Nachdem Spiritualität und Religion lange Zeit als Geschwister galten, sehen viele Forscher und Denker sie heute als eigenständige Meme an, eine Ausdifferenzierung, die eigene Chancen und Risiken hervorruft. Wie wir im letzten Beitrag sahen, beruht Spiritualität auf eigener Erfahrung, Religion ist mit dem Glauben an die Erfahrungen anderer verbunden. Zudem kann man religiös sein, ohne spirituell sein zu müsen und umgekehrt. Schauen wir uns diese Ausdifferenzierung nun genauer an.
Religion im Kreuzfeuer
Die europäische Tradition ist einerseits geprägt durch das Christentum, das seinerseits den jüdischen Glauben und die griechische Philosophie zu ihren Wurzeln zählt und auch ansonsten ein Schmelztiegel unterschiedlicher Strömungen ist. Zum anderen, durch die Erkenntnisse der Aufklärung, die eine atheistische und säkulare Ausrichtung ins Spiel bringt. Was auf den ersten Blick nicht gut zusammen passt und auch immer wieder in Fehden und Unterdrückungen führte, kooperierte aber trotz allem eine lange Zeit sehr gut und effektiv. Wissenschaft und Technik feierten ihre Erfolge und emanzipierten sich zusehens von den Kirchen, doch auch nach dem Zweiten Weltkrieg waren noch weit über 90% der Menschen in Deutschland konfessionell gebunden. Langsam aber stetig sank diese Bindung, aber die Stimmung war dabei nicht sonderlich aufgeheizt. Doch das änderte sich: Terror, Kindesmissbrauch, Volksverdummung, Gehirnwäsche, Geldverschwendung, eine fragwürdige Einstellung zur Sexualität und zu Frauen. Die Liste der Anklage, nicht nur gegen das Christentum, sondern die Religionen im Allgemeinen, ist lang. Teils neigen Religionskritiker selbst zum Fundamentalismus, doch mitunter ist ihre Kritik durchaus inhaltlich begründet und so verloren die Religionen, durch Kritik und Skandale, in den letzten Jahren in Deutschland und Europa an Ansehen, so dass es 2014 sogar zu einer Rekordaustrittswelle kam und die größte Gruppe der Menschen in Deutschland heute nicht mehr konfessionell gebunden ist. Die Abstimmung mit den Füßen ist vielleicht die deutlichste Form der Kritik und sie trifft das katholische und evangelische Lager.
Die schrillsten Formen der Religionskritik sind oft ihr eigenes Gegenargument, doch die Religionen hatten stets auch ihre potenten Gegner. Nietzsche und Freud, sowie Feuerbach und Marx sind die klassischen Stimmen. Heute ist Eugen Drewermann ein starker Vertreter der Kirchenkritik, dessen Gegenargumente eine kluge Synthese aus Naturwissenschaft, psychoanalytischer Bibelexegese und Philosophie darstellen und der die religiösen Motive vor allem als innere, archetypische Bilder verstanden wissen möchte.
Drewermann kritisiert das mitunter magische Weltbild der Religionen, das nicht mehr in unsere Zeit gehört und das seiner Meinung nach zu einer gefährlichen Zersplitterung ohnehin oft wenig integrierter Psychen führt, die mit ihren magischen oder mythischen Fragmenten auf ein wissenschaftlich-technisches Weltbild treffen. Oder, wie ein Kollege in einem Online-Forum mal zugespitzt formulierte: „Man kann nicht morgens zur Darmspiegelung gehen und abends zum Schamanen.“
Was Religion uns geben kann
Doch genau das ist die Frage, da das naturalistische Weltbild, das hinter den Naturwissenschaften steht, seinerseits Erklärungslücken offen lässt. Die Naturwissenschaft ist gut darin, die Funktion von Dingen und Zusammenhängen zu erklären. Fragen der Soziologie, Psychoanalyse, der Kunst, aber auch der Werte und des Rechts sind ebenso wenig ihr Ressort, wie Spiritualität und Religion. Und das sind die Fragen, die uns als Menschen im Innersten berühren: Wie wir die Angst reduzieren, die Hoffnungslosigkeit überwinden können, was Glück, ein gerechtes, sinnvolles und gutes Leben ausmacht. Ludwig Siep, ein humorvoller und abgeklärter Philosoph, der sich dieser Themen angenommen hat, bemerkte dazu, das Dogma des Liberalismus habe ausgedient, dessen Tenor war: Wenn nur die Rahmenbedingungen stimmten, würden die Menschen von selbst den Weg zum Glück finden.
So einfach ist es wohl doch nicht und viele Menschen brauchen Orientierung. Religion gibt Orientierungshilfen. Versiegen diese Angebote suchen sich viele die Antworten in Verschwörungstheorien, die dann stellvertretend das Bedürfnis nach Mysterium („Ist es nicht merkwürdig, dass … .“) und Auserwähltheit bedienen oder wenden sich extremistischen Angeboten mit ihren klaren Schwarz/Weiß-Bildern zu. Die berechtigte Frage an dieser Stelle ist, ob man nicht all das hinter sich lassen kann, aber hier beißt sich die Katze in den Schwanz, denn die großzügige Vernachlässigung von Innenweltlichem, mit dem naturalistische Ansätze oft wenig anfangen können, führt nicht selten in jene aggressive Ablehnung jeder Form von Religion, die auf ihre Art selbst wieder simpelste Gut/Böse-Weltbilder erzeugt.
Werte, Sinn, Hoffnung und dergleichen sind die Essenzen des menschlichen Lebens, selbst Klatsch und Tratsch haben den Sinn uns unserer Einschätzung der Lage wechselseitig zu vergewissern und zu checken, ob unsere Welt noch in gewohnter Ordnung ist. Religiöse Menschen wissen oft wofür sie leben, haben Hoffnungen, was den Tod angeht und sie zeichnet eine gewisse Schicksalsgläubigkeit aus, die in manchen Lebensbereichen eher ein Nachteil, in anderen ein Vorteil ist.
Auch die größten Kritiker haben erkannt, dass die Religion ein robustes Mem darstellt und so versuchen Philosophen heute der Religion ihr Geheimnis abzulauschen. Seit 1000en von Jahren existent, ist die Religion zwar in Europa und einigen anderen Ländern der westlichen Wertehemisphäre auf dem Rückzug, doch weltweit ist sie das absolut dominierende Weltbild.