahelegen und letztlich, so ergibt ein Blick auf die Summe aller Studien, könnten Hormone die Ursache, Folge oder der Mediator der Aggression sein.[7] Die konkreten wissenschaftlichen Tests ergaben dann Folgendes:

„Christoph Eisenegger und Kollegen berichteten in ihrem Artikel „Prejudice and Truth About the Effect of Testosterone on Human Bargaining Behavior“ aus dem Jahr 2010, dass Testosteron ein faires, partnerschaftliches Verhalten in Verhandlungen bei Frauen, denen es verabreicht wurde, erhöhte. In einer Vergleichsstudie wurde allerdings festgestellt, dass die Frauen eigennützig und raffgierig handelten, sobald ihnen vorher mitgeteilt wurde, dass sie Testosteron bekämen, auch wenn es sich um ein Placebo handelte. Einer der Forscher, Michael Naefs, meint dazu: „Es scheint, als würde nicht das Testosteron selbst, sondern die Mythen, die um das Hormon ranken, Aggressivität erzeugen.“[8]

Und was jetzt?

Gleich wie das Armdrücken zwischen Gehirn und Geist im eigenen Weltbild der Leser ausgeht, das eigentliche Problem ist, dass jeder Sieg unbefriedigend ist. Die Problematik des Dualismus ist bis heute ungelöst und in moderner Variante heißt sie: Wie bringen meine Einstellungen Neurotransmitter in Bewegung? Wie wird aus Erwartungen etwas, was den Schmerz stillt oder intensiviert? Wie werden aus Gründen Ursachen oder umgekehrt? Wenn man ehrlich ist, wissen wir heute nicht mehr darüber, als vor über 400 Jahren.

Ist alles Materie und sind die Gedanken und Gefühle nur ein Produkt auf der Benutzeroberfläche, die wir Bewusstsein nennen, ein Epiphänomen, wie diese Form des Virtuellen philosophisch heißt? Könnte sein, aber das erklärt nun den immensen Einfluss nicht, den unsere Einstellungen tatsächlich haben und die wir dann wieder im Körper messen und nachweisen können. Der Naturalismus ist uns in Fleisch und Blut übergegangen, Gott ist tot, aber auch die Wissenschaft ist verwundet. Sie stiftet immer weniger Sinn und Orientierung.

Was, wenn wir kühn werden? Vielleicht ist ja doch alles Geist, aber was genau würde das dann heißen? Dass die Welt ein großes Wunschkonzert ist, hieße es nur in der primitiven Variante. Denn die Umwelt bliebe uns erhalten, wollten wir nicht in einen Solipsismus abgleiten. Dieser würde bedeuten, dass es eigentlich nur mich sicher gibt, alles weitere wäre Spekulation. Doch das erlebte Ich setzt ein erlebtes Du und eine Erfahrung von Welt notwendig voraus, denn dieses Ich zu formulieren, heißt sich mit einem Teil des Ganzen, was man erlebt zu identifizieren und von einem anderen Teil abzugrenzen. Es könnte dennoch sein, dass ich das, was ich als Umwelt und Mitmenschen erlebe, nur phantasiere, erträume, also selbst erschaffe.

Dass ich die anderen, die ebenfalls bezeugen, dass es Bäume und Autos gibt, nur erfunden habe, ist zwar logisch möglich, aber schwer zu glauben und aufrecht zu halten, denn es ist schon mit einem erheblichen theoretischen Aufwand verbunden, wenn man begründen muss, dass man chinesisch lernen will und dazu jemanden braucht, der einem die Sprache beibringt, obwohl man sie doch selbst erfunden hat, nur leider die Menschen, die sie sprechen, nicht verstehen kann. Man muss das also irgendwie unbewusst erfunden haben und bringt sich dann durch einen, ebenfalls vom eigenen Geist produzierten anderen Menschen, das erneut bei, was man selbst erschaffen hat. Da muss die Kraft zum Glauben an diese Theorie schon groß sein.

Aber vielleicht tummeln wir uns ja alle zusammen in einer Welt, die uns materiell erscheint, nur, dass diese Erscheinung eben auf einer Regelmäßigkeit oder Gewohnheit beruht, wie andere Erscheinungen auch. Klar ist, dass wir nicht extra in eine Welt der Fernsehwerbung, der Superhelden Comics, der Serienstars und Youtuber, der Sprache, Gedanken und Gefühle, der Erwartungen und Befürchtungen, der Projektionen, sozialen Wahrnehmungen und kulturellen Eigenheiten reisen müssen, denn wir baden schon mittendrin. Soll heißen, wir leiten nicht mühsam aus einer objektiven Realität eine eigene subjektive Realität ab, sondern wir finden uns auch da in bestimmten interpretierten, phantaiserten Lebenswirklichkeiten vor, die von Anfang an so real, wie Tassen oder Bäume sind.

