Systeme, die rein auf Macht im Sinne des Rechts des Stärkeren beruhen, geraten in eine Todesspirale und fallen irgendwann in sich zusammen.
Danach sieht es zunächst nicht aus, doch die innere Logik des Systems bringt dies mit sich. Diese Entwicklung will ich aufzeigen.
Wodurch werden Macht-Systeme überhaupt attraktiv?
Macht ist zunächst einmal eine neutrale Größe. Definiert wie folgt:
Macht ist die Fähigkeit, Einfluss auf das Verhalten, Empfinden oder Denken anderer zu nehmen und es zu steuern.
Nun kann man fragen, warum der Einzelne überhaupt ein Interesse daran haben sollte, sich steuern zu lassen. Gerade in unserer Zeit reagieren viele Menschen hoch allergisch auf Regeln jeder Art und sind oft bereit schon aus Prinzip gegen diese zu verstoßen. Wieso also, sollte man sich steuern lassen?
Die Antwort ist, dass es zu einer geschickten Form der Machtausübung gehört, den anderen genau das nicht spüren zu lassen, dass er gesteuert oder beeinflusst wird. Das kann man lernen, intuitiv beherrschen oder beides.
Die Attraktivität für den der folgt kommt klar daher, dass das eigene Ich maximal aufgepumpt wird. Oft ein schwaches Ich, wobei man hier die psychologische Ich-Schwäche von der alltäglichen Vorstellung von Ich-Schwäche und Ich-Stärke unterscheiden muss. Psychologische Ich-Schwäche ist wesentlich durch die Unfähigkeit charakterisiert ein zusammenhängendes, einheitliches und widerspruchsfreies Bild von sich selbst und anderen Personen, die eine wichtige Rolle im eigenen Leben spielen, darzustellen. Knapper: Die Unfähigkeit ein kohärentes Bild von sich und wichtigen anderen beschreiben zu können.
Diese Ich-Schwäche kann in mehreren Formen auftreten, die wir hier ausführlich dargestellt haben. Als sehr unsicheres Ich, aber in der Kompensation eben auch als über die Maßen selbstbewusst wirkendes, manchmal charismatisches Ich mit einer geheimnisvollen bis dämonischen Aura. Manchmal ein Bild des harten Mannes, mit dem man sich besser nicht anlegt. Doch zuweilen sind das auch sehr entspannte und nette Menschen, weil sie wissen, dass sie im Zweifel in einer Auseinandersetzung die Gewinner sein werden. Das können psychologisch betrachtet ich-schwache Menschen sein, die aus einer alltäglichen Sicht sehr ich-stark wirken und es ist wichtig, diesen Unterschied zu beachten.
Jedes Ich fühlt sich in manchen Situationen stolz und gebauchpinselt, oft fehlt es uns im Alltag aber an Anerkennung. Wir tun unsere Pflicht und niemand dankt es uns. Nicht nur das, nicht wenige Gruppen fühlen sich heute aus der Gesellschaft ausgegrenzt, obwohl sie alles richtig machen. Diese Menschen sind oft nachvollziehbar frustriert und gut ansprechbar für Ideen, in denen sogar das, was als persönlicher Nachteil erscheint, in einen Vorteil, in ein Markenzeichen der Auserwähltheit uminterpretiert wird. Tenor: Nicht mir dir stimmt etwas, nicht mit der Gesellschaft ist etwas nicht in Ordnung. So hatte man das bislang noch nie gehört und es ist nachvollziehbar, dass so eine Lesart begeistern kann.
Kleine Macht-Systeme
So eine Gemeinschaft, die das eigene Ego aufpeppt, kann klein sein. Manchmal schart sie sich um einen charismatischen Anführer und jeder der Mitgliedern der Gemeinschaft weiß genau, wie es ist, sich so zu fühlen, wie der Neuling. Es ist ein irgendwie blindes Verstehen, das Gefühl eines nach Hause Kommens, obwohl man sich nie zuvor begegnet ist. So etwas hat man vielleicht noch nie zuvor, mindestens aber sehr lange Zeit nicht mehr erlebt.
Die kleine Gemeinschaft zeichnet sich nicht nur dadurch aus, dass sie oder ihre Einstellung von der Gesellschaft abgelehnt oder ignoriert wird, sie grenzt sich auch ihrerseits von der Gesellschaft und deren Regeln ab. Wir wollen hier solche Gruppen betrachten, die sich explizit gegen die Gesellschaft aufstellen und deren Regeln missachtet. Im wesentlichen sind das Gruppen, die sich als stärker und mächtiger als die Gesellschaft erleben. Aus dieser Sicht wird die Gesellschaft als schwach, feige und dekadent erlebt, man selbst erlebt sich als stark und überlegen und sieht daher nicht ein, sich den Regeln der Schwäche zu unterwerfen.
Damit sagt man der Gesellschaft entweder explizit den Kampf an oder errichtet eine Art Parallelgesellschaft. Im Falle kleiner Macht-Systeme sind das oft kriminelle oder subkulturelle Banden. Da diese Banden wissen, dass sie vom Staat beobachtet und verfolgt werden und dies erheblichen Stress auslösen kann, braucht man etwas auf der Haben-Seite, das diesen Stress ausgleicht.
