Nachdem Spiritualität und Religion lange Zeit als Geschwister galten, sehen viele Forscher und Denker sie heute als eigenständige Meme an, eine Ausdifferenzierung, die eigene Chancen und Risiken hervorruft. Wie wir im letzten Beitrag sahen, beruht Spiritualität auf eigener Erfahrung, Religion ist mit dem Glauben an die Erfahrungen anderer verbunden. Zudem kann man religiös sein, ohne spirituell sein zu müsen und umgekehrt. Schauen wir uns diese Ausdifferenzierung nun genauer an.

Religion im Kreuzfeuer

Kirchendächer vor schleierwolken Himmel

Prächtige Bauten, in denen es aber leerer wird. © Marcus Pink under cc

Die europäische Tradition ist einerseits geprägt durch das Christentum, das seinerseits den jüdischen Glauben und die griechische Philosophie zu ihren Wurzeln zählt und auch ansonsten ein Schmelztiegel unterschiedlicher Strömungen ist. Zum anderen, durch die Erkenntnisse der Aufklärung, die eine atheistische und säkulare Ausrichtung ins Spiel bringt. Was auf den ersten Blick nicht gut zusammen passt und auch immer wieder in Fehden und Unterdrückungen führte, kooperierte aber trotz allem eine lange Zeit sehr gut und effektiv. Wissenschaft und Technik feierten ihre Erfolge und emanzipierten sich zusehens von den Kirchen, doch auch nach dem Zweiten Weltkrieg waren noch weit über 90% der Menschen in Deutschland konfessionell gebunden. Langsam aber stetig sank diese Bindung, aber die Stimmung war dabei nicht sonderlich aufgeheizt. Doch das änderte sich: Terror, Kindesmissbrauch, Volksverdummung, Gehirnwäsche, Geldverschwendung, eine fragwürdige Einstellung zur Sexualität und zu Frauen. Die Liste der Anklage, nicht nur gegen das Christentum, sondern die Religionen im Allgemeinen, ist lang. Teils neigen Religionskritiker selbst zum Fundamentalismus, doch mitunter ist ihre Kritik durchaus inhaltlich begründet und so verloren die Religionen, durch Kritik und Skandale, in den letzten Jahren in Deutschland und Europa an Ansehen, so dass es 2014 sogar zu einer Rekordaustrittswelle kam und die größte Gruppe der Menschen in Deutschland heute nicht mehr konfessionell gebunden ist. Die Abstimmung mit den Füßen ist vielleicht die deutlichste Form der Kritik und sie trifft das katholische und evangelische Lager.

Die schrillsten Formen der Religionskritik sind oft ihr eigenes Gegenargument, doch die Religionen hatten stets auch ihre potenten Gegner. Nietzsche und Freud, sowie Feuerbach und Marx sind die klassischen Stimmen. Heute ist Eugen Drewermann ein starker Vertreter der Kirchenkritik, dessen Gegenargumente eine kluge Synthese aus Naturwissenschaft, psychoanalytischer Bibelexegese und Philosophie darstellen und der die religiösen Motive vor allem als innere, archetypische Bilder verstanden wissen möchte.

Drewermann kritisiert das mitunter magische Weltbild der Religionen, das nicht mehr in unsere Zeit gehört und das seiner Meinung nach zu einer gefährlichen Zersplitterung ohnehin oft wenig integrierter Psychen führt, die mit ihren magischen oder mythischen Fragmenten auf ein wissenschaftlich-technisches Weltbild treffen. Oder, wie ein Kollege in einem Online-Forum mal zugespitzt formulierte: „Man kann nicht morgens zur Darmspiegelung gehen und abends zum Schamanen.“

Was Religion uns geben kann

Doch genau das ist die Frage, da das naturalistische Weltbild, das hinter den Naturwissenschaften steht, seinerseits Erklärungslücken offen lässt. Die Naturwissenschaft ist gut darin, die Funktion von Dingen und Zusammenhängen zu erklären. Fragen der Soziologie, Psychoanalyse, der Kunst, aber auch der Werte und des Rechts sind ebenso wenig ihr Ressort, wie Spiritualität und Religion. Und das sind die Fragen, die uns als Menschen im Innersten berühren: Wie wir die Angst reduzieren, die Hoffnungslosigkeit überwinden können, was Glück, ein gerechtes, sinnvolles und gutes Leben ausmacht. Ludwig Siep, ein humorvoller und abgeklärter Philosoph, der sich dieser Themen angenommen hat, bemerkte dazu, das Dogma des Liberalismus habe ausgedient, dessen Tenor war: Wenn nur die Rahmenbedingungen stimmten, würden die Menschen von selbst den Weg zum Glück finden.