Welt, sei sie innen oder außen, Realität oder Phantasie, falls diese Unterscheidungen überhaupt etwas taugen, ist nie etwas, wozu wir uns den Zugang freischaufeln müssen, wir sind immer schon in allem mitten drin, ob Wetter oder Werbung, Steine oder Vorurteile. Wir leben gerade nicht mitten in Atomen und Molekülen, physikalischen Kräften und chemischen Verbindungen, sondern das sind bereits theoretische Interpretationen, Erklärungen nicht etwas, aus dem die Welt „in Wirklichkeit“ besteht. Wir haben uns so sehr angewöhnt naturwissenschaftliche Beschreibungen als wahrer anzunehmen, dass wir erst mal rätseln, was hier schief läuft, wenn wir mit der Behauptung konfrontiert werden, dass sie es nicht sind. Wir müssen zunächst wieder verstehen, dass eine Übersetzung von einer Sprache, Deutung oder Sichtweise in eine andere nicht wahrer oder wirklicher ist, sondern bloß eine Übersetzung, zum Beispiel die, in eine Spezialsprache, wie die der Physik. Und wenn dieser Übersetzung etwas fehlt ist dies eine schlechte Übersetzung weil ein unübersetzter semantischer Rest bleibt, den Habermas oben meinte. Wenn man also sagt, dass es Liebe nicht gibt, weil diese aus biologischer Sicht nur ein Tanz der Hormone sei und in der Physik gleich gar nicht vorkäme, so müssen wir uns langsam angewöhnen, diese Aussagen nicht als nüchternen Realismus, sondern geistige Beschränktheit zu erkennen. Der Blick von Nirgendwo ist eine Fiktion, also einen Zustand eines reinen Beobachters, der Welt, wie sie ist betrachtet, ist eine Fiktion. Eine Perspektive die Liebe, Eifersucht, Projektionen und dergleichen nicht kennt, ist eine in der es ein Mensch schaffen würde, kein Mensch zu sein. Denn wie nüchtern, besonnen und objektiv man zu sein meint, man hat immer Tausende von Vorurteilen über die Welt und ihre Bewohner im Kopf, einen großen Teil, ohne das einem das bewusst wäre.

Das alles ist nicht leicht und ungeklärt. Denn unsere Bewertungen, Urteile und Behauptungen über Welt, sind ja selbst auch Teil der Welt. Die Behauptung, dass dieser Stein 13 kg wiegt, ist ebenso Teil der Welt, wie der Stein, es gibt keine Welt zweiter Klasse. Man kann Aussagen über die Welt als nachgeordnet bezeichnen, so wird es auch manchmal getan. Meine Erwartung, dass ein Arzt und seine Medikamente mir helfen können, löst jedoch häufig einen starken realen Effekt aus, der meinen Körper beeinflusst, aber niemand weiß, wie das geht. Wenn aber meine bloße Einbildung diese kausale Kraft entfaltet, was sie ständig tut, ist die Rede vom Nachgeordnetsein dann noch zutreffend? Das würde bedeuten, dass es doch eine wirklichere Ebene gibt und das bedeutet letztlich nichts anderes, als die Welt ein weiteres Mal in zwei Hälften zu zerschneiden.

Dass Beste, was wir tun können, ist unideologisch zu akzeptieren, dass Körper und Geist, was auch immer sie sind offenbar direkt ineinander übersetzt werden können, ohne dass wir wissen, wie das geht. Erwartungen mögen Opioide freisetzen, aber einfach zu sagen, dass wir dann doch besser gleich die Opioide nehmen, das klappt nicht. Sie führen in die Sucht, nicht ins Glück oder Heilung. Je mehr der Körper und seine Chemie, unsere Überzeugungen, auch die halbbewussten und unsere Wünsche in die gleiche Richtung weisen, umso besser scheint das zu funktionieren. Ein pragmatischer Ansatz der die Gründe für seine Wirksamkeit weiter unbeachtet zurück lässt. Die neue Ungewissheit in Wissenschaft, Psychologie und Philosophie werden wir noch etwas ertragen müssen.

Quellen: