Straßencafé unter Sonnenschirmen vor alten Gebäuden

Im Straßencafé ist sehen und gesehen werden oft das vorrangige Motiv. © Thomas Kohler under cc

Der Mensch ist ein Beziehungswesen und durch soziale Kontakte werden wir zu dem Ich, von dem wir nachträglich glauben, es immer schon gewesen zu sein.

Mit anderen Worten, soziale Kontakte sind fundamental für uns, für unser Menschsein, für unser Ichsein, vielleicht sogar für den ganzen Kosmos. Darum soll es dieses mal nicht gehen, sondern um die Frage nach der optimalen Größe von Gruppen, für den maximalen Erfolg oder Genuss.

Geteiltes Leid ist halbes Leid, geteilte Freud‘ ist doppelte Freud‘

Wie so oft ist der Volksmund da gar nicht schlecht. Wenn wir unsere Sorgen teilen, so tut allein schon die Anteilnahme gut, es geht gar nicht unbedingt um Lösungen. Mit der Freude ist es allerdings so eine Sache. Es gibt Ereignisse, die an Qualität gewinnen, wenn möglichst viele andere Menschen sie teilen. Dafür gehen wir in Clubs, auf Konzerte, zum Public Viewing, ins Stadion oder auf Demos. Es ist diese spezielle Energie der Masse, die manche Menschen elektrisiert.

Es ist zudem der Effekt einer gutartigen Regression, in der das Ich nicht mehr so stark unter dem Einfluss sozialer Kontrolle steht. In vielen organisierten Massenveranstaltungen kann man sich für eine gewisse Zeit so verhalten, wie man es normalerweise in der Öffentlichkeit nicht tun sollte, ohne Sanktionen befürchten zu müssen. Man kann für gewisse Zeit intensive Emotionen zeigen, hat Anteil an einem oft die Klassen und Barrieren überwindenden Wir-Gefühl und ist doch seltsam anonym.

Gerade diese Anonymität sorgt für Entspannung, vor allem bei entsprechender Disposition. Mir hat eine junge Frau mit Begeisterung von einem Konzert und der intensiven Energie erzählt, weil dort 100.000 Menschen anwesend waren. Dieselbe Frau fragte, mit angestrengtem Gesichtsausdruck, während gemeinsamer Arbeit, die gewöhnlich zu zweit stattfand, als in einem Nebenraum zwei weitere Menschen anwesend waren, warum hier so viele Leute sind.

Die größere Zahl macht nicht alle Erfahrungen intensiver

Offensichtlich wird nicht alles immer besser und prickelnder, wenn viele Menschen daran beteiligt sind. Das hängt aber stark mit dem Aufgabenfeld zusammen. Es gibt Schwarmintelligenz und auch Demonstrationen haben mehr Gewicht, wenn 500.000 Menschen teilnehmen, statt 500. Aber es gibt auch Think Tanks, Spezialkommandos und Gruppierungen, bei denen es eher ein Vorteil ist, wenn nicht zu viele dabei sind, sondern die besten Leute ihre Kräfte ergänzen.

Aber bei dieser Addition von Wissen und Können bleibt es nicht. Wann hat Intimität ihren Höhepunkt? Sie lebt im Grunde von der Exklusivität von zwei Menschen. Man kann zwar alleine eine intime Nähe zu einem anderen empfinden – die dieser nicht zwingend erwidern muss – aber erfüllender ist die wechselseitige Erfahrung. Kommt ein weiterer Mensch hinzu, wirkt das in der Regel eher störend.

Beim Sex mit mehreren Personen kann man versuchen die intimen Momente des Paares auszuweiten, aber es kommt darauf an, wie die einzelnen Teilnehmer dies empfinden. Die Teilnehmerin an einer sexuellen Orgie kann diese vielleicht als einen beglückenden erotischen Taumel empfinden, während ein anderer Teilnehmer die gleiche Situation als sterilen Akt und eine weitere Person dies mit dem Empfinden der Eifersucht erlebt.