So einfach ist es wohl doch nicht und viele Menschen brauchen Orientierung. Religion gibt Orientierungshilfen. Versiegen diese Angebote suchen sich viele die Antworten in Verschwörungstheorien, die dann stellvertretend das Bedürfnis nach Mysterium („Ist es nicht merkwürdig, dass … .“) und Auserwähltheit bedienen oder wenden sich extremistischen Angeboten mit ihren klaren Schwarz/Weiß-Bildern zu. Die berechtigte Frage an dieser Stelle ist, ob man nicht all das hinter sich lassen kann, aber hier beißt sich die Katze in den Schwanz, denn die großzügige Vernachlässigung von Innenweltlichem, mit dem naturalistische Ansätze oft wenig anfangen können, führt nicht selten in jene aggressive Ablehnung jeder Form von Religion, die auf ihre Art selbst wieder simpelste Gut/Böse-Weltbilder erzeugt.

Werte, Sinn, Hoffnung und dergleichen sind die Essenzen des menschlichen Lebens, selbst Klatsch und Tratsch haben den Sinn uns unserer Einschätzung der Lage wechselseitig zu vergewissern und zu checken, ob unsere Welt noch in gewohnter Ordnung ist. Religiöse Menschen wissen oft wofür sie leben, haben Hoffnungen, was den Tod angeht und sie zeichnet eine gewisse Schicksalsgläubigkeit aus, die in manchen Lebensbereichen eher ein Nachteil, in anderen ein Vorteil ist.

Auch die größten Kritiker haben erkannt, dass die Religion ein robustes Mem darstellt und so versuchen Philosophen heute der Religion ihr Geheimnis abzulauschen. Seit 1000en von Jahren existent, ist die Religion zwar in Europa und einigen anderen Ländern der westlichen Wertehemisphäre auf dem Rückzug, doch weltweit ist sie das absolut dominierende Weltbild.

Gefahren der Spiritualität

Raum mit dunklen Holzplanken, die das Außenlicht spiegeln.

Karg, schlicht, schön: Ein Zen Dojo, in dem man sitzend meditiert. © soaringbird under cc

Spiritualität funktioniert, das ist heute, gerade auch im Lichte der Hirnforschung nicht mehr zu leugnen. Heilige und Psychopathen sind tatsächlich neurologisch anders gestrickt und nach etwa 10.000 Stunden Meditation hat sich das Gehirn Meditierender dauerhaft verändert. So liegt eine Gefahr der Spiritualität gerade darin, dass sie gut funktioniert und das Elemente daraus genutzt werden können, um noch effektiver und optimierter zu werden, ein Thema, was wir bereits ansprachen. Man kann fokussierter und zielstrebiger werden und es ist eine Frage des Kontextes, wie gut oder schlecht das ist.

Aber es wäre falsch Spiritualität allein auf die Meditation zu beschränken. Im Laufe der Jahrtausende haben sich unterschiedliche spirituelle Praktiken herauskristallisiert und bei allen muss man den Kontext mitbetrachten. Fasten, Wachen, Einsamkeit, Koans, psychoaktive Substanzen, Atem- und Körperübungen des Yoga oder Tai Chi sensibilisieren uns für Bereiche, zu denen wir im Alltag kaum Bezug haben, auch weil sie irgendwie nicht in unsere Zeit zu passen scheinen. Alle diese Wege haben ihre Chancen und Risiken, für manche Menschen in bestimmten Phasen ihres Lebens.

Intensiv regressive Atemtechniken wie das verbundene oder holotrope Atmen sind potent und gerade deshalb auch eine Gefahr. Man muss wissen, was man tut und wie man sich „erdet“. Meditation kennt zig verschiedene Formen, selbst dann, wenn man den Meditationsbegriff eng fasst. Meditation ist im schlimmsten Fall ein Weg in die Psychose, aber ebenso gut ein Weg aus ihr heraus. Der Psychiater und Buddhist Edward Podvoll hat diese Wege in seinem Buch „Aus entrückten Welten: Psychosen verstehen und behandeln“ aufgezeigt.

Ebenso kann eine schwere Persönlichkeitsstörung durch spirituelle Erfahrungen im Laufe der Meditation verfestigt werden, wie etwa bestimmte Größenphantasien, aber zugleich hat die US-amerikanische Psychotherapeutin Marsha Linehan, für eben diese Persönlichkeitsstörungen, mit ihrem System der dialektisch-behavioralen Therapie bewusst und explizit auch auf Elemente östlicher Meditationspraktiken zurückgegriffen. Zersplittern und zusammenfügen, Chancen und Risiken. Beides ist drin und das Ganze Konzept macht die Musik.

So ist Zen nicht allein die Sitzmeditation Zazen oder das meditative Gehen (Kinhin), die Gemeinschaft und die starke Strukturierung durch Einfachheit und Bodenständigkeit gehören dazu. Ist nun der Buddhismus, bei dem in vielen Formen Götter keine Rolle spielen, eine Religion? Ist Zen noch Religion zu nennen oder ist es viel eher eine Methode, eine spirituelle Technik? Gerade Zen erwies sich als gut kompatibel mit dem Christentum, aber auch mit der Psychoanalyse eines Erich Fromm („Zen-Buddhismus und Psychoanalyse“), vielleicht weil es auf eigene zu religiöse Elemente verzichtet.

Spiritualität ohne ethischen Kontext?

Grundsätzlicher ist die Frage zu stellen, inwieweit man Spiritualität, als reine Ansammlung von Techniken verstanden, aus einem weltanschaulichen oder ethischen Kontext herausnehmen sollte. Machen kann man das fraglos, aber ist das auch gut?

Die Frage, warum wir uns eigentlich der Spiritualität zuwenden, ist also alles andere als überflüssig, denn Techniken zur Optimierung und Ich-Inflation haben wir mehr als genug. Die Antwort, dass ein Ziel zu haben auf dem spirituellen Weg eher schwierig und kontraproduktiv ist, ist so richtig wie problematisch. Im Grunde will man damit die oft egozentrierten straight forward Ansätze aushebeln, bei denen man masterplanmäßig vorwärts schreitet, nach einem Jahr da ist, nach fünf Jahren dort und nach 10 Jahren erleuchtet. Es ist der sympathische Anteil der Spiritualität, dass es auf diese Art selten gelingt das Ziel zu erreichen. Spirituelle Entwicklung stellt sich nicht über Fleißkärtchen ein. Die Geschichten des Zen sind voll von Beispielen, die das Gegenteil zeigen: Jemand meditiert unablässig und mit großem Eifer, aber Erleuchtung findet er nicht. Als er nach Jahren der Entsagung sein Scheitern eingesteht und frustriert im Bordell verschwindet, findet er Erleuchtung. Und auch andersrum geht es. Beim ersten Meditationsversuch mögen tatsächlich die Knie weh tun, aber ebenso gut kann man augenblicklich Erleuchtung erfahren. Doch so chaotisch das mitunter wirkt, spirituelle Systeme sind oft sehr strukturiert und das aus gutem Grund. Ein facettenreiches Thema, dem man sich immer wieder widmen sollte.

Spiritualität und intellektuelle Redlichkeit

Eine andere Frage ist die vom Philosophen Thomas Metzinger aufgeworfene nach Spiritualität und intellektueller Redlichkeit. Für viele, die sich nicht auskennen, ist Spiritualität noch immer ein Synonym für Spinnerei und Abschied von der Rationalität. Begriffe wie Schwärmerei und Selbstbetrug kursieren, das hat manchmal seine Berechtigung, oft jedoch nicht. Es ist Metzinger zu danken, dass er zu denjenigen Brückenbauern gehört, die Spiritualität dem philosophischen und wissenschaftlichen Diskurs zuführt. Ich stimme mit Metzinger in einigen Punkten nicht überein, empfehle seinen Text „Spiritualität und intellektuelle Redlichkeit – Ein Versuch“ aber nachdrücklich.

Esoterik und die Esowelle

Wenngleich Spiritualität in Europa kein neues Phänomen war, so war die Esoterik es doch, denn mit jenem inneren Kreis, der namensgebend bei Pythagoras steht, hatte die Esoterik schnell immer weniger zu tun. Mögen die wilden Anfänge unsystematisch gewesen sein, der Anspruch ein Geheimwissen weiterzugeben blieb. Doch so nebulös wie behauptet, war dieses neue Wissen gar nicht. Es war ein Rückgriff auf alte mythische Bilder, folgte eher der Jungschen als der Freudschen psychoanalytischen Tradition und stellte vor allem das sogenannte analoge Denken als Alternative und Kern des Ansatzes vor, der immer als ein ganzheitlicher, als Lebenspraxis verstanden wurde, nicht nur als rationales Wissen.

Wir haben hier nicht den Raum, die interessanten Wege nachzuzeichnen und müssen uns mit der Kurzform begnügen, dass die Esoterik in den 1980ern in Deutschland populär wurde und in den 1990ern einen Höhepunkt ihrer Verbreitung erfuhr, wobei wachsende Verbreitung und intellektuelle Redlichkeit sich nahezu umgekehrt reziprok bedingten. Neben der fraglos richtigen Formel, dass alles, was mir in der Welt begegnet ein Ereignis für mich ist, wurde der Nachsatz vergessen, dass das für jeden anderen Menschen in gleichem Maße gilt. So wurde die Idee, dass einem Welt etwas sagen könnte, gerade im Rahmen der Massenverbreitung zu einem maximal narzisstischen Projekt, das sich zu oft um mich, meine Symptome und Bedürfnisse dreht. Nicht zuletzt das macht so viele Esos zu anstrengenden Mitmenschen.

Esoterik ist heute ein totes Pferd und doch ging der Schuss nur knapp daneben. Immer wieder flackern heute Elemente auf, die man aus der Esoterikbewegung kennt. Neben einer recht radikalen Form von Subjektivität, die ich letztlich für richtig und wichtig halte, ist es das Wissen um die Kraft innerer Bilder, des Priming und des analogen Denkens („Die Analogie: Das Herz des Denkens“), das immer wieder an diversen Stellen aufploppt und sinnvoll ist. Weniger, die oft unsäglichen Versuche Esoterik mit Quantenphysik zu verheiraten.

Und was ist Esoterik nun? Eine Methode, eine Religion? Eine bunte Form der Ausdifferenzierung subjektiver Ansätze, manchmal eingebunden in eine große Geschichte, die uns die Welt erklären soll und damit in manchen Fälle auf jede Form intellektueller Redlichkeit verzichtet. Doch sogar hier finden wir Chancen und Risiken, denn einige Elemente stellen eine Ergänzung zu jener naturalistischen Wende dar, auf die Metzinger sich bezieht, denn man kann sein Ich nicht verlassen, es ist nun einmal das Vehikel mit dem wir Welt leben, erleben und in einigen Teilen konstruieren. Wir kennen heute sowohl objektivierende als auch subjektivierende Ansätze besser und sie beide sind Teile unseres Ich.

Was Spiritualität uns geben kann

Wenn Spiritualität ein Baustein in einem Weltbild ist, so hat das den Vorteil, dass man das Rad nicht neu erfinden muss. Es gehört zur Jugend dazu, dies dennoch zu wollen, aber die großen traditionellen spirituellen Systeme versorgen einen mit Übungen und einer allgemeinen Haltung, die die Errichtung eines Größenselbst erschweren. So finden wir Spiritualität in viele Formen eingebettet vor, aber immer auch mit dem Anspruch die Formen irgendwann hinter sich zu lassen, wenn man begriffen hat, worum es geht. Nur, man muss es erst begreifen. Und so stellen persönliche Erleuchtung und Mitgefühl, subjektive Gewissheit und eine größere Distanz zu sich die scheinbar paradoxen Ziele eines spirituellen Weges dar.

