gefangener Zwerg, Skulptur

Klein, ohnmächtig und gefangen: so fühlen sich heute viele Menschen. © Klearchos Kapoutsis under cc

Eine neue Ohnmacht macht sich breit und mit ihr eine seltsame Zufriedenheit, die man als einen Narzissmus der Ohnmacht deuten kann.

Sich ohnmächtig zu fühlen oder es zu sein ist im Grunde eine fürchterliche Situation, die man häufig so schnell wie es geht wieder geändert haben möchte. Viele wollen ihre Freiheit und Autonomie zurück gewinnen. Das ist es, was man erwartet. Umso eigenartiger der Befund, dass es eine nicht geringe Zahl von Menschen gibt, die gegen ihre Ohnmachtsgefühle eigentlich gar nichts einzuwenden haben. Es ist sogar eine gewisse Lust zu verspüren, Opfer zu sein, ohnmächtig zu sein. Wie kann das sein?

Die neue Lust am Opfersein

Am ehesten hatte man in der Psychosomatik diesen Mechanismus gefunden, der darin bestand, dass Menschen im Grunde ja nicht gerne krank und eingeschränkt sind und daher schnell wieder gesund werden wollen. So dachte man zumindest. Bis man immer wieder auf Patienten stieß, bei denen eine Behandlung, von der andere profitierten, einfach nicht anschlug. Vielleicht mal eine leichte Besserung, doch dann wurde es wieder etwas schlechter, der durchschlagende Erfolg blieb aus. Das kann viele Gründe haben und inzwischen hat man längst herausgefunden, dass nicht jeder Mensch gleich auf dieselben Behandlungsweisen reagiert, aber darüber hinaus fand man noch einen Punkt, nämlich, dass einige aus der Gruppe, die nicht gesund werden, offenbar nicht gesund werden ‚wollen‘.

Wobei das mit dem ‚Wollen‘ so eine Sache ist, denn der Mechanismus ist ihnen selbst nicht bewusst. Man will natürlich einerseits schon gesund werden, andererseits entdeckt man während seiner Krankheit, dass man auf einmal diverse Formen der Aufmerksamkeit und Zuwendung bekommt, die einem sonst nicht gewährt werden. Man ist von Verpflichten in der Arbeit und dem Privatleben entlastet, andere Menschen reagieren besorgt und rücksichtsvoller als bisher, das alles tut auch gut und wenn man das auch nicht explizit so sieht oder sich vielleicht nicht traut sich hinzustellen und einzufordern, dass man bitte ein wenig Beachtung möchte, löst man diesen Konflikt eben halbwegs elegant über Krankheiten. Die hat man einfach, man hat sie sich nicht gewünscht und kann also auch nichts dazu. Die stille soziale Übereinkunft ist, dass Kranke eben krank sind und Schonung brauchen. Vor allem können sie nichts dazu, dass die krank sind. Die Viren waren es oder eine Entzündung, man hat sich verhoben oder gar Schlimmeres.

Diese Diskrepanz ist als primärer und sekundärer Krankheitsgewinn in den aufdeckenden Therapien bekannt, inzwischen hat die Verhaltenstherapie das Prinzip aber auch gefunden und nennt es Zielkonflikt. Insofern ist das alles gut untersucht und nicht neu, ungewohnt ist die neue Lust am Opfersein, die den Bereich der Krankheit überragt und auf Opfer von Straftaten ausdehnt, die nun tatsächlich zum Opfer wurden, manchmal dadurch traumatisiert sind, Hilfe benötigen und in manchen Fällen stellt sich ein analoger Effekt ein, wie der, den wir sahen. Das Opfer, so sollte man meinen, sollte ein Interesse daran haben, die Sache schnell zu vergessen und hinter sich zu haben, so gut es eben geht, doch gleichzeitig wird man auch hier geschont und einem wird manchmal eine Sonderrolle zugesprochen. Eine Deutung[link], die nicht pauschal zu verstehend ist, weil man manchen Opfern damit unrecht tut. Jeder Fall ist ein immer wieder neuer Einzelfall, jeder Mensch immer auch ein Individuum.

Der Narzissmus der Ohnmacht als soziale Marotte

Doch nicht jeder ist chronisch krank oder ein Gewaltopfer geworden, dennoch macht sich eine Bereitschaft breit sich selbst zum Opfer zu machen. „Heute will jeder Opfer sein. Das gefährdet die westlichen Demokratien, schreibt Francis Fukuyama in seinem neuen Buch „Identität“.“ heißt es in einer Rezension in der Zeit. „Wenn mich nicht alles täuscht, dann gibt es derzeit ziemlich viele, die sich bereitwillig selber zum Opfer machen, die eigene Ohnmacht beschreiben, die sich fühlen, wie ein Rädchen im Getriebe.“ Mit diesen Worten leitet Jürgen Wiebicke, seine Sendung ‚Das philosophische Radio‘ zu Sartres Existenzialismus ein.

Politologen, philosophiekundige Moderatoren, sie alle sehen die Tendenz und die Antwort ist ähnlich, wie in den schon genannten Bereichen. Es ist die Entlastung. Ich kann ja nichts dazu, ich habe es ja so nicht gewollt, all das geschieht nicht in meinem Namen, aber leider, leider kann ich daran eben auch rein gar nichts ändern.

Man ist mit dieser Haltung auf den ersten Blick fein raus, da man es ja tatsächlich nicht gewollt hat, aber mit der Erklärung streift man gewöhnlich alle Verantwortung für das Thema ab. Zur auffallenden Bequemlichkeit der Position kommt der Bonus, sich im Grunde auch noch besser fühlen zu dürfen, moralisch überlegen, weil man es ja so nicht wollte. Die Haltung ist so vordergründig richtig, wie billig.

Moralische Überlegenheit?

Man macht sich einen schlanken Fuß, wenn man einerseits permanent betont, man selbst habe sich das alles ja so nicht ausgesucht, aber gleichzeitig von den Strukturen profitiert, die einen auffangen und versorgen. Diese Strukturen sind gar nicht schlecht, denn soziale Wesen zu sein, die aufeinander achten und neben staatlich organisierten Sozialsystemen vor allem durch eine stille Übereinkunft der Menschen funktioniert, ist eine gewaltige Errungenschaft. Die stille Übereinkunft, auf deren Grundlage so etwas wie der sekundäre Krankheitsgewinn überhaupt erst funktionieren kann, lautet, dass man wechselseitig aufeinander Rücksicht nehmen sollte, aber eben auch, dass jeder seine Stärken und Schwächen woanders hat und dass man ein wenig fair bleibt, die Schwächen des anderen nicht überbetont und seine Stärken fördert. Ebenfalls, dass alle sich bemühen, irgendwie mitzuspielen, statt Trittbrettfahrer zu sein.

Jeder wird mal krank und hat so was, wie eine banale Erkältung. Wenn diese knackiger ist, weiß man, dass man sich damit ziemlich elend fühlen kann. Idealerweise bleibt man dann zu Hause, kuriert sich aus, damit man keinen anderen ansteckt und sich keine Komplikationen einstellen. Da das jeder kennt und weiß, wie man sich fühlt, hat man dafür Verständnis. Einige gehen auch mit 39° C Fieber arbeiten und fühlen sich wie Helden, was sehr problematisch ist, aber über die reden wir jetzt nicht. Gut ist, dass man in verschiedenen Situationen geschont wird.

Im Fall von Krankheit, Scheidung, Todesfällen von Freunden, Partnern und Familienmitgliedern, Unfällen oder Überfällen sind wir in aller Regel mitfühlend und nehmen Rücksicht, wissend, dass all das uns selbst irgendwann erwarten kann. Zum Spiel gehört, dass die Schonung zeitlich begrenzt ist. Irgendwann, wo wird erwartet, hat man seinen Platz wieder einzunehmen und es sollte weiter gehen. Das klingt unbarmherziger als es ist, denn die Normalität und ihr Korsett, funktionieren zu müssen, hilft einem oft über Trauer und Leere, Schock oder Trauma hinweg. Wenigstens für Stunden ist man aus der Leere raus. Der eine braucht länger, der andere weniger lang, einer braucht Rückzug, der andere Ablenkung, aber Normalität ist oft eine gute Stütze.

Trauma

Manche Menschen trifft es besonders hart, sie sind traumatisiert. Doch der Begriff Trauma wird heute inflationär verwendet. Ein Trauma liegt vor, wenn man entführt wurde, nicht wenn das Smartphone zerbrochen ist. Wenn man in einem schweren Unglück in eine lebensbedrohliche Situation gerät, wenn man zur Geisel wird, wenn man im Krieg mit Lebensgefahr, Tod und Elend konfrontiert ist, oder brutal vergewaltigt wurde. Wenn man in eine kurzzeitige, aber so überwältigende Situation gerät, dass man sie nicht verarbeiten kann.

Psychisch noch zersetzender ist es, wenn man chronischen Aggressionen ausgesetzt ist. Der wahllos prügelnde Vater, sexuelle Übergriffe über Jahre. Ein „broken home“ in dem das, was Schutz und Sicherheit sein sollte, die Quelle von Gewalt und Konfusion ist, indem Spitzenaffekte die Regel sind.

Echte Traumatisierungen oder chronischer Aggression ausgesetzt zu sein, ist eine ganz andere Kategorie, ein völlig anderer Schweregrad, als eine Erkältung erlitten zu haben oder einen leichten Auffahrunfall. Es ist bewundernswert, dass und wie einige Menschen, die Entsetzliches erlebt haben mitunter wieder zurück ins Leben kommen. Aber es wäre naiv zu denken, das ginge problemlos, da doch jetzt alles vorbei ist. Auch wenn die äußere Situation jetzt eine andere ist, das was war, hat tiefe Furchen in der Psyche hinterlassen.

Diese Menschen sind zweifellos Opfer geworden, sie haben den Tag, der ihr Leben so veränderte, gewiss nicht gewollt. Sie haben sich die jahrelange, latente Gefahr, zu wissen, dass „es“ wieder passieren wird und dass sie nirgends sicher sein können, nicht herbei gewünscht. Diese Menschen haben unseren besonderen Schutz verdient, ohne Zweifel.

Strukturelle Gewalt

„Strukturelle Gewalt bezeichnet die Vorstellung, dass Gewaltförmigkeit auch staatlichen bzw. gesellschaftlichen Strukturen inhärent sei – in Ergänzung zum klassischen Gewaltbegriff, der einen unmittelbaren personalen Akteur annimmt. In besonderer Weise formulierte der norwegische Friedensforscher Johan Galtung ab 1971 eine solche Theorie. Beispiele für strukturelle Gewalt im Sinne Galtungs sind Altersdiskriminierung, Klassismus, Elitarismus, Ethnozentrismus, Nationalismus, Speziesismus, Rassismus und Sexismus.“[1]

Strukturelle Gewalt meint, dass jemand ständig klein gemacht und gehalten wird und es ist gut und richtig, dass wir diese Aspekte heute mehr beachten und sie stärker würdigen. Auch hier gibt es Menschen (und Tiere), die es Weise hart trifft, weil sie gleich mehrere Kriterien erfüllen und im schlimmsten Fall nicht mal wahrgenommen werden. Doch die Kriterien der strukturellen Gewalt stellen gleichzeitig ein Einfallstor für den Narzissmus der Ohnmacht dar.

Denn gegenüber traumatisierten Menschen können diese nun äußern: „Man hat mir nicht nur einmal übel mitgespielt, ich werde die ganze Zeit drangsaliert. Mein Leben ist eine einzige Unterdrückung“ und wer es wagt den Grad dieser Erfahrungen mit anderem Leid in Beziehung zu setzen, der wird als kaltherzig und unempathisch, wenn nicht als brutaler Faschist bezeichnet.

Was haben diese ‚brutalen Faschisten‘ getan? In der Tat manchmal das Schlimmste, nämlich das ‚Opfer‚ mit der Möglichkeit einer Besserung, wenn nicht Heilung bedroht. Oft ganz unschuldig und unbedarft, weil sie glaubten, dass diese mit der Zeit immer professioneller agierenden Opfer tatsächlich aus ihrer Situation – unter der sie leiden und die für sie, wie sie sagen, unerträglich ist – raus wollen. Weit gefehlt. Diese ‚Opfer‚ haben stets auch willige Helfer und beide brauchen einander oft wechselseitig, um gut gemeinte Verbesserungsvorschläge wegzubeißen: als naiv, kaltherzig oder grausam zu diskreditieren. Ein oft zu hörender Standardspruch lautet, dass man das Opfer ein weiteres Mal zum Opfer macht, wenn man nicht hinreichend und ausdauernd genug würdigt, dass es ein Opfer ist. (Ausführliche Einblicke in diese Thematik: Psychische Heilung aus der Sicht zweier ungleicher Geschwister)

Keine Frage, das gibt es. Eine Frau, die vergewaltigt wurde und nun noch mal detailliert zu allen Aspekten der Tat befragt wird, deren Position, juristisch notwendig, angezweifelt wird, macht einen Spießroutenlauf mit. Jemand der in Armut geboren ist und nun der oft kaltherzigen bis sadistischen Mühle der Bürokratie unterworfen ist und wie ein nichtsnutziger Bittsteller oder gar Dieb behandelt wird, der erleidet strukturelle Gewalt.

Aber die Zahl der Opfer scheint immer mehr zuzunehmen und im übergroßen Angebot dessen, was heute alles unter Trauma und strukturelle Gewalt zu fallen scheint, wird jeder fündig, der fündig werden will. Frauen und Behinderte, Menschen mit Migrationshintergrund oder Adipositas, Alte oder Arme, Mobbingopfer oder Rothaarige. jeder der ein bisschen in seiner Biographie sucht, wird Situationen finden, in denen ihm übel mitgespielt wurde und wer wirklich nichts findet, braucht nur ein Buch von Alice Miller zu lesen, dann findet er was, denn es ist wenig übertrieben zu behaupten, dass bei Miller jede Kindheit, eine Kindheit mit Misshandlung ist.

Diejenigen die Opfer als Lebensansatz gewählt haben, haben auch schon eine Idee, was ihr Leid lindern könnte: lebenslange Sonderrechte, maximale Rücksicht und wenn es geht Entschädigung bis zur dauernden Alimentierung. Das ist ein ziemlich narzisstischer und regressiver Traum, der für Kinder angemessen ist. Liebe ohne Gegenleistung, allein dafür, dass man auf der Welt ist, maximale Versorgung und Rücksicht, das bekommen Säuglinge. Man freut sich, egal ob sie pupsen oder lachen, ist in heller Aufregung um ihr Wohlergehen und tut einiges dafür, dass sie es gut haben. Mit dem Alter wird man selbstständiger, freier und kann besser auf sich alleine achten. Wer in dem geschlossenen Denkansatz des andauernden Opfers gelandet ist, will von der kindlichen Sicht auch als Erwachsener nicht lassen.

Wer nun daherkommt und die Opfer mit Linderung oder Heilung bedroht, wird auch ganz folgerichtig nicht als Helfer oder Verbündeter, sondern als Feind wahrgenommen. Denn wer war man vorher oder was wäre die Alternative? Im guten Fall war oder ist man einer von den vielen aus dem Mainstream, der sich anstrengen und abstrampeln muss, um wahrgenommen zu werden, ein Schicksal was die meisten teilen. Doch als Opfer ist man sofort in einer Sonderrolle. Man ist wer und man hat auf einmal was zu sagen, man kann Rücksicht einfordern, je schlimmer es einem geht, umso mehr. Der Zielkonflikt, der sekundäre Gewinn. Weil es mir schlecht geht, geht es mir gut, bekomme ich Zuwendung, Aufmerksamkeit, Gratifikationen.