Selbsternannte Experten

Es ist schön, wenn heutzutage breiter entdeckt wird, dass Spiritualität und intellektuelle Redlichkeit sich nicht ausschließen, aber ehrlich gesagt weiß das eine Unzahl von redlichen, spirituellen Menschen schon sehr viel länger. Es ist heute, nicht zuletzt aufgrund der Ergebnisse der Hirnforschung, einfach nicht mehr zu leugnen, dass Meditation ganz handfeste und messbare Auswirkungen hat, aber das wussten die Menschen, die vorher praktizierten ebenfalls schon sehr viel länger. Es ist gewiss schön, wenn das Thema jetzt auch in Kreisen von Wissenschaft, Psychologie und Philosophie angekommen ist, weniger schön ist es, wenn von hier aus durchgestartet wird und nun so getan wird, als seien sie die einzig ernstzunehemenden Stimmen. Das ist eher eine seltene Ausnahmen und alles steht und fällt wieder mit der eigenen Praxis.

Wenn Menschen seit Jahren oder Jahrzehnten meditieren und obendrein Psychologen, Philosophen oder Hirnforscher sind, wunderbar. Doch das findet man nicht oft und die Forderung nach intellektueller Redlichkeit gebietet dies klar zu sagen. Viele die sich berufen fühlen sich zum Thema Spiritualität zu äußern, verfügen im besten Fall über einen profunden theoretischen Hintergrund, aber oft nicht einmal das und eine spirituelle Praxis ist nicht vorhanden. Jeden Sportler, Musiker, Physiker kann man fragen, wie lange er trainiert, gelernt, geübt hat und es ist absolut selbstverständlich das auch zu erzählen, geht es um Spiritualität beginnt nicht selten das maximale Herumdrucksen: „Ja, ich will mich ja nicht in den Mittelpunkt stellen, es geht ja nicht um mich und mein Ego.“

Wo ist das Problem, zu sagen, dass man seit 10 Jahren täglich eine halbe Stunde Zazen macht, oder eine Stunde Yoga praktiziert, das nicht nur den Rücken oder Bauch stärken soll? Warum kann man nicht sagen, dass man zwei Mal im Jahr zu Sesshin fährt, bestimmte Erfahrungen beim holotropen Atmen gewonnen hat oder eine intensive Einheitserfahrung in der Natur hatte? Besser 20 als zwei solcher Erfahrungen, besser man kann mehrere vergleichen, was hätte man sonst zum Diskurs beizutragen, als das was man gehört hat oder was irgendwo auf Seite 376 steht? Das wäre dann wieder reiner Glaube. Dass man unsicher ist, kein Problem, denn die Begriffe dafür gehören nicht zum festen Repertoire unserer Alltagssprache, aber es ist mindestens traurig und ärgerlich, dass manche Menschen sich nicht trauen von ihren Erfahrungen zu berichten, aus Angst, zukünftig nicht mehr ernst genommen zu werden.

Einheitserfahrungen

Authentische spirituelle Erfahrungen sind in aller Regel Einheitserfahrungen und zwar gerade auch in den Bereichen, von denen wir gelernt haben, dass hier keine Einheit vorhanden ist. Mit anderen Menschen, der ganzen Natur oder dem gesamten Universum, wahlweise mit oder ohne Gott. Das ist herausfordernd und hat im Rahmen unseres Weltbildes eigentlich keinen Platz. Wer diese Erfahrungen gemacht hat, weiß aber, dass man diese Einheitserfahrungen erleben kann, ob und wie sie zu erklären sind, ist eher sekundär (wenngleich nicht uninteressant), wichtig ist, was diese Erfahrung im Individuum bewegt.

Carl Gustav Jung

C.G. Jung: spirituell interessiert und blitzgescheit. © David Webb under cc

Konsequenterweise und im Rahmen einer eigenen logischen Folgerichtigkeit sollte das Mitgefühl steigen, denn wo ich eine Einheitserfahrung habe, fällt die Dualität von Ich und Du oder Ich und Welt für Momente in sich zusammen. Was meinen andere zu meinen Erfahrungen? Kennen sie das, oder nicht und was sagen sie dazu, sie, die spirituell Kompetenten, die wissen, wovon die Rede ist? Bin ich bezüglich meiner Erfahrungen sicher, haben sie eine alles überragende Überzeugungskraft? Das ist gewiss nicht ohne Risiko, denken wir an die imperativen Stimmen, die manche in ihrem Kopf hören und die ebenfalls subjektiv überzeugend sind. Aber warum pathologisieren, was keinesfalls durchgehend pathologisch ist? Bin ich bei aller eigenen Erfahrung offen und zum Diskurs bereit? Das schließt sich nicht aus und Spiritualität ist alles andere als ein solitärer Trip. Wo nur eine mögliche Deutung vorherrscht lauert der Fundamentalismus, doch warum sollte man zwingend Fundamentalist sein, wenn man spirituell ist? Gerade auch in diese Richtung müssen wir verstärkt fragen und die faulen Eier aussortieren, dass sind die, die viel reden und über wenig bis keine praktische Erfahrung verfügen.