Scheinbar paradox, denn längst weiß auch die Psychologie, dass der Weg zum eigenen Glück darin besteht, andere glücklich zu sehen und zu machen. Die subjektive Gewissheit ist kein bedauerlicher Irrtum, den man mittels objektivierender Verfahren möglichst schnell korrigieren muss, sondern einer der Hauptgewinne im Leben. Eigene Erfahrung, und nur die, macht einen unabhängig von all dem Gerede, den Spekulationen, den Besserwissereien und Skeptizismen über Spiritualität. Denn egal wem ich was glaube, wie gut es bewiesen zu sein scheint, damit glaube ich wieder „nur“ (glauben und vertrauen zu können, ist jedoch auch kein Fehler) und es hat mit Spiritualität, mit eigener Erfahrung nichts mehr zu tun. Und im intersubjektiven Austausch der in der Sache Kompetenten, zählt eben, ob man tatsächlich auch auf der Ebene der eigenen Erfahrung kompetent ist. Ob die Deutungen und Schlussfolgerungen dann stimmen, ist Teil des Diskurses, der in der Gemeinschaft der Wissenden, nicht der Ahnungslosen, stattfinden sollte. Die Chancen und Risiken in diesem Bereich sind weit tiefgreifender, als man meint.

Einer der großen Bereiche, in dem Spiritualität und einige ihrer Disziplinen uns helfen können, ist die Gesundheit. Nicht nur die oben erwähnten Beispiele psychischer Gesundheit, auch die körperliche. Ob es der Kontakt mit dem inneren Arzt ist, die Erzeugung heilender innerer Bilder, die Psychosomatik, die Schmerztherapie[1] oder die allgemeine, unspezifische Stressreduktion in Ansätzen wie dem MBSR von Kabat-Zinn, überall kann man spirituelle Elemente einsetzen.

Irrwege

Die merkwürdige Weigerung über die eigene spirituelle Praxis zu reden ist so ein Irrweg. Bringen wir es noch mal auf den Punkt: Es ist überhaupt nicht einzusehen, warum die Frage wie spirituell kompetent jemand ist, in einer Diskussion über Spiritualität so gar keine Rolle spielen soll. Es ist gut und hilfreich, wenn sich Philosophen, Hirnforscher und Psychologen der Spiritualität annehmen und der philosophische, neurologische oder psychologische Blick auf etwas eröffnet uns ganz sicher neue Perspektiven, aber all das ersetzt die spirituelle Praxis nicht.

Adi Da in einer Alex Grey Darstellung

Adi Da, einer der Namen eines großen Erleuchteten, verrückten Gurus, schrillen Exzentrikers und Künstlers. © Attanatta under cc

Wenn Spiritualität eine Form der Erkenntnis sein soll, warum soll man nicht sagen können, was man erkannt hat? Es kann ja eingekleidet, metaphorisch oder analog sein, was Sprache ohnehin oft genug ist. Prinzipiell ist es nicht unsicherer von einer Erleuchtungserfahrung zu sprechen, als von einer Tomate. „Ist das auch wirklich eine Tomate, kann ich sicher sein, könnten meine Sinne mich nicht täuschen und die, die es bezeugen, mich nicht anlügen?“ Skepsis hat in der Philosophie aus gutem Grund ihre Grenzen gesetzt bekommen und das Ergebnis, dass man, nach allem was man wissen kann, eine Tomate vor sich hat, reicht für den Alltag prima aus. Für diesen ist aber auch die Spiritualität gedacht und wenn bestimmte Kriterien erfüllt sind, ist es eben auch hinreichend von einer spirituellen Erfahrung zu sprechen. Wenn eine Erfahrung so ähnlich beschrieben wurde, andere Praktizierende sie bestätigen und man selbst das Gefühl hat, man habe etwas erfahren, was man so noch nicht kennen gelernt hat und was sich gegen handelsübliche begriffliche Einkleidungen sperrt, dann gibt es guten Grund von einer spirituellen Erfahrung zu sprechen und wenige, es nicht zu tun.

Gerade harte Kritiker gefallen sich in der Aussage, sie hätten sich mit so einem Unsinn nie auseinandergesetzt oder allenfalls mal ein Wochenende, was in puncto argumentativer Niveauarmut und Ignoranz dem ärgsten Esoteriker in Bezug auf nicht vorhandene intellektuelle Redlichkeit locker Konkurrenz macht. Überlegen wir nur mal, jemand fühle sich zur Medizin befähigt, weil er als Kind „Doktorspiele“ gespielt habe oder zur Astronomie, weil er gelegentlich zum Himmel schaut.

