Selbstzensur ist heute für einige Menschen wieder ein Thema. Hinter mehr oder weniger verschlossenen Türen, mit einer mehr oder weniger geballten Faust in der Tasche wird dann gesagt, man dürfe ja heute nicht mehr sagen, was man wirklich denkt. Zwar sei es nicht so, so die Meinung vieler Menschen, dass man wie in totalitären Regimen verfolgt, abgeholt und eingesperrt würde, aber wie FDP Vize Wolfgang Kubicki formuliert:
„Erhebungen von Meinungsforschungsinstituten haben ergeben, dass mehr als zwei Drittel der Menschen bei bestimmten Themen das Gefühl haben, sie können ihre Meinung nicht mehr frei äußern. Das ist nicht juristisch gemeint: Der Staat garantiert Meinungsfreiheit. Aber viele Menschen haben eben das Gefühl, dass sie bei einer unzensierten Meinungsäußerung sehr schnell in ein soziales Abseits geraten können – bis hin zur Existenzvernichtung. Wenn etwa eine Redakteurin beim MDR eine potenzielle Koalition aus CDU und AfD „bürgerlich“ nennt und es anschließend öffentliche Forderungen gibt, diese Redakteurin dürfe nie wieder auf den Bildschirm, stellt man fest, dass eine Meinungsäußerung zu unvorhersehbare Problemen führen kann.“[1]
Das gilt nicht nur für die Redakteurin, in den Augen vieler Menschen ist unser Alltag, wenn es um öffentliche Meinungsäußerungen geht, ein Spießrutenlauf geworden.
Der semantische Eiertanz
Dies muss man vermeiden, das darf man so nicht sagen, überall muss auf die richtige Besetzung geachtet werden. Es wird mehr oder weniger intensiv darüber debattiert, wer welche Gedichte übersetzen darf, wer irgendwo eingeladen werden muss und wer auf keinen Fall erscheinen oder reden darf und wer wen überhaupt verstehen kann. Können Weiße farbige Menschen verstehen? Was wissen Reiche wirklich von den Nöten der Armen? Haben Wessis eigentlich eine Ahnung, wie Ostdeutsche wirklich ticken? Können Heterosexuelle das Leben Homosexueller nachempfinden? Können Männer Frauen verstehen, haben Alte noch den Zugang zur Jugend und umgekehrt?
Diese Liste könnte noch erweitert werden, um Tierbesitzer, Gartenfreunde, Individualtouristen, LKW-Fahrer, Tennisspieler, Briefmarkensammler, Meditierende, Veganer und alleinerziehende Mütter. Natürlich noch um beliebig viele andere Gruppen, die man so richtig nur verstehen kann, wenn man zu ihnen gehört. Aber was heißt es denn eigentlich, jemanden so richtig zu verstehen und gibt es eine Grenze dieser Forderung?
Das Problem ist, dass es bis zum Individuum durchgehend im Grunde keine Möglichkeit gibt, die Behauptung zu stoppen, dass man einander nicht verstehen kann. Denn wenn nur Homosexuelle einander verstehen können, wieso kann denn eigentlich der eine Homosexuelle den anderen verstehen? Denn der eine könnte ja Mann, die andere eine Frau sein. Oder der eine Linkshänder und der andere Rechtshänder. Rothaarig der eine, während der andere keine Haare hat. Kurz und gut: Warum markieren die einen Grenzen unüberwindbare Hürden, während die anderen dann kein Problem mehr sein sollen? Wenn man ernst macht mit der Idee, müsste man behaupten, dass niemand den anderen verstehen kann, was aber erkennbarer Blödsinn ist, da es selbstwidersprüchlich wäre, wenn der Satz stimmt. Denn jeder der sagt, er fände – wie im Satz behauptet – auch, dass die Menschen einander nicht verstehen, hat ja zumindest die Behauptung dieses Satzes durch seine Zustimmung bereits widerlegt. Denn Zustimmung zu etwas setzt voraus, dass man kapiert hat, was gemeint ist.
Das heißt, die Grenzmarken jenseits derer man den anderen angeblich überhaupt nicht verstehen kann sind mehr oder weniger willkürlich gesetzt. Das ist schon nicht besonders gut, weil formal vollkommen unüberzeugend, sachlich kommt noch ein Problem hinzu, nämlich die behauptete Unfähigkeit der anderen zur Empathie. Das ist im Grunde ziemlich harter Tobak, den Menschen die Fähigkeit zur Empathie absprechen zu wollen, denn Forschungen zeigen, dass genau das Gegenteil der Fall ist, kein Lebewesen kann empathischer und kooperativer sein, als der Mensch. Auch wenn wir es nicht immer sind.
Einfach zu behaupten bestimmten Gruppen von Menschen könnten nicht empathisch sein, muss gut begründet werden, behauptet man das pauschal ganzen Menschengruppen, wie etwa den Weißen, die ihre Kolonialismusgeschichte einfach nicht reflektieren können, so ist das auch dann Rassismus, wenn man in notdürftig ins Kulturelle übersetzen will, oder eben sexistisch, wenn er ein bestimmtes Geschlecht herabsetzt.
Das nicht sehr überraschende Ergebnis dieser Art von willkürlichen Grenzziehungen ist, dass eine Gruppe ein Interesse daran hat, sich selbst zu schützen und zu stärken, besonders die Mitglieder, die sich anhand eines bestimmten Merkmals mit einer Gruppe identifizieren oder von der Gesellschaft identifiziert werden. Die Zugehörigkeit zu bestimmten Gruppen und die Festlegung auf bestimmte Merkmale und Eigenschaften ist unvermeidlich und im Grunde auch nicht sonderlich schlimm.
Nicht so toll ist es in der Regel, wenn man als der ganze Mensch, der man ist, auf ein bestimmtes Merkmal reduziert wird oder sich selbst reduziert. Wenn man evangelisch, Mutter, Lehrerin, Geigerin, Hobbyköchin, rothaarig, Ostdeutsche und Radfahrerin und noch jede Menge mehr ist, ist das unproblematisch, wird man aber immer wieder auf nur ein Merkmal angesprochen, kann das als selbst anstrengend erlebt werden, etwa, wenn man nur als die Ostdeutsche gesehen wird.
Ähnlich kann es der Mitwelt gehen, wenn ein Mensch sich selbst auf sein Veganertum und damit ziemlich ausschließlich auf einen bestimmten Aspekt reduziert. Irgendwann möchte man mal den Menschen hinter der andauernden Kern-Botschaft kennen lernen.
Meistens hilft man also seiner eigenen Gruppe, was an sich nicht falsch ist, zumal es ja tatsächlich gesellschaftlich unterdrückte oder marginalisierte Gruppen gibt. Da das jeder macht, der mit einer Gruppe identifiziert ist und der Selbsterhalt zudem eine Grundeigenschaft von sozialen Systemen ist, ist das nicht weiter schlimm. Der wirklich kritische Punkt ist die Absage an unsere Fähigkeit zur Empathie und damit die Herabsetzung anderer, die von einigen Gruppen behauptet wird.
Verzerrungen wohin man blickt …
Wenn wir verstehen wollen, wie es zur Schere im Kopf kommt, gilt es das Verhältnis von Individuum und jenen Eigenschaften und Gruppen, mit denen es identifiziert ist, im Blick zu halten. Diese Identifikation ist gleichzeitig freiwillig und schicksalhaft, freiwillig, weil man sich aussuchen kann, wofür man sich interessiert, schicksalhaft, weil man bestimmte Neigungen und Talente eben nun mal hat.
In der Regel findet man das im Laufe des Lebens heraus. Man trifft auf Menschen, Aktivitäten oder Themen, die einen in besonderer Weise faszinieren, manchmal ist es das eine Lebensthema, das man schon als Kind erkannte, andere haben vielfältige Neigungen. Erfreut kniet man sich in ein Thema rein, schließt sich der einen oder anderen Gruppe an, das muss nicht äußerlich und formal, wie die Mitgliedschaft in einem Verein sein. Oft geschieht es innerlich, indem man feststellt, dass man Tierfreund ist, gerne bastelt, sich für Religion interessiert, sich als Frau in eine andere Frau oder eine Eisenbahn verliebt hat.
In manche Zugehörigkeit wird man eher von außen gedrängt, indem man vermittelt bekommt, dass man anders ist oder aussieht. Das kann die Haut- oder Haarfarbe betreffen, die Körpergröße oder Religionszugehörigkeit, aber auch die Fähigkeiten beim Volleyball, an der Geige oder die ganz eigene Art mit Menschen oder Tieren umzugehen. So oder so, konstituiert sich aus all dem ein Selbstbild, in dem man sich durch die Augen anderer wahrnimmt, die einem sagen, wie man ist und wo man anders ist, bei anderem findet man selbst heraus, dass man sich irgendwie mehr oder weniger für bestimmte Lebensbereiche interessiert, als andere.
Durch innere Neigungen, das Umfeld in dem man aufwächst und äußere Zuschreibungen ist man schnell jemand, der nun aus 5, 12, 20 oder noch viel mehr verschiedenen Attributen, Rollen, Eigenschaften besteht, die er in sich integrieren muss. Es scheint unterm Strich besser zu sein, wenn man auf mehreren Füßen steht, denn wenn man nur mit einer oder zwei Eigenschaften identifiziert ist oder wird. Da diese in der Summe das Selbstbild ausmachen, ist man natürlich stark verunsichert, wenn nun diese eine Eigenschaft kritisiert wird, die mich so zentral ausmacht. Auf einmal ist es ein Thema, dass man eine bestimmte Hautfarbe hat, das gleiche Geschlecht sexuell attraktiv findet, kein Fleisch isst oder so bürgerlich daher kommt.
Auf einmal hat man sich, ob man will oder nicht, mit diesem Thema, diesen Zuschreibungen auseinander zu setzen. Eine Reaktion darauf kann ein Rückzug ins Innere sein. Man wird verunsichert bis verstört, depressiv, eine andere Möglichkeit besteht darin, dass man sich eng an (s)eine Community klammert, in der das, was sonst seltsam scheint völlig normal ist und die einem Solidarität und Selbstbewusstsein vermittelt, Tipps und Tricks kennt, wie man mit bestimmten Alltagssituationen umgehen kann. Das kann sehr gut und hilfreich sein, wie man von Selbsthilfegruppen weiß, deren starker Effekt oft schon darin besteht, dass man andere kennen lernt, denen es genauso geht, wie mir, die wissen, was ich meine und nachvollziehen können, was und wie ich empfinde. Vorher dachte man, man sei der einzige Mensch, der so denkt und fühlt und nicht allein zu sein, ist bereits eine Entlastung.
… aber sie entstehen überall
Man hat plötzlich eine Art Gegenwelt zur Verfügung, in der ich nun auf einmal normal bin, wie ich bin, vielleicht sogar weil ich so bin und in der Community können die Anischten, Einstellungen und Selbstverständlichkeiten der Mehrheitsgesellschaft durchaus gegen den Strich gebürstet werden, Wer sagt denn eigentlich, wer die Normalen sind? Und was ist eigentlich normal?
Eine Folge davon kann darin bestehen, dass mit der oft wünschenswerten Aufwertung des eigenen Selbst eine Abwertung anderer einher geht. Fundamentalisten und Extremisten gehen so vor, dass sie das ausgrenzende Merkmal in sein Gegenteil verkehren. Aus dem eben noch schüchternen Wunsch, doch irgendwie dazu zu gehören und einfach ganz normal leben zu wollen, wird in bestimmten Gruppen ein Alleinstellungs- und Qualitätsmerkmal gemacht.
Wir sind die eigentlich Guten, die eigentlich Überlegenen, die Normalos grenzen uns nur aus, weil sie neidisch sind, weil sie insgeheim spüren, dass wir besser sind und schon bekommt die Geschichte einen ganz anderen Zungenschlag. Neue Narrative entstehen, nicht selten ein Fundamentalismus der Narrative. Es ist viel mehr zu holen, als die scheue Bitte um Anerkennung, auf einmal steht man mit breiter Brust da, inmitten einer stolzen Community. Hier kann man Selbstbewusstsein tanken, die Geschichte kann jedoch auch ins Überhebliche oder Fundamentalistische kippen. Dieses selbstbewusste Auftreten kann durchaus dazu führen, dass einige Gesellschaftsmitglieder diese Argumente unkritisch übernehmen, gerade wenn man selbst kein stabiles Wertesystem hat, auf das man zurückgreifen kann.
Oft aber pendelt sich das ein, man erkennt die Vorzüge und Grenzen der neuen Deutung. Die Vorteile sind, sich und andere wirklich befragen zu können, was denn die vorherrschende Einstellung über die Gewohnheit hinaus eigentlich wirklich gut, richtig oder besser macht. Das eigene Urteil dazu kann einem niemand mehr nehmen, allerdings kann man den anderen die eigene Einstellung auch nicht aufzwingen. Aber so kann man eine Diskussion nach Nachdenken anregen.
Jede Gruppe ist auch ein soziales System und hat ein gewisses ‚Interesse‘ am eigenen Erhalt und so entstehen Interessenkonflikte zwischen den Gruppen. Dazu gehört ein Ringen um die Deutungshoheit der jeweiligen Narrative oder Erzählungen. Zum Individuum gehört es, dass es sich mit manchen Einstellungen, Erzählungen und Deutungen mehr identifizieren kann, mit anderen weniger. Einige lehnt man schroff ab, wieder anderen sind einem im Grunde vollkommen egal.
Vielleicht ist man mit dem Thema Kirche stark identifiziert, mit der Frage der Schlägeroptimierung beim Badminton hingegen gar nicht, während einen die Diskussion um das Schienennetz durchaus grob interessiert, ohne dass man Detailkenntnisse hat. In aller Regel gibt es aber nicht nur ein Thema, mit dem man stark verwickelt ist, sondern mehrere. Man kann mit großer Leidenschaft Mutter, Ehefrau, Gewerkschaftsvorsitzende, Hobbytaucherin und Musikliebhaberin sein und noch so manches mehr, schon die normalen Rollen, die einem der Alltag abverlangt, sind vielfältig. Wird nun eine dieser Positionen erschüttert, kann man aus den anderen dennoch Stabilität ziehen und selbst traumatische Erfahrungen können nach und nach integriert werden. Ist man jedoch nur oder ganz besonders – überwertig – mit einer bestimmten Einstellung oder Idee identifiziert und dreht es sich immer und überall um die Hautfarbe, die sexuelle Einstellung, was man essen oder ob und an welchen Gott man glauben sollte, so ist es eine Erschütterung bis ins Mark, wenn dieser Punkt nun ins Wanken gerät.
Die meisten Menschen sind psychisch breit aufgstellt und identifizieren sich mal mehr und mal weniger stark mit den Einstellungen und Praktiken bestimmter Gruppen, die im Laufe des Lebens wechselt. Andere sind stärker und dauerhafter mit wenigen Gruppen verbunden als der Durchschnitt und daraus ergibt sich eine andauernde gesellschaftliche Dynamik. Sie drückt sich gesellschaftlich im Wettkampf der besseren Argumente aus. Individuell in einer Hierarchie der Bedeutung, die man Themen zumisst: Zu denen einen verspürt man eine gewisse weltanschauliche Nähe, mit anderen kann man sehr wenig anfangen und mit vielen hat man eigentlich keine Berührungspunkte.
Schweigende Mehrheit oder laute Minderheit?

Irgendwie ist das die neue Realität. Blasen, die einander nicht berühren, in allen existiert eine mal mehr, mal weniger andere Welt. © Conal Gallagher under cc
Wie kommt es nun zur Selbstzensur, zur Schere im Kopf? In erster Linie dadurch, dass sich die Deutungshoheit in der Gesellschaft verschiebt. Schwierig wird die Betrachtung dadurch, dass jedes Ding zwei Seiten hat, soll heißen, seit vier oder fünft Jahrzehnten rücken marginalisierte und gesellschaftlich ausgegrenzte Gruppen immer mehr in der Fokus der Beachtung.
Im Zuge der 68er Bewegung wurde die selbstverständliche Praxis, dass, was gestern gut war, auch heute gut ist, infrage gestellt. Nach dem Ende des zweiten Weltkrieges brauchte die Gesellschaft offenbar ihre Zeit um wieder zu sich zu kommen und das hieß, es wurde erst einmal auf heile Welt und den Wiederaufbau des Landes gesetzt. Heimatkitsch, Wirtschaftwunder, Fußball als gemeinsames Bindeglied und 20 Jahre später stellten die Kinder ihren Eltern unbequeme Fragen, danach, warum sie bei der Katastrophe die vor ihren Augen stattfand mitgemacht haben. Falls gefragt und vor allem, falls geantwortet wurde, in sehr vielen Familien war das kein Thema, aus verschiedenen Gründen.
Die Revolution war erfolgreich. „Nie wieder“, lautete die Devise und alles was als ‚das haben wir doch schon immer so gemacht‘ daher kam, war auf einmal suspekt und zwar gerade weil es immer schon so gemacht wurde. Die Deutungshoheit veränderte sich. Es wurden marginalisierte Gruppen mehr in den Blick genommen, von Randgruppen kann man nicht sprechen, da auch Frauen und ihre Rechte zu diesen ‚Randgruppen‘ gehörten und die Hälfte der Bevölkerung ist wahrlich keine Randgruppe mehr. Natürlich waren nicht alle Frauen auf der Seite dieser Bewegung, aber auf einmal richtete sich der Blick auf jene, die irgendwie schwach schienen. Oft nur, weil sie als schwach angesehen wurden.
Die Deutung änderte sich in der Weise, dass die von der Norm abweichenden Gruppen nicht nur als Mängelmodell angesehen wurden, sondern einfach als andere Möglichkeit das Leben zu leben. Ihr Leben und Empfinden war nicht mehr länger falsch, sondern anders. Dadurch gerät natürlich die Norm unter Druck, aber wenn die breite Mehrheit noch gemäß dieser Norm lebt und leben möchte, kann diesem Druck stand gehalten werden. Doch über die Jahre verändert sich die Gesellschaft und die Frage ist, ob der Bogen hier und da überspannt wurde. Auf diese Idee kommt man am ehesten dann, wenn man sieht, dass die größere Rücksichtnahme immer wieder auch dazu geführt hat, dass Menschen sich als Opfer darstellten, ohne welche zu sein, oder mit der Zeit feststellten, dass es ein ganz gutes Geschäft ist, von der Position des Opfers nicht loszulassen, sondern diese auszubauen. In Opferrolle ablegen: Wie man lernt, für sich selbst zu sorgen und Der Narzissmus der Ohnmacht haben wir das ausgeführt. Ausführlicher in Psychische Heilung, dort wird auch ersichtlich, warum das Thema psychologisch nicht banal ist.
Gesellschaftlich ist es auch komplex, weil eine Entwicklung so gut wie immer zwei Aspekte mit sich bringt. Einen den man oft als gut oder wünschenswert betrachtet, dann aber noch einen anderen Pol und beide bedingen einander, sind von einander kaum zu trennen[polarität]. Man hätte gerne oft den einen Pol und möchte auf den anderen verzichten, häufig kann man die Akzente ein wenig verschieben, die Übertreibungen minimieren, aber viel mehr ist nicht drin. Viele Konflikte haben den Hintergrund dass zwei Lager auf einander treffen, die jeweils nur eine Seite einer Thematik beleuchten wollen, also nur die Vorteile oder nur die Nachteile und damit es deutlicher wird, dabei gerne noch übertreiben und die Kritik der anderen Seite verzerren.
Das ist durchaus auch ein Kampf zweier Weltbilder. Gut gegen böse und der Zwang sich für eine der Seiten definitiv entscheiden zu müssen, entspricht einerseits dem mythischen Weltbild, andererseits entspricht es erneut einer gesellschaftlich regressiven Einstellung, wie bereits kurz angerissen. Das pluralistische Weltbild, was die Ambivalenz – den Fortschritt und und seine Kosten – erkennen und tolerieren kann, ist einerseits komplexer und damit reifer, andererseits fragiler und oft selbst in seinen Übertreibungen gefangen. Wir gehen auf diesen Aspekt in der nächsten Folge ausführlicher ein. Hier sei nur erwähnt, dass die Schere im Kopf, die Selbstzensur oft dadurch entsteht, dass man die andere Seite, die es nicht geben darf, vor der Welt und sich selbst gerne verbergen möchte.
Es gibt jedoch neuerdings eine noch andere Situation, nämlich die, dass es bei uns einen konsistenten Mainstream[link] von Menschen, die ziemlich gleich denken und fühlen im Grunde nicht mehr gibt. Auch wenn es zur Aufwärmübung dazu gehört, sich vom angeblich erdrückenden Mainstream abzugrenzen. Statt dessen existiert eine Vielzahl von Gruppen, die mitunter recht stark sind und ihre Interessen vertreten, darunter auch solche, die in den letzten Jahren und Jahrzehnten zu wenig beachtet wurden.
Auch die Gruppe jener, die sich für die schweigende Mehrheit hält, konservative Einheimische ist wohl eher eine lautstarke Minderheit, aber es ist nicht die einzige. Teile der Jugend sind an der Klimathematik interessiert, Frauen weisen noch einmal darauf hin, dass die Gleichberechtigung noch nicht überall erreicht ist, manche Männer, dass inzwischen sie in bestimmten Lebensbereichen benachteiligt sind, Migranten wollen nicht mehr unter strukturellem Rassismus leiden, doch wenn es heißt, weiße Menschen könnten nur (aufgrund ihrer Kolonialisierungsgeschichte) rassistisch denken, ist auch hier der Bogen überspannt, neuerdings sind auch Ostdeutsche und ihre eigene und komplexe Geschichte, sowie armen Menschen in den Fokus des Interesses gerückt oder bekommen zumindest stärkere Beachtung und all das ist berechtigt, geht aber aktuell wild durcheinander.
Der Herrenwitz ist nicht mehr lustig
So verrückt es klingt, aber auch in schlechten Witzen kumuliert ein Stück Kultur. Sie sind heute nicht mehr witzig oder nur noch in wenigen Kreisen, viele fühlen sich nicht nur deshalb orientierungslos und etwas aus der Zeit gefallen. Man meinte es doch eigentlich gar nicht so böse und ist nun irritiert bis beleidigt, dass das nicht mehr ankommt. Gleichzeitig blasen andere Gruppen zur Attacke und schießen selbst übers Ziel, wenn sie merken, dass sie punkten können in dem sie anderen erzählen, dass sie schlechte Menschen sind, weil sie noch immer denken, wie sie es gelernt haben.
‚Wir sind die Opfer und du bist schuld, dass es uns schlecht geht.‘ Das macht betroffen, weil viele heute gesellschaftlich so gepolt sind, dass sie nett sein wollen, wenn auch oft etwas oberflächlich. Denn gar nicht so selten ist die übergroße Toleranz die jemand zur Schau stellt, in der doch jeder ganz einfach machen sollte, wie es gefällt, der kaschiert Wunsch, sich mit dem was der andere eigentlich für ein Anliegen hat, gar nicht zu beschäftigen. ‚Mach‘ einfach und lass‘ mich damit in Ruhe‘ ist die Botschaft dieser Form der Toleranz. Fordert jemand intensiveres Hinschauen, ist man gekränkt und beleidigt, vor allem, wenn andere einem spiegeln, dass das eigene Verhalten gar nicht nett ist. Das macht wiederum die Gegenseite aggressiver, die dann meint, dieser oder jener Gruppe stünden schon genügend Rechte zu, irgendwann müsse nun auch mal gut sein mit den Ansprüchen.
Dann verschärft sich der Ton, man zieht sich immer mehr in Richtung seiner Trutzburg zurück, andere, die sich angesprochen fühlen, bemühen sich zu deeskalieren, manche mit klarem Blick, in dem sie die Vorwürfe versuchen zu klären, andere mit einer Geste des maximalen Entgegenkommens und sowohl die konfrontative Eskalationm, als auch die Deeskalation und die Unterwerfung finden zur gleichen Zeit auf beiden Seiten der inzwischen zahlreichen Konflikte statt.
Fettnäpfchen, so weit das Auge reicht und wenn man in der Öffentlichkeit steht, ist immer eines in der Nähe, ist das man rein treten kann. Also übt man das ein, von dem man denkt, dass es so klingt als ob die meisten es hören wollen, bereit zur Selbstzensur, weil immer mehr auf die sprachliche Goldwaage gelegt wird. Ein missratener Satz und die Karriere ist dahin, das will man nicht riskieren. Also frisst man Kreide und passt sich immer neuen Formen an, bei denen man ahnt, wer sich auf der anderen Seite ins Fäustchen lacht und ebenfalls, dass die andere Konfliktpartei noch immer meint, die Sprachverrenkungen seien doch wohl das Mindeste, was man als Ausgleich erwarten dürfe und eine nächste Gruppe wird dasitzen und selbst nicht so genau wissen, was sie von all dem halten soll, selbst wenn es in ihrem Namen geschieht.
Eskalation, Unterwerfung, Trotz, Aggression, Nachtreten, die ganze Palette wird bedient, jeder findet, was er sucht, jeder findet Beispiele, passende Stimmen und passende Zahlen, das Buch zum Thema, auf der einen, wie auch auf der anderen der vielen Seiten unserer Gesellschaft. Viele tauchen dann in eine bestimmte Blase ein, die ihnen dieses Gewirr etwas entheddert.
Die Eskalationen sind nicht schön, denn diejenigen die zuspitzen tun das mitunter nicht ohne Lust und mit viel Selbstgerechtigkeit. Sie entsprechen der Regression der zweiten Stufe, die von Aggression und paranoidem Misstrauen durchdrungen ist. Hier regiert die projektive Identifikation, eine regressive Form der Projektion, man weiß (= meint zu wissen), dass der andere finstere Absichten hat, lässt sich aber nicht für dumm verkaufen und schlägt zurück. Auf einmal scheint alles erlaubt und die vorher geübte Selbstzensur kippt in die Lust an der Provokation. Wird ein Vertreter der eigenen Gruppe bei einer dreisten Lüge erwischt, fällt dieser nicht etwa in Ungnade, denn es scheint klar zu sein, dass sowieso überall gelogen wird, man macht es also nur so, wie es überall üblich ist. Aufrichtigkeit ist ein Fake, wer behauptet, dass es sie wirklich gibt, ist ein Lügner oder naiv.
Die andere Form der Regression, die der ersten Stufe, ist weniger aggressiv, aber tatsächlich naiv. Die Grundüberzeugung ist die einer guten Welt und dass alle Menschen an sich lieb und unaggressiv sind, wenn ich es bin. Es liegt nur an mir, ist die narzisstische Komponente dieser Einstellung, die den anderen als jemanden, der selbst entschiedet. Dieser Narzissmus ist immerhin wohlmeinend, aber er nimmt den anderen dennoch nicht wahr. Ist jemand unzufrieden, muss ich also nur nett zu ihm sein, ist er noch immer garstig, muss ich noch netter sein, die Welt krankt nur an zu wenig Engagement und Liebe, wirkliche Aggression gibt es nicht. Was auch immer die Psychologen sagen, man will sich nicht davon abbringen lassen, dass die Welt ein unendlicher Spaß sein könnte, wenn man nur allen die Chance gibt zu entdecken, dass sie im Kern sehr freundliche Menschen sind. Auf Verweigerungen reagiert man mit noch mehr Verständnis, nur niemanden reizen, kein Streit, keine Konfrontation, der eigene Standpunkt wird verleugnet, die Selbstzensur ist keine schwere Übung, weil man sowieso keine richtige Meinung hat, hinter der man steht.
Menschen, die mehr verstehen gibt es natürlich auch weiterhin, sogar solche, die gute Lösungen dieser komplexen Situationen sehen, aber der Chor der Stimmen ist sehr bunt geworden und da stellt sich dann über kurz oder lang die Frage, ob nicht doch jemand moderieren könnte, auf der Basis objektiver Größen, Fakten, Werte und Erkenntnisse.
Schwer zu verstehen: Die Sache mit den Fakten
An Fakten und Tatsachen, dem, wie die Dinge also sind, orientiert man sich noch am ehesten. Wenn schon die einen denken, dass sowieso immer und überall gelogen wird, die anderen alles großartig finden und mitmachen und wieder andere taktisch ihr Fähnchen nach dem Wind ausrichten, sollte das ein Anker sein.
Diese geglaubte Sicherheit, mit der man sich meint auf unumstößliche Fakten zurück ziehen zu können ist heute ins Wanken geraten. Vermittelte die Wissenschaft einige Zeit das Bild, man orientiere sich ganz nüchtern ausschließlich an Fakten, so bekommt die Öffentlichkeit spätestens seit der Corona Pandemie mit, das diese keinesfalls so spielentscheidend sind, wie man meinte. Denn dort haben wir Bekanntschaft mit verschiedenen Lagern gemacht und jedes behauptet die Fakten und auch noch die besseren auf der eigenen Seite zu haben. Weil man eben nicht nur diese, sondern auch jene Zahlen beachten muss, A nicht so stark, dafür B mehr gewichten müsste und so geht es fröhlich weiter, bis hin zu Fragen gesellschaftlicher Art, ob denn nicht die Politik die Maßnahmen beschließen müsse, statt der Wissenschaft.
Dazu kam die für manche neue Erkenntnis, dass ‚die Wissenschaft‘ kein Club von Leuten ist, die sich alle einig sind, sondern vielmehr eine Communitiy, die vom andauernden Streit lebt und eigentlich nie fertig, sondern immer nur vorläufig ist. Weiter kommt erschwerend hinzu, dass Fakten nicht einfach Dinge sind, die einfach so da sind, sondern im Grunde konstruiert und geborgen werden müssen. Fakten sind sich wiederholende Muster, die durch einen bestimmten Blick auf oder in die Welt entstehen, aber bereits ein etwas veränderter Blick lässt ein anderes Bild entstehen und den ganz objektiven Blick aller Blicke gibt es nicht.
Mit anderen Worten, viele gewohnte Orientierungsgrößen fallen weg und ein Deutungsvakuum entsteht. Nichts scheint mehr gewiss und viele gehen ihren Interessen nach, über die Jahre hat man ein bestimmtes soziales Verhalten gelernt, was gestern richtig oder unbedenklich war, ist heute falsch und anstößig. Man ist verunsichert, die einen sind trotzig, andere üben Selbstzensur, weil sie bestimmte neue Werte gut finden oder einfach mit ihnen aufgewachsen sind und anderen respektvoll begegnen wollen, ein anderer Teil der Gesellschaft versteht im wahrsten Sinn die Welt nicht mehr und hat das Gefühl genau diese, die eigene Welt würde ihnen gerade genommen.
Früher war doch alles so unbeschwert. Man will doch nur so ein bisschen sein können wie immer, denn so richtig böse hat man es eigentlich nie gemeint. Auch wenn es vielleicht ein bisschen fies, verletzend und entwertend war, was man so dachte und sagte. Das Problem ist, dass es, wenn man über andere redet, gar nicht nur davon abhängt, wie man es gemeint hat, sondern auch, wie es bei den Betroffenen ankommt.
Dennoch gibt es auch dieses ‚Das wird man doch wohl noch sagen dürfen‘-Gefühl, gerade im Zusammenhang mit dem Thema Selbstzensur. Man hat das Gefühl, man dürfe nicht mehr sagen, wie die Dinge wirklich sind, ohne dass einem ein Strick draus gedreht wird. Die Lage ist verfahren und einfache Antworten gibt es nicht, sonst hätte man sie schon gefunden. Einerseits darf jeder eine Meinung haben, dann heißt es wieder, Rassismus sei keine Meinung. Doch wo beginnt Rassismus nun wirklich und wo wird vielleicht der Vorwurf selbst instrumentalisiert? Worüber möchte man eigentlich so dringend reden? Was darf man nicht sagen? Wo sieht man sich zur Selbstzensur genötigt? Dem gehen wir in der zweiten Folge nach.