Kopfdarstellung mit Gehirn, blau

Das Verhältnis von Gehirn und Geist ist weiter kaum geklärt. © digitalbob8 under cc

Als ich aufwuchs, war alles in der Welt für mich, wie für jedes Kind zauberhaft und neu, ich wusste nichts von der Welt, aber in meinem breiteren gesellschaftlichen Umfeld gab es wenig Ungewissheit. Zwar gab es auch hier noch Rätsel, zu erklärende Reste, aber im Rückblick betrachtet, wurde ich in einem gesellschaftlichen Klima groß, das insgesamt eine zeitgeschichtlich glückliche Insel war, auch wenn das privates Unglück nicht ausschließt.

Was das Große und Ganze anging, fühlte man sich an mehreren Stellen kurz vor dem Durchbruch, dem endgültigen. Nicht zum ersten mal in der Geschichte und gewiss nicht zum letzten Mal, aber wie immer, wenn man sowas denkt, mit dem Gefühl der Gewissheit verbunden, es jetzt zu haben und zu wissen, nämlich wie die Welt im großen, kleinen und mittleren Bereich funktioniert. Der Rest waren im Grunde Details und egal ob das damals stimmte oder nicht, dieser Glaube, verbunden mit der inneren Gewissheit, hatte psychische Effekte. Man machte alles in allem die Dinge richtig, war gut aufgestellt, so konnte und sollte es weiter gehen.

Man hatte ein Bild vom linearen Fortschritt im Kopf, anders gesagt, dass heute so geschmähte „Weiter so“ war das Programm, aber verbunden mit dem Gefühl, dass es gut wäre, wenn es genau so weiter ginge, etwas, was man sich aktuell überhaupt nicht mehr vorstellen kann, wo die Leitlinie für viele eher lautet: „Egal wie, Hauptsache anders“. Gesellschaftlich galt, dass die nächste Generation es erneut besser haben wird, als die davor und dass Forschung und Technik wesentliche Hilfsmittel dabei sind, wissenschaftlich galt, dass die großen Fragen geklärt sind und man, so wie man es jetzt macht, weiter agieren kann.

Wird man mit einer Gewissheit groß, besteht das Problem darin, Ungewissheit wieder zuzulassen, statt diese, was psychologisch normal ist, kleinzureden und die Abweichler als Menschen anzusehen, die sich einfach irren, notorische Querulanten sind oder sich in irgendwelchen spinnerten Ideen verrannt haben. Es ist doch alles klar, warum sich mit Randgruppen und Außenseiter abgeben?

Doch der Motor des Fortschritts kam ins stocken, es gab zunächst nur feine Haarrisse, die sich noch überschminken ließen, irgendwann wurden die Risse breiter und heute stehen wir mitunter vor Fragen, die schon seit hunderten von Jahren die gleichen sind und oft wird als Gewissheit verkauft, was in Wahrheit Ungewissheit ist. Aber der Reihe nach.

Die Wissenschaft von der Materie

Der große philosophische Logiker und Mathematiker Betrand Russell schreibt in seiner „Philosophie des Abendlandes“:

„In seiner ganzen Auffassung von der materiellen Welt ist der Cartesianismus streng deterministisch. Lebende Organismen unterliegen genau wie die tote Materie physikalischen Gesetzen; zur Erklärung des Wachstums der Organismen und der tierischen Bewegungen bedurfte es nicht länger wie in der aristotelischen Philosophie einer Entelechie oder Seele. Descartes selbst ließ nur eine geringfügige Ausnahme zu: die menschliche Seele kann willentlich die Richtung, nicht aber die Quantität der Bewegung der Lebensgeister ändern. Dies aber widersprach dem Geist des Systems, und da sich herausstellte, dass es auch im Widerspruch zu den Gesetzen der Mechanik stand, wurde es fallengelassen. Daraus ergab sich, dass alle Bewegungen der Materie durch physikalische Gesetze bestimmt wurden und dass infolge ihres Parallelismus geistige Vorgänge in gleicher Weise bestimmbar sein müssen. Aus diesem Grunde hatten die Cartesianer Schwierigkeiten wegen der Willensfreiheit. Und so war es für alle, denen Descartes‘ Naturwissenschaft wichtiger erschien als seine Erkenntnistheorie ein leichtes, die Auffassung, dass Tiere Automaten seien, zu erweitern: warum sollte man nicht auch dasselbe vom Menschen behaupten? Warum nicht das ganze System zum konsequenten Materialismus vereinfachen? Im achtzehnten Jahrhundert hat man diesen Schritt dann tatsächlich getan.“[1]

Was Descartes und seine Interpreten hier verursachten, zeigte sich nicht als Haarriss, sondern als ein Abgrund. Denn Descartes‘ zentrale Konsequenz war die Frage, wie denn nun eigentlich, wenn es eine denkende Substanz (res cogitans) und eine ausgedehnte Substanz (res extensa) oder einfach Denken und Materie gibt, die beiden auf einander einwirken. Denn dass sie es tun, stand zu allen Zeiten außer Zweifel, aber wie? Descartes konnte dies nicht überzeugend beantworten, für ihn war die Zirbeldrüse der Ort der Wandlung, aber einen möglichen Ort oder ein Organ anzugeben ist etwas anderes als sagen zu können, wie die Wandlung dort vor sich geht.

Nun sind, seit Descartes diese Spaltung formulierte, gut 400 Jahre vergangen, Zeit genug, sollte man meinen, bei allem Fortschritt, den wir in der Tat erlebten, diese Frage geklärt zu haben. Um das Jahr 1900 setzte der Arzt Sigmund Freud darauf, dass die Neurologie einmal erklären würde, wie die Psyche des Menschen funktioniert, allerdings steckte diese, vor allem ihre technischen Möglichkeiten, noch in den Kinderschuhen. So ersann Freud eine therapeutische Methode, die er als Lückenfüller verstand, bis die Neurologie so weit sein würde, alle Fragen zur Psyche zu klären, diese Methode war die Psychoanalyse.

Für unsere Fragestellung muss man über die Psychoanalyse nicht mehr wissen, als dass sie die Neurologie komplett ignorierte, nicht boshaft oder ideologisch, sondern wohlmeinend, in der Voraussicht, dass die Neurologie die Psychoanalyse dereinst wieder ablösen würde. Auf diesem Weg geschah etwas Sonderbares, denn knapp 70 Jahre später bezeichnete der Intellektuelle, Philosoph und Soziologie Jürgen Habermas Freuds bescheidene Einschätzung als einen Selbstirrtum. Denn die Psychoanalyse sei viel mehr als nur ein Lückenbüßer, nämlich die einzige Wissenschaft, die methodisch die Selbstreflexion in Anspruch nimmt.