Jeder für sich oder alle zusammen? Vollziehen Sie es nach. Empathie überwindet Grenzen. © Pedro Ribeiro Simões under cc

Sie ist ein wichtiger Baustein einer gesunden Psyche, andere profitieren von ihr, doch in besonderer Weise ist Empathie das Tor zu anderen Welten.

In Empathie haben wir erklärt, was Empathie ist und ausmacht. In (Un)fähig zur Empathie: Wo stehen wir? die eigene Empathie untersucht. Empathie hat mehrere Stufen, noch der Sadist und der Psychopath müssen empathisch sein, weil die Kenntnis der wunden Punkte die eigene Macht vergrößern.

Der gute Verkäufer muss schnell erkennen, wie er seine potentiellen Kunden anspricht und wo er sie packen kann und jemand der hämisch ist, kann dies nur sein, wenn er empathisch, einen wunden Punkt trifft. Verläuft unsere Entwicklung im besten Sinne normal, verinnerlichen wir gewisse Hemmungen, die uns daran hindern, all das zu tun, was wir potentiell tun könnten. Das ist gut, vor allem für das Zusammenleben. Problematisch wird es erst, wenn man seine potentiellen Möglichkeiten völlig verdrängt oder verleugnet und ernsthaft glaubt, nur die anderen seien gierig, geil und aggressiv.

Diejenigen, die zur Einsicht (noch) nicht fähig sind, werden zumeist durch die Angst vor Strafe davon abgehalten, das zu tun, was ihnen auf den ersten Blick mehr Vorteile einbringt, als anderen oder anderen schadet. Das wird den meisten bekannt sein.

Die höheren Stufen der Empathie

Das, was wir gewöhnlich unter Empathie verstehen, ist aber nicht die Fähigkeit jemanden grausam oder wenigstens um des eigenen strategischen Vorteils Willen zu manipulieren, auch nicht, etwas aus Angst vor Strafe zu unterlassen, sondern Empathie beginnt im Grunde da, wo wir uns auf den anderen einlassen, mit ihm fühlen, in Freud und Leid.

Empathie fordert uns, wir leiden wirklich mit, weil wir ein wenig in die emotionale Welt des anderen gezogen werden. Der Lohn ist, dass es uns auch gelingt, uns für und mit andern freuen zu können. Auf den unteren Stufen der Empathie erkennt man zwar, wie der andere ‚funktioniert‘, aber die Vergrößerung seines Wohlergehen ist nichts, was man anstrebt, sondern es geht um die Vergrößerung des eigenen Wohlergehens. Anders ausgedrückt es geht um Altruismus oder Egoismus.

Beide schließen einander nicht aus. Man kann rein egoistische Motive haben, aber es könnte sein, dass der andere dennoch von meinem Egoismus profitiert, etwa weil ich ihm jetzt etwas Gutes tue, aber darauf aus bin, dass er mir dafür etwas schuldig ist. Man kann aber auch altruistische Motive haben und am Ende auch ein wenig selbst davon profitieren, weil man sich eben mit freut oder vielleicht Dank erhält. Das verdirbt die Absicht nicht, wenn man selbst etwas davon hat. Es muss einem nicht schlecht gehen, damit es anderen gut geht. Eine Tat wird auch nicht edler, weil man selbst unter ihr leidet.

Empathisch in einem umfassenden und höheren Sinn kann man besonders gut bei Menschen sein, die einem nahe stehen. Das ergibt sich, weil man eben diese Menschen gut kennt und Empathie nicht nur auf der emotionalen Ebene eine mitschwingen bedeutet, sondern, dass man die Hintergründe des anderen kennt, weiß, wie er sich jetzt, in so einer Situation fühlt, weiß, dass jemand gerade besonders leidet, gelangweilt, überfordert, inspiriert oder im siebten Himmel ist.

Empathie heißt daher auch, zu wissen, warum jemand etwas (aktuell) nicht machen kann. Sie heißt, ein Stück weit nachvollziehen zu können, was eine Alltagshandlung, die für andere nicht der Rede wert ist, für diesen Menschen bedeutet, weil man weiß, dass er eine soziale Phobie hat. Es heißt aber auch besonders erhebende Momente miterleben zu können, weil man weiß, dass jemand gerade am Ziel eines Traums ist.