Auf sehr vielen spirituellen Wegen ist zudem klar, dass Einheitserfahrungen und andere außergewöhnliche Bewusstseinserfahrungen zwar fast unweigerlich dazugehören, jedoch auch eine Falle sind. Es geht den meisten spirituellen Lehrgebäuden der großen Traditionen nicht darum eine Parallelwelt aufzubauen und nur noch in Ekstase durch die Welt zu schweben. Nein, diese Bewusstseinserfahrungen sind Teil des Wechsels der Erfahrungen die das Leben insgesamt ausmachen. Spiritualität führt uns im besten Fall aus unseren Konditionierungen und Projektionen heraus und das bedeutet auch an den außergewöhnlichen Bewusstseinszuständen nicht festzuhalten … an gar nichts festzuhalten.

Warum Religion sich bis heute hält

Wir sagten, dass in vielen Teilen der Welt die Religion das dominierende Deutungssystem ist. Auch bei uns liegt der Anteil der mehr oder minder Religiösen bei 60%. Und dort wo das Interesse an Religion zurückgeht, ist es tatsächlich so, dass das Interesse an Spiritualität im etwa gleichen Maße steigt. Angesichts unserer naturalistischen oder wissenschaftlich-technischen Prägung, die ja nicht erst um die Jahrtausendwende begann, ist das doch eigentlich sonderbar. Wir müssten es besser wissen und könnten uns die Welt auch ohne Götter und Geister erklären, wenn wir wollten.

Nicht wenige tun das und dieses fröhliche Zerschießen ist unter dem Stichwort „Entzauberung“ in die Literatur eingegangen. Die Erfolge der neuen Sichtweise sind Legion, nirgends brauchte man noch Götter um Krankheiten und Hochwasser oder die Entstehung des Kosmos zu erklären. Doch irgendwas scheint zu fehlen. Auf die Sinnfragen, die, die den Menschen umtreiben, gab es keine Antwort und selbst die Freiheit, zu tun was man will, gerät irgendwann an ihre Grenzen. Und auch dort wo wir Antworten kennen, müssten wir sie konsequent umsetzen, tun es aber oft nicht. Irgendwas funktioniert nicht, ironisch, in einer Zeit, die sich überwiegend dem Funktionalismus, oft bis hinein in die Psychotherapie, verschrieben hat. Chancen und Risiken, auch hier.

Religionen sind in ihren Deutungen manchmal schlicht, aber sie geben Orientierung, Antworten, halten die Reihen geschlossen, sagen, was richtig und falsch ist. Nur ist der Preis eben der, dass man glauben muss oder, je nach Sichtweise, glauben darf. Aber wie kam es überhaupt dazu, dass sich Religionen entwickelten? Eine gängige Deutung ist, dass die Religion ein antiquiertes Modell ist, man wusste es einfach noch nicht besser und da erfand man eben Götter und Geister um sich Naturvorgänge zu erklären. Aber wie kommt man überhaupt auf so eine Idee und warum sollten andere das ohne Not glauben? Ich denke, Religionen sind viel eher entstanden, weil sie die inneren Erfahrungen der Menschen einfangen und erklären. Die Ahnenheister der Toten erschienen in der Nacht, vielleicht in Gefahrensituationen, beim Konsum bestimmter Rauschmittel. Die ersten religiösen „Facharbeiter“ waren vermutlich die Schamanen die Reisen in diese Welten systematisch durchführten. Und immer wieder konnten die Erfahrungen dieser inneren Reisen bestätigt werden, von anderen spirituell Praktizierenden, aber auch von gläubigen Menschen, die unsystematisch und zufällig ihre Gipfelerfahrungen machten, vor der Madonna oder im religiösen Gemeinschaftserlebnis bei Pilgerreisen oder Gottesdiensten, in allen möglichen Religionen, zu allen Zeiten.

Religionen halten sich nicht, weil sie vollkommen absurd sind, sondern weil bestimmte innere Erfahrungen immer wieder gemacht wurden und bestätigt werden konnten und sei es nur im Minimalkonsens der Form: „Ja, da gibt es irgendwas.“

Quellen: