Reifen Kinder zu selbstständigen Persönlichkeiten heran, brauchen Eltern starke Nerven: das Kind hört nicht mehr, will seinen Willen durchsetzen … – so die Annahme. Grenzen setzen, sich nicht auf der Nase herumtanzen lassen, dem kindlichen Willen nicht nachgeben, sind Eckpunkte von dem, was als gute Erziehung gilt.
Doch statt „Mein Kind hört nicht“ oder „Dieses Kind ist aber brav“ schlagen Eltern immer öfter neue Töne in der Erziehung an. Die gefürchtete Trotzphase wird in „Autonomiephase“ umbenannt, statt Gehorchen ist von Gleichwürdigkeit die Rede und Regeln gelten allgemein statt von Eltern gesetzte Grenzen für Kinder.
Warum und wie dieser Ansatz funktionieren könnte und wieso es nicht so schlimm sein könnte, wenn das Kind beziehungsweise der Heranwachsende nicht hört, soll in dieser Reihe zur Autonomiephase aufgezeigt werden.
Modelllernen als wichtigste Lernform
Modelllernen (Bandura, 1976) gilt als eine der wichtigsten – wenn nicht gar die wichtigste – Lernform im Tierreich. Die Umsetzung ist so einfach wie kompliziert: Verhalten sich Eltern streng und machtorientiert, werden es die Kinder anderen gegenüber womöglich (spätestens in der Pubertät) ebenso tun. Verhalten sich Eltern dagegen rücksichtsvoll, hören zu und nehmen die Ansprüche und Einwände der Kinder ernst, dürfen sie zukünftig auf eben jenes Verhalten seitens der Sprösslinge hoffen. Hilft man dem Kind beim Aufräumen seines Zimmers, kann man mit großer Wahrscheinlichkeit auf seine Hilfsbereitschaft zählen, wenn man es um Hilfe bittet. Kurzum: Schreiende Eltern, schreiende Kinder; besonnene Eltern, ruhige Kinder.
Aber das Kind hört nicht, es gibt auch Grenzen! Oder?
Natürlich gibt es Grenzen, aber vorrangig nicht von Eltern willkürlich (?!) festgelegte, sondern die Wahrung persönlicher Grenzen. Gemäß Jesper Juul (2013), Therapeut und einer der führenden „Erziehungsexperten“ unserer Zeit, bedarf es starker Eltern, die für sich selbst persönliche Grenzen ziehen, sodass die Kinder lernen können, auf ihre eigenen Grenzen zu achten, welche ebensolchen Respekt verdienen.
Beispiel: Statt „Du musst jetzt ins Bett!“ wäre es womöglich besser, zu verdeutlichen, dass man selbst andernfalls später zu müde sein oder keine Lust mehr haben könnte, um eine Geschichte vorzulesen. Auf der anderen Seite sollten aber auch die Bedürfnisse der Kinder akzeptiert werden. Womöglich ließe sich eine Einigung herbeiführen, in welcher dem Kind noch einige Minuten zum Spiel verbleiben, sodass es dann selbstständig beenden kann.
Gewohnheit und die Strukturierung des Alltags erleichtern darüber hinaus den Umgang mit kniffligen Situationen.
Regeln für alle!
Innerhalb der Familie kann es selbstverständlich Regeln geben. Und oftmals kann nicht dem Willen des Kindes entsprochen werden, aber es sollte eine Erklärung hinter der Ablehnung stehen. Daraus erwachsene Frustrationen beim Kind müssten (auf Seiten des Kindes und der Eltern) ausgehalten und aufgefangen werden.
Beispiel: Statt „Es gibt jetzt keine Süßigkeiten“ und ein Aufregen darüber, dass das Kind nicht hört, nicht versteht und trotzt, ließe sich womöglich ein für alle Familienmitglieder festgelegter und zelebrierter Naschtag umsetzen, am welchem jeder sich etwas aussuchen darf. Zudem könnte man aufklären, aufzeigen, warum zu viele Süßigkeiten ungesund sind. Doch allzu oft lässt sich die Naschlust nicht von kognitiver Kontrolle steuern, vielleicht einigt man sich auf eine Kleinigkeit, die das Kind sich aussuchen darf, serviert im Gegenzug dazu aber täglich frisches Gemüse – ein Deal sozusagen.
Generell gilt: Die letzte Steuerungsinstanz liegt bei den Eltern, sie entscheiden, ob und welcher Spielraum möglich ist. Dennoch hat es niemand gern, bevormundet zu werden, das betrifft große und kleine Menschen. Und man kann nicht den gesellschaftlichen Umgang monieren (zum Beispiel schnoddriger Umgangston, befehlsartige Anweisungen des Chefs, Ungerechtigkeit und nicht Geachtet werden im Job …), wenn man all jenes der nächsten heranwachsenden Generation in puncto Erziehung überwiegend vorlebt. Doch um Althergebrachtes zu durchbrechen, erfordert es Mut.
Auch Ängste in Zusammenhang damit, dass Kinder durch diese Art der Erziehung nicht bereit für die spätere gesellschaftliche Realität beziehungsweise dem Arbeitsleben sein könnten, scheinen sich nicht zu bestätigen. Das Gegenteil scheint der Fall zu sein: Eine stabile Persönlichkeit und die Wahrung des eigenen Ichs (demnach eben auch ein Kind, das nicht immer hört) könnten sie vermutlich mit solchen Unwägbarkeiten besser umgehen lassen, wie im nächsten Teil zur Autonomiephase aufgezeigt werden soll.
Quellen:
- Bandura, A. (1976). Lernen am Modell. Stuttgart: Klett.
- Juul, J. (2013). Aggression: Warum sie für uns und unsere Kinder notwendig ist. Frankfurt am Main: S.Fischer.