Meine Meditation ist …

Auch die Rede von „meiner Meditation“ ist in vielen Fällen so ein Irrweg. Eine Aussage von Menschen, die eigentlich nicht meditieren und dann irgendwas als ihre Meditation deklarieren. Die Meditationsformen sind reich und bunt, doch es gibt Grenzen, jenseits derer es sich schlicht und einfach nicht um Meditation handelt. Wahr ist, dass Meditation eine Geisteshaltung ist – aber keine Weltanschauung – das heißt, dass es nicht nur theoretisch möglich, sondern praktisch sinnvoll ist, das was man auf dem Meditationskissen erfahren hat, in den Alltag zu überführen. Ja, man muss auch im Getümmel des Hauptbahnhofs meditieren können, aber es hat seinen Grund, dass man nicht dort, sondern in der zwischenzeitlichen Ruhe und Abgeschiedenheit beginnt. Auch in der Spiritualität gibt es Supertalente und Überflieger, aber die meisten sind das eben nicht.

Die Weigerung über die eigene Praxis zu reden, auch dann nicht, wenn man diskret und taktvoll gefragt wird, ist ein starker Hinweis darauf, dass Menschen oft kaum oder gar nicht praktizieren und insofern spirituell ahnungslos sind, gleich welche Bücher sie gelesen haben und welche fMRT Untersuchungen sie kennen.

Achtsamkeitstraining

Auch Achtsamkeitstraining führt uns allenfalls in die Nähe, die Vorhalle der Spiritualität. Achtsamkeitstraining ist gut und wichtig und es gibt viele Menschen, die davon profitieren, das soll nicht kleingeredet werden. Wie überall existieren Grauzonen und auch den Gegensatz gut und nützlich oder spirituell gibt es in dieser Ausschließlichkeit nicht. Auf all diesen Basisformen kann man, wenn man sie lange genug fortführt, aufbauen und sie irgendwann zu echten spirituellen Praktiken ausbauen oder zu solchen übergehen, nur sollte man beide Bereiche nicht zu schnell in einen Topf werfen, wenn das Ergebnis nicht läppisch werden soll.

Verrückte Gurus

Verrückte Gurus und dubiose Sekten gehören schon pflichtgemäß zu dem, wovor gewarnt werden muss. Zwar formuliert Herbert Fritsche, dessen Vita sich im intellektuellen Kontext sehen lassen kann, in seinem Buch „Der große Holunderbaum“, dass auch „die dümmsten Verkünder, die kümmerlichsten Erlösungssekten“ ihre Berechtigung haben können, da gerade „[d]ie Enge der dort als Weite propagierten Anschauungen, die Schiefheit der Lehre und das bauernschlaue Vortäuschen von ‚Einweihungen'“ dem, „der größeres Format mitbringt“ „alsbald durchschaubar“ wird, doch man muss auch an diejenigen denken, die dieses Format nicht mitbringen.

In „Meister Gurus Menschenfänger“ von Ken Wilber, Bruce Ecker und Dick Anthony oder Die spirituelle Herausforderung von Margit und Rüdiger Dahlke werden die Chancen und Risiken der Spiritualität und Esoterik angesprochen, von Menschen, die über eigene praktische Erfahrungen verfügen. Doch im Kontext von Chancen und Risiken soll auch vor anderen gewarnt werden:

Selbsternannte Experten

Es ist schön, wenn heutzutage breiter entdeckt wird, dass Spiritualität und intellektuelle Redlichkeit sich nicht ausschließen, aber ehrlich gesagt weiß das eine Unzahl von redlichen, spirituellen Menschen schon sehr viel länger. Es ist heute, nicht zuletzt aufgrund der Ergebnisse der Hirnforschung, einfach nicht mehr zu leugnen, dass Meditation ganz handfeste und messbare Auswirkungen hat, aber das wussten die Menschen, die vorher praktizierten ebenfalls schon sehr viel länger. Es ist gewiss schön, wenn das Thema jetzt auch in Kreisen von Wissenschaft, Psychologie und Philosophie angekommen ist, weniger schön ist es, wenn von hier aus durchgestartet wird und nun so getan wird, als seien sie die einzig ernstzunehemenden Stimmen. Das ist eher eine seltene Ausnahmen und alles steht und fällt wieder mit der eigenen Praxis.