Das Tor zu anderen Welten

Empathie ist in dem Sinne nichts Besonderes, zumindest nicht in ihren Grundstufen. Es gibt nur eine verschwindende Minderheit vom Menschen, die zur Empathie nicht in der Lage sind. Sie kann allerdings auch schnell sehr komplex werden. In ‚Ich weiß, dass du weißt, dass ich weiß‘-Situationen etwa. Klingt kompliziert, ist aber der Normalfall bei Menschen, die den Alltag miteinander teilen. Man weiß mehr vom anderen, als gerade besprochen wird und der andere weiß, dass man mehr von ihm weiß, einfach, weil man sich gut kennt.

Man kennt die Stärken, Schwächen und Macken des anderen, weiß, was ihn begeistert und wo er verweigert, sich ängstigt, was ein rotes Tuch für ihn ist. Wie fast immer eine Mischung aus geteilten Emotionen und Kognitionen, aber durchaus bis zu den sehr komplexen Bauten der psychologischen und theoretischen Architekturen.

Just an der Stelle gibt es eine bemerkenswerte Wendung. Gilt Empathie landläufig als eine angenehme Eigenschaft, weil der empathische Mensch dem anderen und der Gemeinschaft gut tut, so profitiert ab einem gewissen Grad an Komplexität der empathische Mensch selbst in besonderer Weise. Er stößt das Tor zu anderen Welten auf. So schreibt der Franz Kafka Biograph Reiner Stach:

„“Wir kennen uns nur selbst“, notierte Lichtenberg in seinen SUDELBÜCHERN, „oder vielmehr, wir könnten uns kennen, wenn wir wollten; allein die anderen kennen uns nur aus der Analogie, wie die Mondbürger.“ Das ist, wie wir längst wissen, doppelt falsch. Um sich selbst zu kennen, genügt es bei weitem nicht, sich kennen zu wollen. Und was die anderen betrifft, so kommt man erstaunlich oft mit einer Kombination aus Lebenserfahrung und schlichtestem, instrumentell angewandten Psycho-Wissen aus, um bestimmte Handlungen, selbst Impulse und Gedanken vorauszusehen. Anderes wiederum bricht in so spontaner, bisweilen gewaltsamer Weise hervor, dass keine Analogie den Schrecken abzuwenden vermag.

Empathie lautet das Zauberwort des Biographen. Empathie hilft weiter, wo Psychologie und Erfahrung versagen. Selbst das empirisch noch so gut dokumentierte Leben bleibt mysteriös, wenn der Biograph im Leser nicht die Bereitschaft und die Fähigkeit wachruft, sich einzufühlen in einen Charakter, eine Situation, ein Milieu. Daher die eigentümliche Sterilität mancher dickleibiger, von Daten und Quellenangaben förmlich aufgeschwemmter Biographien: Sie geben vor, alles zu sagen, was man sagen kann, doch sie sprechen gleichsam über ihren Gegenstand hinweg und stillen darum auch die Neugier nicht.

Andererseits ist Empathie eine methodologische Droge, und es rächt sich, gedankenlos mir ihr zu hantieren. Gewiss bietet sie glückliche Augenblicke der Erleuchtung: Man vollzieht innerlich nach, was ein anderer erfuhr, und dann begreift man scheinbar ohne Mühe, oder glaubt zu begreifen, wo man bisher vor einem Rätsel stand. Doch Empathie ist kein willkürlich abrufbarer psychischer Zustand, vielmehr eine komplexe Leistung, die – nicht anders als jene Disposition die ‚Intelligenz‘ heißt – zunächst einmal den Brennstoff des Wissens und der Bildung benötigt. Empathie ohne hinreichendes Wissen ist eine Mühle, die leeres Stroh drischt. Um das zwanghafte, neurotische Moment in Kafkas Gewohnheiten und Entscheidungen zu erfassen, genügt es bei weitem nicht, selbst neurotisch zu sein (auch wenn das bisweilen nützlich ist). Und um die Situation des Knaben zu verstehen, des einzigen Sohnes, der an jährlich drei, vier jüdischen Festtagen an der Hand des Vaters den Tempel aufsucht, sich dort langweilt, während der Vater erkennbar ans Geschäft oder an die jüngsten antisemitischen Parolen denkt – dazu hilft Empathie zunächst einmal gar nichts, und selbst ein im jüdischen Glauben aufgewachsener Beobachter wird keine Tiefenschärfe erzielen, wenn er die historische Situation nur vom Hörensagen kennt.

Das kulturell Fremde, das längst Vergangene, nicht zuletzt auch das Psychotische, das eine Gesellschaft ebenso ergreifen kann, wie den einzelnen – sie markieren die äußeren Grenzen, die dem empathischen Vermögen gezogen sind. Doch es gibt auch eine innere Grenze, die viel schwerer auszumachen ist: die Grenze zur unbeherrschten Identifikation. Wer sie überschreitet, wird nicht etwa mehr, sondern in aller Regel weniger verstehen. Es kann hilfreich sein, sich identifiziert zu haben, und die intellektuelle und emotionale Anstrengung, die es kostet, sich aus diesem Zustand der distanzlosen Verehrung wieder freizumachen, ist gerade für den Kafkabiographen nicht die schlechteste Vorübung. Auch gehört die Fähigkeit, sich gleichsam probeweise zu identifizieren, zu den unabdingbaren Voraussetzungen für jeden, der ein fremdes Leben erkundet. Doch gerade diese Nähe einer scheinbar leicht zu erlangenden Befriedigung, die wir uns doch versagen müssen, ist eine beständige Versuchung: eine lockende Essenz, von der wir nur kosten sollten.

Empathie stillt den Schmerz des Nichtwissens. Das Nichtwissen selbst vermag sie nicht zu tilgen. Es gibt Monate im Leben Kafkas, über die wir keinerlei Dokumente besitzen, in denen es gleichsam Nacht wird über dem Strom der Überlieferung. Welchen Sinn hätte es, mit romanhaften Phantasien diese Abwesenheit überbrücken oder gar verschleiern zu wollen? Es gibt andrerseits Tage, an denen wir sein Leben fast von Stunde zu Stunde rekonstruieren können, und es zählt zu den lustvollsten Augenblicken biographischer Arbeit, wenn die Dichte der Überlieferung wenigstens die Umrisse einer szenischen Vergegenwärtigung ermöglicht – die Lust des detektivischen Erfolgs. Doch was heißt das bei einem Menschen, dessen Leben sich in der „Tiefe“, in einer so überwältigenden inneren Intensität erfüllt? Immer wieder verbrachte Kafka halbe Tage im Bett, auf irgendeinem Sofa, träge, unzugänglich, tagträumend – er hat es oft genug beklagt, so oft, dass man darüber Buch führen könnte. Doch was wissen wir darüber? Wir wissen, dass etliches von dem, was dort geträumt wurde, später einigen Millionen Menschen den Atem nahm.

Selbst der methodische gewiefteste Biograph kommt über das Bild eines Bildes nicht hinaus: die Stimmung, die Farbe des Augenblicks, die Assoziationen, die latenten Ängste und Lüste, die ihn erfüllen, Mimik und Gestik, Stimmen, Geräusche, Gerüche … alles könnte ein wenig anders gewesen sein, als wir glauben, es uns vorstellen müssen. Unendlich facettenreicher war es ohnehin: Selbst die präziseste, mit Wissen und Empathie bewaffnete Einbildungskraft, ja die perfekte innere Verfilmung des historischen Materials bleibt schattenhaft, gemessen daran, wie es wirklich war. Den Schmerz des Nichtwissens, das fortschreitende Verblassen aller Erinnerungen, das unwiderrufliche Vergangensein des Vergangenen vermag keine Imagination aufzuheben, auch die mächtigste nicht. Alles, was sie kann, ist: Evidenz zu erzeugen, die Konturen zu schärfen, die Auflösung des Bildes zu erhöhen. Alles, was sie sagen kann, ist: So dürfte, könnte, so müsste es gewesen sein.“[1]

Empathie gehört also zur Grundbedingung des Biographen, der damit jedoch nicht einfach nur den anderen versteht, wie man die Funktion eines Stromkreises versteht, sondern man gewissermaßen zum Teil des mitunter faszinierenden Kosmos dieses anderen Menschen, den man zu ergründen und beschreiben versucht und muss aufpassen, dass man die immer auch notwendige Distanz nicht verliert.