In der Regel sind das drei Elemente: Erstens, wird dafür gesorgt, dass neue Mitglieder sich in einer Art Initiationsritus beweisen müssen. Man kann nicht nur einfach dabei sein, man muss auch etwas dafür leisten. Durchbricht man mit dieser Leistung den gesetzlichen erlaubten Rahmen, hängt man automatisch mit drin und kann sich ab da nicht mehr so einfach überlegen, doch wieder auszusteigen. Dem äußeren Druck wird also einer von innen entgegen gesetzt. Aber das ist noch kein Lohn. Der besteht, zweitens, darin, dass das Ich konstant groß gehalten wird. Wir sind besonders, darum lehnen die anderen uns ja ab, weil sie es in Wahrheit wissen und uns beneiden. Die wären auch gerne wie wir, sind aber einfach nicht hart, gerissen, mutig und intelligent genug, das macht uns ja gerade besonders. Dieser Mythos kursiert auf die eine oder andere Art, muss aber, drittens, durch Praktiken bestätigt werden. Die kann durch Rituale, aber auch gemeinsame Aktionen, wie Straftaten gefestigt werden, die dem Einzelnen das Gefühl geben Teil einer Schicksalsgemeinschaft zu sein. Der Geschichte der Besonderheit wird also ein bestätigendes Erleben, ein Gefühl hinzugefügt und das lässt die Geschichte plausibel erscheinen. Das kann eine sehr starke sich selbst erhaltende Dynamik entwickeln.
Zerstört werden kann diese Dynamik, indem die Gruppe, der Anführer oder wesentliche Teile eines Tages doch gefangen genommen werden, was dem Gefühl der Überlegenheit erst einmal den Zahn zieht. Es muss aber nicht sein, dass dieses Gefühl bei allen Mitgliedern verlischt, zumal das Gefühl chronischer Überlegenheit oft Teil des Charakters derselben ist.
Große Macht-Systeme und charismatische Führer
Große Macht-Systeme sind zum Teil um eine charismatische Führerfigur herum gruppiert und dann in gewisser Weise auch von dieser abhängig. Menschen die Führungspositionen drängen, sind oft, wenn auch vielleicht nicht zwingend narzisstisch, denn sie wollen immerhin die Anführer sein. Oft ist ihr Kommunikationsstil der, einer unbekümmerten Vereinfachung. ‚Endlich sagt mal einer, wie es wirklich ist.‘
Wir wissen immer mehr von der Welt und ihren Zusammenhängen, der Typus des Universalgelehrten ist seit vielleicht 200 Jahren nicht mehr existent, weil einfach niemand mehr die feinen Verzweigungen unseres Wissens überblicken kann. Heute ist es meistens so, dass man innerhalb eines Fachbereichs schon kein Generalist mehr sein kann, sondern sich spezialisieren muss. Innerhalb der Biologie muss der geniale Genetiker von vergleichender Verhaltensforschung nicht zwingend etwas wissen und umgekehrt.
Eine Welt, deren Zusammenhänge man zum größten Teil nicht mehr versteht, muss übersetzt werden. Im Falle von Massenregressionen geschieht dies nach einem immer ähnlichen Muster, eben dem der klischeehaften Vereinfachung, in dem komplexe Analysen sogar verdächtig und lauwarm erscheinen, Tenor der regressiven Interpretation ist die Reduktion komplexer Zusammenhänge auf simple Wahrheiten und Botschaften, von denen behauptet wird, sie seien ganz einfach so und nun müsse man sich entscheiden, ob man dafür oder dagegen ist.
Diese simple Strukturierung hilft bei der Orientierung, es gibt auf einmal wieder klare Kategorien von gut und böse, richtig und falsch, alles ist wieder ganz einfach. Die Welt soll wieder eine an sich gute werden, in der man ruhig schlafen kann, mit der Garantie, dass auch nichts Schlimmes passiert, wenn man sich ‚richtig‘ verhält. In Macht-Systemen, die sich auf das Recht des Stärkeren berufen, ist diese Regression der ersten Stufe jedoch nicht ausreichend.
Wo die erste Stufe noch darum kreist eine heile Kinderwelt zu errichten, mit dem primären Motiv des Anführers geliebt zu werden, wird in der nächsten Stufe Paranoia und Aggression beigemengt. Der Wunsch geliebt zu werden verwandelt sich in den Wunsch gefürchtet zu werden. In Gruppen, die sich das Recht des Stärkeren auf die Fahnen geschrieben haben, ist es gut, als jemand zu gelten, mit dem man sich besser nicht anlegt und dieser Ruf muss von Zeit zu Zeit gefestigt werden, damit man nicht als Maulheld dasteht. Es müssen also immer wieder mal Exempel statuiert werden, damit klar ist, wer der uneingeschränkte Herrscher ist und dass er eben noch gerissener, härter und skrupelloser ist, als alle anderen.