Wenn Menschen seit Jahren oder Jahrzehnten meditieren und obendrein Psychologen, Philosophen oder Hirnforscher sind, wunderbar. Doch das findet man nicht oft und die Forderung nach intellektueller Redlichkeit gebietet dies klar zu sagen. Viele die sich berufen fühlen sich zum Thema Spiritualität zu äußern, verfügen im besten Fall über einen profunden theoretischen Hintergrund, aber oft nicht einmal das und eine spirituelle Praxis ist nicht vorhanden. Jeden Sportler, Musiker, Physiker kann man fragen, wie lange er trainiert, gelernt, geübt hat und es ist absolut selbstverständlich das auch zu erzählen, geht es um Spiritualität beginnt nicht selten das maximale Herumdrucksen: „Ja, ich will mich ja nicht in den Mittelpunkt stellen, es geht ja nicht um mich und mein Ego.“

Wo ist das Problem, zu sagen, dass man seit 10 Jahren täglich eine halbe Stunde Zazen macht, oder eine Stunde Yoga praktiziert, das nicht nur den Rücken oder Bauch stärken soll? Warum kann man nicht sagen, dass man zwei Mal im Jahr zu Sesshin fährt, bestimmte Erfahrungen beim holotropen Atmen gewonnen hat oder eine intensive Einheitserfahrung in der Natur hatte? Besser 20 als zwei solcher Erfahrungen, besser man kann mehrere vergleichen, was hätte man sonst zum Diskurs beizutragen, als das was man gehört hat oder was irgendwo auf Seite 376 steht? Das wäre dann wieder reiner Glaube. Dass man unsicher ist, kein Problem, denn die Begriffe dafür gehören nicht zum festen Repertoire unserer Alltagssprache, aber es ist mindestens traurig und ärgerlich, dass manche Menschen sich nicht trauen von ihren Erfahrungen zu berichten, aus Angst, zukünftig nicht mehr ernst genommen zu werden.

Einheitserfahrungen

Authentische spirituelle Erfahrungen sind in aller Regel Einheitserfahrungen und zwar gerade auch in den Bereichen, von denen wir gelernt haben, dass hier keine Einheit vorhanden ist. Mit anderen Menschen, der ganzen Natur oder dem gesamten Universum, wahlweise mit oder ohne Gott. Das ist herausfordernd und hat im Rahmen unseres Weltbildes eigentlich keinen Platz. Wer diese Erfahrungen gemacht hat, weiß aber, dass man diese Einheitserfahrungen erleben kann, ob und wie sie zu erklären sind, ist eher sekundär (wenngleich nicht uninteressant), wichtig ist, was diese Erfahrung im Individuum bewegt.

Carl Gustav Jung

C.G. Jung: spirituell interessiert und blitzgescheit. © David Webb under cc

Konsequenterweise und im Rahmen einer eigenen logischen Folgerichtigkeit sollte das Mitgefühl steigen, denn wo ich eine Einheitserfahrung habe, fällt die Dualität von Ich und Du oder Ich und Welt für Momente in sich zusammen. Was meinen andere zu meinen Erfahrungen? Kennen sie das, oder nicht und was sagen sie dazu, sie, die spirituell Kompetenten, die wissen, wovon die Rede ist? Bin ich bezüglich meiner Erfahrungen sicher, haben sie eine alles überragende Überzeugungskraft? Das ist gewiss nicht ohne Risiko, denken wir an die imperativen Stimmen, die manche in ihrem Kopf hören und die ebenfalls subjektiv überzeugend sind. Aber warum pathologisieren, was keinesfalls durchgehend pathologisch ist? Bin ich bei aller eigenen Erfahrung offen und zum Diskurs bereit? Das schließt sich nicht aus und Spiritualität ist alles andere als ein solitärer Trip. Wo nur eine mögliche Deutung vorherrscht lauert der Fundamentalismus, doch warum sollte man zwingend Fundamentalist sein, wenn man spirituell ist? Gerade auch in diese Richtung müssen wir verstärkt fragen und die faulen Eier aussortieren, dass sind die, die viel reden und über wenig bis keine praktische Erfahrung verfügen.