Intimität hat aber nicht nur eine sexuelle Konnotation, sie ist der Ausdruck tiefer Vertrautheit zwischen zwei Menschen. Eine Berührung, ein tiefer Blick. Zwischen 20 weiteren Menschen ist sie kaum denkbar und bereits ein dritter kann die Intimität zerstören. Die Intimität steigt also nicht mit der Zahl der Anwesenden und sie ist eine wichtige Erfahrung für und in unserem Leben.

Die Gruppe: Andere mit einbeziehen und ausschließen

Ab wann beginnt eigentlich eine Gruppe: Mit zwei Menschen? Es ist unklar, gewöhnlich sagt man aber, dass mit drei Leuten eine Gruppe beginnt, auch weil es durch die ungerade Zahl zu Ungleichgewichten kommt. Was macht aber eine Gruppe überhaupt zu einer Gruppe? Wenn sich 14 Menschen irgendwo in einer Fußgängerzone räumlich nahe sind, sind diese dann bereits eine Gruppe? Nein, man würde hier eher von einer Menge sprechen, eine Gruppe muss gemeinsame Interessen teilen, wenn auch nur kurzfristig.

Von 30 Personen, die irgendwo beim Public Viewing zusammen stehen, können sich einige vielleicht kennen, andere sind einander völlig fremd, aber in diesem Moment verbindet sie, dass alle das Fußballspiel sehen wollen, auch wenn die sozialen Klassen und vieles weitere sie trennt. Gewöhnlich teilen Mitglieder einer Gruppe aber mehrere ähnliche Eigenschaften.

So kann eine Peergroup, die sich aus einer Schulklasse ergibt das gleiche Alter, die äußere Situation zur Schule zu gehen und die räumliche Nähe der Wohnungen gemeinsam haben. Teilt man darüber hinaus noch bestimmten Einstellungen, etwa zu Kleidung, Musik und bestimmten Fächern oder Lehrern, findet man zu einer informellen Gruppe zusammen in der die einzelnen Mitglieder wesentlich durch emotionale Bindungen zusammen gehalten wird. Man mag sich und ist befreundet, mal kann Liebe daraus werden, manchmal kommt es zu Streit einiger Mitglieder, wesentlich ist aber der emotionale Zusammenhalt, man verbringt freiwillig und gerne die Zeit miteinander.

Zu jeder Gruppe gehört, dass sie bestimmte Kriterien hat, die Mitglieder einschließt und damit gleichzeitig andere ausschließt. Das ist in informellen Gruppen, deren Mitglieder sich irgendwie mögen oft unklarer als in formellen Gruppen, die durch äußere Erfordernisse zusammen finden.

Wer gehört zu uns? Und warum eigentlich?

Typische formelle Gruppen bestehen aus Menschen, die zusammen arbeiten. Es ist vollkommen klar, dass sie alle einer bestimmten definierten Tätigkeit nachgehen, im Krankenhaus, im Supermarkt, im Büro oder der Werkshalle. Es fällt sofort auf, wenn ein Fremder im Büro sitzt, der nicht weiß, was er machen soll. Die Mitarbeiter können sich mögen, müssen es aber nicht notgedrungen, es reicht, eine solide Arbeitsbeziehung zu etablieren.

Andere formelle Gruppen können sich seltener treffen, ein Gremium, was einige Male im Jahr tagt und sich über bestimmte strategische Ausrichtung einer Firma, Partei oder Organisation austauscht. Die Mitglieder haben vielleicht kaum eine emotionale Bindung, sie finden aber über definierte Qualifikationen zusammen. Hat man diese nicht, gehört man nicht dazu.

Schwieriger ist es bei informellen Gruppen, weil eigentlich nicht so ganz klar ist, warum jemand nun auf einmal ‚einer von uns‘ ist oder warum jemanden der Zutritt verwehrt wird. Fürsprecher innerhalb der Gruppe sind eine gute Eintrittskarte, wenn jemand ihre gute Freundin mitbringt. Da die, die schon zu uns gehört sympathisch ist, geht man irgendwie davon aus, dass ihre Freundin es auch ist.

So ein grundsätzliches Lebensgefühl sollte man schon teilen, aber es gibt immer wieder auch Menschen, die eigentlich gar nicht so richtig in die Gruppe zu passen scheinen, aber dennoch dabei sind. Die Kriterien sind unscharf, man kann sie angeben, vermutlich Alter, Bildung, soziale Herkunft, gemeinsame Interessen und Einstellungen, aber immer wieder gibt es auch Ausnahmen.

Familien sind seltsame Mischungen. Man braucht keine Eigenschaften, außer eben zur Familie zu gehören, um dazu zu gehören, man muss sich aber auch nicht zwingend nett finden. Jeder kennt den einen doofen Onkel, manchmal hat man schon mit den Eltern Probleme. Dennoch, irgendwie hält und gehört man zusammen, solange nicht bestimmte gravierende Grenzen überschritten sind.

Wie groß kann ein Freundeskreis sein?

Vor einigen Jahren gab es die Diskussion darüber, ob ‚Freunde‘ in Social Media wirkliche Freunde sind. Man kennt sich ja eigentlich kaum, manchmal gar nicht, das entspricht nicht dem Gedanken des Freundeskreises. Wer kümmert sich um mich, wenn ich nicht gut drauf bin, wenn ich krank bin, wer sagt mir die Meinung, wenn ich mich dämlich verhalte? Dazu sind im besten Fall Freunde da, natürlich auch und vielleicht vorrangig dazu, die Freuden und Abenteuer des Lebens zu teilen.

Man unternimmt etwas zusammen, hat Spaß dabei, kommt sich menschlich immer näher und so wird man schleichend befreundet. Aber diese echte Freundschaft beinhaltet, dass man Zeit miteinander verbracht hat, mindestens eine enge Erfahrung teilt, in der Regel sind es aber viele, über einen längeren Zeitraum. Das schränkt die Möglichkeit 500 Freunde zu haben dann doch ziemlich ein. Zumeist unterscheidet man ja auch noch zwischen engen Freunden, die man meistens sehr lange kennt und mit denen man viel Zeit verbracht und vielleicht schon Krisen durchgestanden hat und entferntere Freunde.

Aber auch hier ist die Frage, ob man tatsächlich 60 enge Freunde haben kann und muss. Steigert es die Qualität, wenn man 60 statt zwei oder drei enge Freunden hat? Wie bei der Intimität, die es ja auch unter engen Freunden gibt, scheint weniger hier durchaus mehr zu sein. Wenn ich ein Problem mit dem engsten Freund berede, wird es nicht besser, wenn ich danach noch 48 weitere Gespräche habe, das würde die Beziehung zum besten Freund sogar eher entwerten. Denn was sagt es aus, wenn ich den Rat des besten Freundes noch ein Paar Dutzend mal anderen vorlege? Und wie soll ich am Ende entscheiden? Nach der häufigsten Antwort?

In Gruppen tritt das Ich zurück

Wir fühlen uns wohl, wenn wir so sein können, wie wir sind, uns also nicht zu verstellen brauchen. Das geschieht im privaten Raum. In sozialem Umfeld werden immer nur bestimmte Eigenschaften von uns verlangt. Bei der Arbeit zählt, dass wir diese ordentlich erledigen, sonstige Eigenschaften sind Beigaben, aber für den Arbeitsprozess nicht wichtig. Für uns als Menschen allerdings oft schon, wenn wir in ein nettes Team kommen und mit der Arbeit identifiziert sind.

Dennoch, soziale Kontakte bedeuten Kontrolle, heißt, wir können und sollen uns nur zum Teil so zeigen, wie wir sind. In der Öffentlichkeit müssen wir uns angemessen benehmen, das heißt etwa, ein Teil unserer Triebe kontrollieren. Da wir in der Regel über Impulskontrolle verfügen, können wir die Reize der Öffentlichkeit aufsaugen und später darauf reagieren.

Die Öffentlichkeit ärgert uns aber nicht nur, wir suchen sie auch. Wir setzen uns in Straßencafés, nüchtern betrachtet um Geld für überteuerte Heißgetränke auszugeben, die wir zu Hause viele günstiger bekommen würden. Aber deshalb sitzen wir da nicht, wir gehen oft auch nicht essen, wegen der Qualität der Speisen, sondern um zu sehen und gesehen zu werden, um uns der Öffentlichkeit auszusetzen. Es ist ein kleines bisschen wie auf einer Bühne. Was hat man an, was isst man, mit welchem Fortbewegungsmittel kommt man an, wie viel Spaß hatte man und wie versteht man sich. Alles auch ein wenig Show.

Die Kontrolle der Öffentlichkeit sinkt jedoch, je größer die Zahl der Menschen ist. Die Großstadt ist bekannt für ihre Vielfalt an Möglichkeiten, zugleich aber auch für ihre Anonymität. Für manche wirkt die anonyme Menge bedrohlich, andere lieben es, dass sie mittendrin im Grunde unsichtbar sind. Wieder andere lieben die dörfliche Gemeinschaft, in der jeder jeden kennt und mit der Kontrolle auch der Zusammenhalt wächst.

In unserer informellen Gruppe, dem Freundeskreis, der Peergroup dürfen wir mehr so sein, wie wir sind. Hier ist unsere Persönlichkeit sogar gefordert und es ist eher unwichtig, wie erfolgreich wir beruflich sind. Aber natürlich braucht man auch in einem Freundeskreis Eigenschaften, die für die Gruppe wertvoll sind. Freundeskreise sind in der Regel nicht riesig, selten dürfte ihre Zahl sie zweistellig sein.

Räumliche Nähe ist nicht zwingend notwendig für die Gruppenzugehörigkeit. Chatgruppen, Foren, Religionen oder NGOs schaffen eine virtuelle Verbindung. In der Regel ist persönliche Nähe etwas, was stark bindet, wenn man jemanden aber nicht mehr sehen mag, kann es sein, dass einem ein Mensch mit der ähnlichen ideologischen Einstellung viel näher ist, als eine Arbeitskollegin oder Nachbarin.

Die Zahl, die Nähe und die Distanz suchen, die uns guttut

Die optimale Größe einer Gruppe hängt stark von den Aufgaben und Anlässen ab, zu denen sie zusammenkommt und von denen, die sich in ihr befinden. Gruppen, Massen oder soziale Systeme mögen ihre eigenen Gesetze haben, aber sie werden auch erlebt und zwar von jedem Subjekt etwas anders.

Jeder Mensch braucht seine individuelle Mischung aus Erfahrungen der Nähe, die soziale Kontakte vermitteln, andere schätzen mehr die Anonymität, die Regressionen, die in Massenveranstaltungen möglich sind und wir alle brauchen dies von Zeit zu Zeit in der Dosis, die zu unserer ganz persönlichen Art und Weise passt.

Vielleicht entwickeln sich in nächster Zeit neue Lebensformen, die uns eine Art Familienersatz ermöglichen und die auf unsere Bedürfnisse abgestimmt sind. Gemeinschaften von Menschen mit ähnlichen Interessen, in denen Zweckgemeinschaften und Wahlverwandtschaften auf verschiedene Weise fusionieren und so auch ganz neue Bedürfnisse zum Ausdruck bringen. Soziale Kontakte und ihre Dynamik können ein kreatives und spannendes Gebiet sein.