Shoppen gehört zu den Praktiken, die noch viele verbindet. © Thomas Kohler under cc

Mainstream heißt in wörtlicher Übersetzung Hauptstrom und bezeichnet, die oft etwas abfällig gemeinte Orientierung (an) der Masse. Die Masse, die Gesellschaft, der Zeitgeist, sie alle sind Begriffe, die mit dem Mainstream assoziiert sind, am ehesten die Masse. Gemeinsam ist ihnen, dass die Masse gefühlt die Anderen sind, man selbst gehört in aller Regel nicht dazu. Jedoch:

„Diese Anderen sind dabei nicht bestimmte Andere. Im Gegenteil, jeder Andere kann sie vertreten. Entscheidend ist nur die unauffällige, vom Dasein als Mitsein unversehens schon eingenommene Herrschaft der Anderen. Man selbst gehört zu den Anderen und verfestigt ihre Macht. „Die Anderen“ die man so nennt, um die eigene wesenhafte Zugehörigkeit zu ihnen zu verdecken, sind die, die im täglichen Miteinader zunächst und zumeist „da sind„. Das Wer ist nicht dieser und nicht jener, nicht man selbst und nicht einige und nicht die Summe Aller. Das „Wer“ ist das Neutrum, das Man.“[1]

Da niemand die Anderen repräsentiert, sondern eben jeder, ist man auch selbst einer, der dazu gehört. Noch deutlicher wird es hier:

„In der Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel, in der Verwendung des Nachrichtenwesens (Zeitung) ist jeder Andere wie der Andere. Dieses Miteinandersein löst das eigene Dasein völlig in die Seinsart „der Anderen“ auf, so zwar, dass die Anderen in ihrer Unterschiedlichkeit und Ausdrücklichkeit noch mehr verschwinden. In dieser Unauffälligkeit und Nichtfeststellbarkeit entfaltet das Man seine eigentliche Diktatur. Wir genießen und vergnügen uns, wie man genießt; wir lesen, sehen und urteilen über Literatur und Kunst, wie man sieht und urteilt; wir ziehen uns aber auch vom „großen Haufen“ zurück, wie man sich zurückzieht; wir finden empörend, was man empörend findet. Das Man, das kein bestimmtes ist und das Alle, obzwar nicht als Summe, sind, schreibt die Seinsart der Alltäglichkeit vor.“[2]

In den Beispielen wird klar, dass es sich um einen älteren Text handelt, der Ausschnitt stammt aus Martin Heideggers erstem Werk „Sein und Zeit“ veröffentlicht im Jahr 1927, klar wird aber auch, dass er an Aktualität nicht verloren hat, zumindest scheint es so. Denn den Mainstream gibt es immer noch und kaum jemand drückt ihn treffender aus, als Heideggers Zeilen, die großartig sind. Vielleicht mit der Einschränkung, dass man eine leise Abwertung in den folgenden Zeilen spüren kann:

„Das Man hat seine eigenen Weisen zu sein. Die genannte Tendenz des Mitseins, die wir die Abständigkeit nannten, gründet darin, dass das Miteinandersein als solches die Durchschnittlichkeit besorgt. Sie ist ein existenzialer Charakter des Man. Dem Man geht es in seinem Sein wesentlich um sie. Deshalb hält es sich faktisch in der Durchschnittlichkeit dessen, was man gelten läßt und was nicht, dem man Erfolg zubilligt, dem man ihn versagt. Diese Durchschnittlichkeit in der Vorzeichnung dessen, was gewagt werden kann und darf, wacht über jede sich vordrängende Ausnahme. Jeder Vorrang wird geräuschlos niedergehalten. Als Ursprüngliche ist über Nacht als längst bekannt, geglättet. Alles Erkämpfte wird handlich. Jedes Geheimnis verliert seine Kraft. Die Sorge der Durchschnittlichkeit enthüllt wieder eine wesenhafte Tendenz des Daseins, die wir die Einebnung aller Seinsmöglichkeiten nennen.“[3]

Die Formulierungen lassen erahnen, warum Heideggers Sprache gefürchtet ist. Was an Heidegger ansonsten verstört, ist der scharfe Kontrast zwischen der Hellsichtigkeit seines Befundes und zugleich seiner Verstrickung in die Ideologie des NS-Regimes, die tiefer reicht, als man sich schönreden kann. Am besten ist er wörtlich zu verstehen. Durchschnittlich, das will niemand sein, das schiebt man von sich weg. Jeder andere aber auch. Doch man hat auch zuweilen gute Gründe dafür, dass man selbst tatsächlich anders ist und überhaupt, hat sich seit Heideggers Zeiten nicht doch einiges geändert?

2017, damit 90 Jahre nach Sein und Zeit, einem der philosophisch einflussreichsten Bücher des 20. Jahrhunderts, erscheint Die Gesellschaft der Singularitäten des Soziologieprofessors Andreas Reckwitz. Sein Befund lautet dann tatsächlich, dass sich über die Jahrzehnte etwas geändert hat. Unterbrochen durch den zweiten Weltkrieg setzt sich der von Heidegger diagnostizierte Trend zunächst fort. Man orientiert sich an dem, was die anderen tun, denken, sagen und haben und wer es im Leben geschafft hat, zeigt das mit Stolz. Das Auto, die Inneneinrichtung, der Urlaub, all das soll immer auch ein Stück weit zeigen, dass man es zu etwas gebracht hat. Man orientiert sich in Werten und Zielen am Allgemeinen oder eben am Mainstream. Den Erfolg hat man sich zumeist hart erarbeitet, der Lohn erscheint verdient. Die Jahre des Wirtschaftswunders sind von diesem Geist durchdrungen. Fleiß und harte körperliche Arbeit, oft in der Industrie, den Werften oder Zechen ebneten den Weg, aber am Ende führte dieser Weg oft ans Ziel, das mehr Wohlstand lautet.

Ende der 1960er und mit dem Übergang ins neue Jahrzehnt, änderte sich einiges. Die 68er Revolution lief, parallel entstand aber eine aufstrebende Mittelschicht, die nicht mehr körperlich hart arbeiten musste, sondern die als Händler, Verkäufer, Vertreiber und Logistiker überwiegend in Büros arbeiten konnte. Der Anteil der Schwerarbeit, die in den Produkten steckt, sinkt, der Anteil der immer trickreicheren Details und Verbesserungen vom Auto über den Fernsehen bis in alle möglichen Lebensbereiche hinein, steigt. Es steckt immer mehr ‚know how‘ drin. Denkarbeit und technische Raffinesse. Auch Kulturleistungen, Sport und Kunst werden mehr und mehr zur Ware. Damit dies bedient wird, müssen die Menschen gebildeter werden, spezialisierter, ihre Tätigkeiten immer ausdifferenzierter. Das ist auch geschehen und durch diese gesellschaftliche Ausdifferenzierung entstanden unterschiedliche Interessenschwerpunkte.

Das Ende eines Mythos und der Beginn einer anderen Erzählung

So unterschiedlich die Wege waren, so sehr existierte doch ein gemeinsamer gesellschaftlicher Glaube, nämlich der an den Fortschritt. Die nächste Generation wird es besser haben, das war das stille Versprechen, das als nahezu sicher galt, es musste nicht mal explizit ausgesprochen werden, sondern bildete das gesellschaftliche Hintergrundrauschen. Viele Interpreten sind sich einig, dass irgendwann in den 1970ern eine zunächst kaum bemerkte Wende einsetzte. Der Mythos des ungebrochenen Fortschritts bekam erste Risse. Zehn Jahre später setzte ein weiterer Trend ein. Individualisierte Erzählungen griffen um sich. Da inzwischen auf ehemalige Randgruppen, Minderheiten und marginalisierte Mitglieder der Gesellschaft stärker geachtet wurde, eine Errungenschaft der 68er, konnte eine neue Form der Erzählung entstehen, in der Individuen sich selbst in und aus einer Opfersicht heraus selbst definierten. Angeregt durch den Zeitgeist, der sich auch in den Büchern von Alice Miller ausdrückte, dachten viele Menschen darüber nach, was alles aus ihnen hätte werden können, wenn nicht bereits die Eltern alles falsch gemacht hätten. Oder der Staat, die Gesellschaft, der Kapitalismus, die Linken, die Grünen oder die Rechten, die Nachbarn, der Chef oder die Partner. Nur einer kann immer nichts dafür dass das eigene Leben geworden ist, wie es jetzt ist, der Betroffene selbst.

Es werden eine Menge von Strömungen, Elementen und Entwicklungen sein, die letztlich dazu führten, dass der Individualismus Trend wurde und die Aufspaltung in immer kleinere gesellschaftliche Gruppen einsetzte. Reckwitz formuliert, dass man sich nun nicht mehr am Allgemeinen orientierte, gut und erstrebenswert war nicht mehr das, was alle machten, sondern am Besonderen: Gut und erstrebenswert war, was mich von den anderen unterscheidet. Mitte der 1990er wurde dieser Effekt von den Social Media verstärkt. Nun konnte man seine Besonderheit für die Social Media Welt festhalten, musste das aber auch tun. Aufmerksamkeit in Form von Klicks, Likes und Followern regulieren den sozialen Status.

Aber auch andere, gegenläufige Trends etablierten sich. In den Social Media ist einer der Wege zu Aufmerksamkeit und Anerkennung immer greller zu werden, extremer und ungehemmter Hass, Exhibitionismus und Nacktheit und Sexualität darzustellen. Doch zugleich wurden andere Strömungen auch wieder dezenter. Protzen und zeigen, was man hat, war nicht mehr in, galt und gilt als prollig. Dezenter muss es zugehen, man zeigt, was man hat, aber erkennen tun es oft nur Eingeweihte.

Massenmedialer Mainstream

Als eine der Ursachen für die Existenz eines Mainstream gilt die Massenkultur und Teil davon ist die Unterhaltung in den Massenmedien. Dem Fernseher kam eine zentrale Rolle in den Wohn- und später Schlafzimmern zu. Da es anfangs wenige Sender und Programme gab, wusste man, dass das was man abends gesehen hat, von vielen anderen ebenfalls gesehen wurde. Man sprach bei der der Arbeit oder im Freundeskreis darüber, man war verbunden über medial erlebte Großereignisse, wie die Mondlandung, Fußball Weltmeisterschaften, aber auch Tatort und Vorabendserien, in denen bestimmte Wertvorstellungen, Bilder, Narrative und Klischees transportiert wurden. Ein eigenes, zu umfassendes Thema, um es hier kurz darstellen zu können, jedenfalls sind sich viele Theoretiker einig, dass der Einfluss der Massenmedien auf die Meinungsbildung gravierend ist.

Dieser Einfluss ist im Wandel begriffen, denn das Fernsehen ist nur noch knapp das Medium Nummer 1, dicht gefolgt vom Internet, etwas dahinter liegen Radio und Tageszeitung etwa gleich auf, was die Bedeutung für die Meinungsbildung betrifft.[4] Doch ‚das Fernsehen‘ ist längst kein homogener Block mehr, die öffentlich-rechtlichen Sender haben längst eine am Markt etablierte Konkurrenz von den privaten Sendern. Vielleicht nicht bei den Nachrichten, aber Meinungen und Weltbilder werden eben auch über die immer gleiche Muster in Filmen und Unterhaltungssendungen präsentiert. Und natürlich ist ‚das Internet‘ erst recht nicht mehr homogen zu nennen, auch wenn hier, über die Algorithmen und personalisierte Daten eine neue Lenkbarkeit zu erzeugen versucht wird.

Aber sind das nicht alles nur Erscheinungsformen bestimmter Gruppen? Wo früher klar war, dass alle den Straßenfeger gesehen haben, kann man heute keineswegs mehr sicher sein, dass alle überhaupt die gleichen Medien nutzen. Die einen schauen nur noch Serien in Online-Streamingdiensten, die anderen haben noch nie eine Minute davon gesehen. Die einen haben kein Smartphone, andere können sich ein Leben ohne nicht vorstellen. Die einen lesen Zeitungen, die andere gar nicht kennen und so geht es weiter. Die Vielfalt der Medien ist größer geworden, wir haben einen Zugang zu allerlei Informationen, wenn wir denn wollen, von solchen, die angeblich tief im Mainstream stecken, bis zu solchen, die alternative Informationen aller Art anbieten.

Dennoch ist von System- und Lügenpresse die Rede, von Medien, die wie man oft hört, alle dasselbe berichten, mit dem Ziel oder zumindest dem Ergebnis, die Masse unwissend zu halten und gefügig zu machen, den Mainstream weiter fließen zu lassen. Zumeist und umso vehementer von Menschen geäußert, je mehr sich eine Nähe zu den inzwischen diversen Rändern des Meinungsspektrums feststellen lässt.