Auf sehr vielen spirituellen Wegen ist zudem klar, dass Einheitserfahrungen und andere außergewöhnliche Bewusstseinserfahrungen zwar fast unweigerlich dazugehören, jedoch auch eine Falle sind. Es geht den meisten spirituellen Lehrgebäuden der großen Traditionen nicht darum eine Parallelwelt aufzubauen und nur noch in Ekstase durch die Welt zu schweben. Nein, diese Bewusstseinserfahrungen sind Teil des Wechsels der Erfahrungen die das Leben insgesamt ausmachen. Spiritualität führt uns im besten Fall aus unseren Konditionierungen und Projektionen heraus und das bedeutet auch an den außergewöhnlichen Bewusstseinszuständen nicht festzuhalten … an gar nichts festzuhalten.

Warum Religion sich bis heute hält

Wir sagten, dass in vielen Teilen der Welt die Religion das dominierende Deutungssystem ist. Auch bei uns liegt der Anteil der mehr oder minder Religiösen bei 60%. Und dort wo das Interesse an Religion zurückgeht, ist es tatsächlich so, dass das Interesse an Spiritualität im etwa gleichen Maße steigt. Angesichts unserer naturalistischen oder wissenschaftlich-technischen Prägung, die ja nicht erst um die Jahrtausendwende begann, ist das doch eigentlich sonderbar. Wir müssten es besser wissen und könnten uns die Welt auch ohne Götter und Geister erklären, wenn wir wollten.

Nicht wenige tun das und dieses fröhliche Zerschießen ist unter dem Stichwort „Entzauberung“ in die Literatur eingegangen. Die Erfolge der neuen Sichtweise sind Legion, nirgends brauchte man noch Götter um Krankheiten und Hochwasser oder die Entstehung des Kosmos zu erklären. Doch irgendwas scheint zu fehlen. Auf die Sinnfragen, die, die den Menschen umtreiben, gab es keine Antwort und selbst die Freiheit, zu tun was man will, gerät irgendwann an ihre Grenzen. Und auch dort wo wir Antworten kennen, müssten wir sie konsequent umsetzen, tun es aber oft nicht. Irgendwas funktioniert nicht, ironisch, in einer Zeit, die sich überwiegend dem Funktionalismus, oft bis hinein in die Psychotherapie, verschrieben hat. Chancen und Risiken, auch hier.

Religionen sind in ihren Deutungen manchmal schlicht, aber sie geben Orientierung, Antworten, halten die Reihen geschlossen, sagen, was richtig und falsch ist. Nur ist der Preis eben der, dass man glauben muss oder, je nach Sichtweise, glauben darf. Aber wie kam es überhaupt dazu, dass sich Religionen entwickelten? Eine gängige Deutung ist, dass die Religion ein antiquiertes Modell ist, man wusste es einfach noch nicht besser und da erfand man eben Götter und Geister um sich Naturvorgänge zu erklären. Aber wie kommt man überhaupt auf so eine Idee und warum sollten andere das ohne Not glauben? Ich denke, Religionen sind viel eher entstanden, weil sie die inneren Erfahrungen der Menschen einfangen und erklären. Die Ahnenheister der Toten erschienen in der Nacht, vielleicht in Gefahrensituationen, beim Konsum bestimmter Rauschmittel. Die ersten religiösen „Facharbeiter“ waren vermutlich die Schamanen die Reisen in diese Welten systematisch durchführten. Und immer wieder konnten die Erfahrungen dieser inneren Reisen bestätigt werden, von anderen spirituell Praktizierenden, aber auch von gläubigen Menschen, die unsystematisch und zufällig ihre Gipfelerfahrungen machten, vor der Madonna oder im religiösen Gemeinschaftserlebnis bei Pilgerreisen oder Gottesdiensten, in allen möglichen Religionen, zu allen Zeiten.

Religionen halten sich nicht, weil sie vollkommen absurd sind, sondern weil bestimmte innere Erfahrungen immer wieder gemacht wurden und bestätigt werden konnten und sei es nur im Minimalkonsens der Form: „Ja, da gibt es irgendwas.“

Quellen: