Es ist nun fast 50 Jahre her, dass in Deutschland ein sehr spezieller Funke zündete, einer, der die psychische Heilung revolutionieren sollte. Das freilich auf sehr verschlungenen Pfaden.
Als „Schock“ bezeichnete der damals junge Diplompsychologe, Hypnotherapeut und spätere Star der deutschen Esoterik das, was er da im Juni des Jahres 1968 erlebte. Der Begriff überschrieb das erste Kapitel seines ersten Buches, Das Leben nach dem Leben, das 1974 erschien. Der Erstling eines Mannes mit auffallend viel Selbstbewusstsein und revolutionären Ideen. So war eben die Stimmung der Zeit damals, könnte man sagen, aber gerade jener Thorwald Dethlefsen wurde davon, wenn überhaupt, anders erfasst. In einem angesehenen humanistischen Gymnasium in München fiel Dethlefsen bereits in sehr jungen Jahren dadurch auf, dass er stets in korrekter Kleidung und mit Krawatte in den Unterricht kam und mit dem politisch revolutionären Geist der Zeit eher wenig bis nichts zu tun hatte. Doch er war kein Mauerblümchen, denn reden, das fiel auf, konnte er ausgezeichnet, das sollte sich durch sein Leben ziehen. Revolutionär agierte er dennoch und schüttelte das Land in einigen Bereichen kräftig durch, ohne dass man dies heute zwingend mit seinem Namen verbindet. Als Mytheninterpret betonte Dethlefsen oft die Bedeutung der Katastrophe als Wendepunkt im Mythos und im Leben. Immer wieder schuf er selbst Neues, warf eigene Errungenschaften über den Haufen, bis er die Katastrophe im eigenen Leben erfuhr.
Worum es gehen soll
Es sind mehrere Geschichten, die hier erzählt werden sollen und ineinander greifen. Die Geschichte zweier ungleicher Weggefährten im Dschungel der Tiefenpsychologie, die sich von Ausgangspunkten auf die Reise machen, die kaum unterschiedlicher und weiter entfernt sein könnten, um irgendwo in den Tiefen des Waldes – ein Bild, das immer schon für das Unbewusste stand – auf ein Konzept zu stoßen, das psychische Heilung in ein theoretisch neues Licht rückt.
Es ist ein Stück Rekonstruktion einer Geschichte, die nur wenigen bekannt ist und die zugleich auch in die Zukunft blickt und ein noch immer ungewohntes Konzept präsentiert, das auf eine echte psychische Heilung im Unterschied zu einer Linderung von Symptomen abzielt. Nebenbei kann man sie auch als den ausstehenden dritten Teil der Reihe Karma und Psyche lesen. Auch vertiefen wir hier Betrachtungen, die wir in knapper Form schon einmal darstellten, etwa zur Reinkarnationstherapie oder zur Objektbeziehungstheorie, in einer Weise, die ein neues Licht auf alte Zusammenhänge werfen soll und damit eine Brücke zu Erkenntnissen der Gegenwart bildet. Das Spezial ist für Menschen gedacht, die Zeit und Lust haben, sich auf neue/alte Gedankengänge einzulassen, ihre Kenntnisse zu vertiefen und Enden, die seit längerem lose baumeln, versuchsweise zu verknüpfen. Wo zu eigenem Nachdenken angeregt wird, ist der Ansatz gelungen. Damit zurück in die Vergangenheit.
Der Schock
Was war das also für ein Schock, den Dethlefsen da erlebte? Er führte zu jener Zeit als Psychologiestudent hypnotische Altersregressionen mit seinen Kommilitonen durch. Altersregressionen sind schrittweise Rückführungen in verschiedene Lebensalter, in denen sich die Erinnerungen und das Erleben, aber auch die Handschrift und Stimme der Probanden altersgerecht verändern. Dethlefsen war damals unter anderem auch Zauberer auf der Bühne und ein hochbegabter Hypnotiseur. Es ist wohl die Mischung aus seinem Charisma und vor allem seiner Stimme gewesen, die es ihm als Hypnotiseur leicht machte. Dethlefsens Redetalent ist legendär. In späteren Jahren, als Dethlefsen um seine Fähigkeiten als Redner wusste, vielleicht ein wenig zu sehr inszeniert, doch schon der junge Dethlefsen ist bei wachsender Bekanntheit mit auffallender Quirligkeit, Schlagfertigkeit und auch Lust an der Gegenrede ausgestattet, die freilich als nicht selten brillanter, eigener Monolog daherkam, der auch schon mal zehn Minuten oder mehr dauern konnte. Im Rahmen jener hypnotischen Altersregressionen ging er an jenem Tag einfach, einer Intuition folgend, immer weiter zurück in der Zeit. Als der Proband ein Kind war, was scheinbar nichts mehr erlebte, forderte Dethlefsen ihn auf, noch ein wenig weiter zurück zu gehen und auf einmal war er wieder inmitten einer reichen Geschichte: nur betraf diese nicht mehr sein gewohntes Leben.
Der Proband erlebte sich auf einmal als ein anderer Mensch, in einer ganz anderen Zeit, mit ganz anderen Problemen. Dethlefsen wiederholte diese Experimente mit verschiedenen Menschen und deutete das Phänomen im Rahmen einer Wiedergeburt der Seele, als Beleg für Reinkarnation. Das war mindestens ungewöhnlich. Doch Dethlefsen meinte es ernst und es ging ihm dabei nicht allein um die Sensation, sondern tatsächlich um eine neue Möglichkeit für die Psychotherapie. Ihre Umrisse stellt er bereits in seinem ersten Buch vor, verbunden mit einigen heftigen, aber durchaus auch treffenden Polemiken gegen die Wissenschaft, die Medizin und die damals übliche Psychologie. Mitten in der Hochzeit der Verhaltenstherapie erteilt Dethlefsen dieser eine krachende Absage, scharf, pointiert und noch heute treffend.
Doch es ging ihm nicht um Kritik um ihrer selbst willen, Dethlefsen hatte ein alternatives Angebot dabei, bereit es herzuzeigen und sich dem Diskurs zu stellen. In groben Zügen war die Idee der Reinkarnationstherapie fertig. Der junge Dethlefsen war der Wissenschaft gegenüber zwar kritisch eingestellt, aber in einer durchaus konstruktiv herausfordernden Art und Weise. Das sprach sich dort herum und wurde aufgenommen und Dethlefsen bekam eine Antwort, obwohl er sich neben der Idee der Reinkarnation auch noch offen zur Astrologie bekannte. Zwei Jahre nach dem Erstling erschien das Buch: Das Erlebnis der Wiedergeburt. Das Nachwort schrieb mit Rainer Fuchs ein Psychologieprofessor, der Dethlefsens Angebot annahm. Fuchs ist zu dieser Zeit Direktor des Instituts für Psychologie und Erziehungswissenschaften der TU München, der ebenfalls zur Hypnose publizierte. Er möchte, dass Dethlefsen in seine Fußstapfen tritt und vielleicht war es einfach nur Pech, dass dies jetzt schon nicht mehr ging. Fuchs wollte, dass Dethlefsen den Weg des Experiments so konsequent wie bisher weiter geht. Doch Dethlefsen war inzwischen populär, die Menschen wussten, worum es ging, die Experimente konnten kaum mehr frei von Erwartungen stattfinden. So wurde, was hoffnungsfroh begann, bald zu einer unüberbrückbaren Differenz. Dethlefsen und die Wissenschaft, das passte nicht mehr. Die Tür ging zu, von beiden Seiten.[2]
Otto F. Kernberg: Ein Leben für die Wissenschaft
Als im Jahr 1987 ein Buch erscheint, in dem Edith und Rolf Zundel die Leitfiguren der neueren Psychotherapie vorstellen, da gebührt ihm das erste Kapitel: Otto Kernberg, ein Mann, der heute 88 Jahre alt ist und dessen große Sorge es noch immer ist, geistig stehen zu bleiben. 30 Jahre nach Edith Zundels Zeilen darf man sagen, dass Kernberg die Psychologie und vor allem die Psychoanalyse revolutioniert hat. Doch bereits in dem Text von 1986 heißt es:
„Eine Leitfigur der modernen Psychoanalyse ist Otto F. Kernberg. „Ich weiß gar nicht, wann der Mann schläft“, sagt Margret S. Mahler, eine der größten Theoretikerinnen der Psychoanalyse (sie ist vor kurzem gestorben), „er liest jedes Buch, hat jeden Film gesehen.“ Er ist Direktor am New York Hospital, White Plains, Professor der Psychiatrie an der medizinischen Fakultät der Cornell Universität, Lehranalytiker des Zentrums für psychoanalytische Ausbildung und Forschung an der Columbia Universität, Vizepräsident der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung, Mitherausgeber des Journal of the American Psychoanalytic Association, und was er sonst noch macht, was er an Mitgliedschaften und Ehrungen auf seinen Namen vereint, füllt Seiten.“[3]
Und später:
„Die Eltern sprachen untereinander deutsch; er selbst hat immer deutsch gelesen. Auch jetzt kann man antippen, wo man will: Böll, Grass, Lenz, Wolfgruber, Bachmann, Handtke, Frisch, Dürrenmatt, Muschg – er weiß über alle Gescheites zu sagen.“[4]
Das zieht sich durch. Kernberg wird Präsident der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung, die Seiten mit den Ehrungen wachsen, vor allem erwirbt er sich den Ruf mindestens in der Psychoanalyse alles zu wissen. Auf einem der vielen Vorträge, die ich von ihm hörte, sagt in der Fragerunde ein bedeutender psychoanalytischer Theoretiker, es lohne nicht, mit Otto zu diskutieren, da er sowie immer Recht habe. Die Familie des studierten Mediziners musste wegen der Nazis aus Wien emigrieren, Kernberg geriet nach Chile, studierte, heiratete und lernte dort die Psychoanalyse. Er wird überdies Professor für Psychiatrie und betont immer wieder, dass er sich explizit als Mann der Wissenschaft versteht.
Das ist als Psychoanalytiker nicht unbedingt gewöhnlich, aus mindestens zwei Gründen. Erstens, fühlen sich manche Psychoanalytiker über die Wissenschaft erhaben. Niemand weiß das besser als Kernberg und kaum einer kritisiert das schärfer, zuweilen auch ironisch, wenn er sagt, dass es auch Psychoanalytiker gibt, die nicht denken, sie seien Gott. Der zweite Grund ist, dass es in der Wissenschaft und auch in der sich stark auf sie berufenden und konkurrierenden behavioristischen Lerntheorie und Verhaltenstherapie, Abneigungen und Vorurteile gegen die Psychoanalyse gibt. Die Einschätzung des Philosophen Karl Popper ist, dass die Psychoanalyse gar keine Wissenschaft sei, eine Ansicht, die man mitunter heute noch hört. Schon damals lag der Irrtum auf Poppers Seite (siehe dazu auch: Wissenschaftstheorie und ihre Mythen), was aber nicht bedeutet, dass die allgemeine Einschätzung der vermeintlichen Unwissenschaftlichkeit der Psychoanalyse nicht ständig wiederholt wurde (manchmal eben bis zum heutigen Tag).
Doch Kernberg lamentierte nicht, sondern tat ganz einfach das, was angeblich nicht ging, nämlich die Psychoanalyse und die Wissenschaft unter einen Hut zu bringen. Insbesondere auf dem Gebiet der schweren Persönlichkeitsstörungen machte sich Kernberg einen Namen. Dachte man früher, es gäbe wesentlich zwei große Ebenen psychischer Erkrankungen, die Neurosen und die Psychosen, so erforschte Kernberg einen mittleren Bereich, der sich später als große eigene Welt herausstellte, mit dynamischen Verbindungen nach oben und unten, inzwischen wird das Gebiet der schweren Persönlichkeitsstörungen sogar selbst in leichte und schwere Formen unterteilt.
Nicht nur die Theorie, auch die Diagnose und Therapie trieb Kernberg voran, 1984 erscheint mit Schwere Persönlichkeitsstörungen: Theorie, Diagnose und Behandlungsstrategien ein voluminöses Werk von über 500 Seiten, ein Standardwerk über einen Bereich, den eben noch kaum jemand kannte. Kernberg ruhte nicht, wenn es darum ging auch Störungen zu therapieren, die zuvor als kaum erreichbar galten. Er blieb stets fair, Kleinkrieg zwischen den Disziplinen war seine Sache nicht, das beste Ergebnis soll entscheiden, unideologisch und zum Wohle des Patienten. Bei Vorträgen vor Kollegen rät er dazu, über den Tellerrand zu blicken und sich auch über die Fortschritte der Verhaltenstherapie, Psychopharmakologie und Hirnforschung zu unterrichten. Kernberg lebt ein Ideal der Wissenschaft, unideologisch, unpolitisch, jeweils nur offen dem Fortschritt der Erkenntnis verpflichtet.
Der Umgang mit Vorurteilen
Bei Otto Kernberg und Thorwald Dethlefsen ist der Umgang mit Vorurteilen, die ihnen begegneten, ähnlich und doch anders. Beide lassen sich nicht sichtbar irritieren. Kernberg ist auf dem Pfad der Wissenschaft unterwegs und setzt Ausrufzeichen, die Zahl seiner Bücher ist erheblich, sein Einfluss innerhalb der Psychoanalyse auch.
Auch Dethlefsen ist inzwischen längst nicht mehr irgendwer, sondern auf dem Weg zu einem Star der Psychoszene, gefragt auch in der Presse. Die Tür zur Wissenschaft ist zu, doch Dethlefsen zeigt sich ungerührt. Mit Schicksal als Chance kommt 1979 ein Buch auf den Markt, das zum Bestseller wird. In ihm schreitet die Distanzierung von der Wissenschaft weiter fort. Dethlefsen ist Esoteriker mit Leib und Seele, zu einer Zeit, als der Begriff weder verbrannt war, noch ein Hype um das Wort gemacht wurde. Populär machte die Esoterik Dethlefsen selbst. Er bekam inzwischen Verstärkung. Im „Institut für außerordentliche Psychologie“, in München, arbeiteten inzwischen einige Mitarbeiter, der bekannteste unter ihnen wird der junge Arzt Dr. Rüdiger Dahlke, der seit 1977 dabei ist. Rüdiger Dahlke ist derjenige, der es 13 Jahre an der Seite, des nicht immer einfachen Thorwald Dethlefsen ausgehalten hat. Doch die Formulierung ist zu düster, Dahlke erzählte, er habe Dethlefsen im Streit kennengelernt, sich 13 Jahre wunderbar mit ihm verstanden und sich dann im Streit wieder von ihm getrennt. Wo Dethlefsen provoziert, ist Dahlke eher moderat, ohne auf eine mitunter dezidierte Meinung zu verzichten, ein Brückenbauer und therapeutisch ein radikaler Pragmatiker, wie er selbst sagt. Der studierte Mediziner, der über die Psychosomatik des Asthma bronchiale promovierte und selbst auch eine Psychoanalyse durchlief, ist nicht erst durch den Tod Dethlefsens im Jahre 2010 zum Frontmann der deutschsprachigen Esoterik geworden. Die Zeit ihrer Zusammenarbeit ist für beide Seiten fruchtbar, in dieser erscheint das einzige gemeinsame Buch Krankheit als Weg ein Longseller, der Millionen mal verkauft und in zig Sprachen übersetzt werden wird, parallel wird das Konzept der Reinkarnationstherapie immer weiter ausdifferenziert.
Otto Kernberg hat die Möglichkeit seinen Einfluss als Präsident der größten psychoanalytischen Vereinigung geltend zu machen. Dethlefsen und Dahlke wählen einen anderen Weg, sie sprechen die Menschen direkt an. Spätestens in Krankheit als Weg ist das ganz explizit der Fall. Die beiden werden über „die Szene“, die wesentlich von ihnen begründet wird, hinaus bekannt. Das Buch Krankheit als Weg ist Reinkarnationstherapie für eine breitere Masse, ein Buch für all jene, die unter Krankheitssymptomen leiden und sich für deren Be-Deutung interessieren. Die Idee der Psychosomatik wird in dem Buch mit einem esoterischen Ansatz verknüpft, der das Konzept der normalen Psychosomatik überragt. Man arbeitet bewusst mit der Psychosomatik, die in den Begriffen unserer Alltagssprache überall zu finden ist. Wenn wir bei einer Erkältung „die Nase voll haben“, dann ist das ein Symptom, aber durchaus im doppelten Sinne des Wortes zu verstehen, wir haben, so die Botschaft, auch aktuell die Nase voll und holen uns das, was wir brauchen: Auszeit und Ruhe, über die Erkältung.
Das ist in Psychologie und Medizin als der sekundäre Krankheitsgewinn durchaus bekannt. Aber ist das alles? Sekundärer Krankheitsgewinn plus ein wenig esoterischer Überbau? Nein. Das Buch und die ganze Idee treffen den Nerv der Zeit. Es ist Medizinkritik, Gesellschaftskritik und Orientierungsangebot in einem. Das zu einer Zeit, als die Gesellschaft noch voller Übermut an die Idee des Fortschritts glaubte und daran, dass jede zukünftige Generation es besser haben würde, als die davor.
Dethlefsen und Dahlke waren frühe Mahner, sie warnten vor der Fortschrittsideologie und legten ihren zirkulären Ansatz offen. Anders gesagt: Ein Weg hat ein Ziel, an dem man ankommen möchte, Fortschritt hat kein Ziel, ist ein Trip. Wenn wir den Fortschritt erreicht haben, kommt noch mehr Fortschritt und man kommt nie und nirgends an. Man muss mal daran denken, die Bremse zu ziehen, inne zu halten, nachzudenken. Dargestellt haben sie dieses Thema exemplarisch an dem Bereich Krankheit und Heilung und das fulminant und selbstbewusst genug um einigen Wirbel zu verursachen und irgendwann selbst in den Fokus der Kritik zu geraten.
„Unwissenschaftlich“ hieß der Begriff mit dem man den ganzen Ansatz nun bezeichnete, doch Dethlefsen und Dahlke belieben ungerührt und die Szene derer, für die „unwissenschaftlich“ zu sein fast so etwas wie ein Gütesiegel wurde, wuchs erstaunlicherweise. In der Esoszene wurde das kalte, analytische und funktionale Denken mehr und mehr zum Feindbild und diese Szene hatte durchaus Einfluss. Doch parallel zum Einfluss wuchs auch die Kritik weiter und es entstanden organisierte Kritikergruppen, doch erstaunlich genug war, dass die Außenseiter solange Stand halten konnte. Zur Halbzeit lagen sie vorne, doch das sollte sich ändern. Gewann der Begriff „Esoterik“ anfangs durchaus an Strahlkraft und war es sexy esoterisch unterwegs zu sein, was bis zu eigenen Fernsehshows ging (dies allerdings schon ohne die beiden und als müder Abklatsch der ursprünglichen Ideen), so wurde der Begriff wie kaum ein anderer in der Folge diskreditiert und steht heute als Synonym für Unsinn.
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Ganz anders Otto Kernberg. Für einen Psychoanalytiker, das sagten wir, ist es schon fast ein wenig eine Kuriosität ein dezidierter Mann der Wissenschaft zu sein. Doch diese Idee, dass sich beides ausschließt überhaupt im Kopf zu haben, zeigt vor allem eines: die kulturelle Stimmung der Zeit. Über Jahrzehnte hielt der Siegeszug der Wissenschaft an, Freud verstand sich ebenfalls als Mann der Wissenschaft, sah die Psychoanalyse als zwischenzeitliche Krücke oder Lückenfüller, weil die Neurologie zu seiner Zeit, mangels Möglichkeiten der Bildgebung und anderer Forschungsmethoden noch nicht so weit war. Ebenfalls 1968 bezeichnete Jürgen Habermas diese Haltung, in „Erkenntnis und Interesse“, einem Buch, das selbst zu einem Markstein deutscher Geschichte wurde, als einen Selbstirrtum Freuds. Die Psychoanalyse ist viel mehr und war es immer schon, als abgespeckte Neurologie und mehr als merkwürdigerweise selbst Freud ahnte. In den Worten von Habermas: „Die Psychoanalyse ist für uns als das einzige greifbare Beispiel einer methodisch Selbstreflexion in Anspruch nehmenden Wissenschaft relevant.“
Kernberg ist das alles bewusst, er nötigt der Psychoanalyse dennoch oder gerade deshalb die Wissenschaft auf. Ihre starken und idealen Seiten. Studien, Wirksamkeitsnachweise, Nachbesserungen, Freiheit von Ideologie. Kernberg will die stärksten Seiten der Wissenschaft leben und bewahren, bis heute. Er ist nicht nur überzeugt davon, dass die Psychoanalyse und mit ihr verwandte Formen wie aufdeckende, tiefenpsychologische oder psychodynamische Ansätze, hier bestehen können, er hat auch keine Scheu nachzubessern, Freud hier und da zu widerlegen und er weiß dennoch, dass mit der Widerlegung einiger Teilsegmente einer Theorie nicht die ganze Theorie obsolet ist, das gehört, Popper widerlegend, spätestens seit der Duhem-Quine-These ins Reich der wissenschaftstheoretischen Legenden. So konnte Kernberg den Weg der Wissenschaft konsequent weiter gehen, bis zum heutigen Tag.