Schon die Kutten haben etwas Geheimnisvolles. © liz west under cc

Wenn wir von geheimen Doppelleben hören, dann sind unsere Gedanken schnell bei Spionen und Doppelagenten, eventuell bei Bigamisten oder sonstigen Betrügern.

Welten und Geschichten, die immer wieder faszinieren, vielleicht deshalb, weil man die eigene Durchschnittsexistenz mit der Phantasie peppen kann, dass man auch noch jemand anderes sein könnte, als man zu sein scheint. Da lebt ein anderer das, was irgendwie auch in mir steckt oder strecken könnte. Ich erkenne mich ein Stück weit wieder, könnte im Grunde auch so sein. Gerade in jungen Jahren, in der Phase der Selbstfindung, wenn man das Dagegensein aus Prinzip umwandeln muss, in die Frage wer man denn nun ist und wofür man eigentlich steht. Da man nicht alles machen kann, probiert man vieles und spielt noch mehr in der Phantasie durch.

Ein Doppelleben umweht die Aura des Geheimnisvollen, wie bei Superhelden. Ihr karges Privatleben spielt zumeist keine Rolle und wird nur skizzenhaft angedeutet, doch zumeist sind es eher unscheinbare Normalbürger, bis dann die durch einen Unfall oder sonst wie erworbenen Superkräfte durchkommen, wenn der Stress zunimmt oder Gefahr droht und auf einmal ist man ein völlig anderer. Eben noch am Schreibtisch und nun schon verwickelt in wilde Abenteuer, in denen es oft um nicht weniger als die Rettung der Welt geht. Eine super Projektionsfläche, natürlich ziemlich klischeehaft, aber gerade deshalb kommt es ja so gut an. Ähnlich der Traum junger Frauen, die darauf warteten, dass der eine oder andere Prinz sie erwählt und in eine ganz andere Welt entführt. Zum Teil ein Rollenklischee, zum anderen einer psychoanalytischen Sicht folgend, da das junge Mädchen früh von der Mutter ‚verstoßen‘ wird und sich dem Vater zuwenden muss.

Geheime Doppelleben als Absage an die Normalität

Da wir alle irgendwie ahnen, dass es keine Superhelden gibt, steht man irgendwann vor der Frage nach einem angemessenen Ersatz. Der Traum vom Spion, Agenten, Bigamisten, Betrüger oder Elitesoldaten ist zwar lebensnäher, hat aber entscheidende Nachteile: Erstens, können das ziemlich anstrengende Lebenskonzepte sein und zweitens, muss man, um sie für sich auszuschlachten eben doch durchblicken lassen, wer man ist und genau das darf man nicht, wenn man nicht ziemlich dicke Probleme haben will. Einigen macht das wenig aus, aber unser Hang, dann doch wenigsten später durchschimmern zu lassen, wer man ist, ist groß, denn darin liegt eine große narzisstische Befriedigung. Eine Alternative sind die großen Stars auf den Bühnen des Lebens, aber da ist der Platz ziemlich eng und sie führen in dem Sinne kein Doppelleben, sondern werden offen bewundert. Um diese Menschen soll es auch nicht gehen, sondern um jene, die ein Doppelleben führen, was nicht in dem bekannten Sujet beheimatet ist.

Der Wunsch und die Möglichkeit eine Art Local Hero oder Promi in einer bestimmtem Sparte des Lebens zu werden, ist für viele ein adäquater Ersatztraum, weil die Idee ein von allen erkannter Star zu sein, für manche eher eine Schreckensvorstellung ist. Dennoch ist der Wunsch irgendwie herauszuragen vermutlich ein Stück weit in uns allen und als Gangsta oder Gamer, durch die Teilnahme an einer Castingshow, als Influencer oder Pornostar ist diese Möglichkeit für eine größere Gruppe in greifbare Nähe gerückt. Geeint sind diese Wünsche oft darin, nicht viel für ihre Erfüllung tun zu müssen. Man kann eigentlich so sein, wie man ist, braucht sich kein Bein auszureißen, eine gute Projektionsfläche für die Durchschnittlichkeit.

Einfach so zu sein, wie man ist, kann man heute in Kapital oder Prominenz verwandeln. Ein wahr gewordener Traum, leider, wie so oft, nur halb wahr, weil auch die Stars dieser Szenen ungeheuer diszipliniert und durchorganisiert leben, wie in Das Internet: Eine Gefahr für Psyche und Gesellschaft? ausgeführt.

All das ist auch eine stille Absage an die Normalität. Das eine oder andere Mal bestimmt deshalb, weil die man mit der Normalität und ihren Anforderungen nicht Schritt halten kann. Unser Alltag ist komplex geworden, nicht nur, wenn man sich ein S-Bahn Ticket von einer Strecke ziehen möchte, die man nicht täglich fährt. Manche sind von der Komplexität überfordert, eine Möglichkeit ist, sich in Verschwörungstheorien zu flüchten, die dem Leben über Nacht mehr Pep geben. Aber Überforderung erklärt längst nicht jede Biographie.

Wenn man mit der konventionellen Welt nichts anfangen kann

Es ist fraglich, ob es Menschen, die ein geheimes Doppelleben führen, stets um Geheimniskrämerei oder den Wunsch nach Berühmtheit geht. Wir kennen immer wieder Biographien von Menschen, die sich im Alltag gut bewährt haben. So heißt es in den glänzenden Kafka-Biographien vom Reiner Stach, am Anfang:

„In seinem Roman DAS WAHRE LEBEN DES SEBASTIAN KNIGHT – der von der Unmöglichkeit der adäquaten Biographie handelt – hat Nabokov dieses Leiden aus einer gewissermaßen tieferen Schlaflosigkeit aus der Innenperspektive formuliert: „Ein hungriger Mann, der seinen Braten verzehrt, interessiert sich für sein Essen und nicht für die Erinnerung an einen sieben Jahre zurückliegenden Traum von Engeln mit Zylinderhüten; bei mir jedoch standen alle Klappen und Verschlüsse und Türen des Geistes den ganzen Tag über gleichzeitig offen. Bei den meisten Menschen hat das Bewusstsein seine Sonntage – meinem war kein halber Feiertag vergönnt. Dieser ständige Wachzustand war nicht nur an sich, sondern auch in seinen unmittelbaren Folgen äußerst quälend. Jede Bagatelle nahm sich so kompliziert aus, rief eine solche Fülle von Assoziationen hervor, und diese Assoziationen waren so heikel und dunkel, so ungeeignet für jede praktische Verwertung, dass ich mich entweder um die fragliche Sache ganz drückte oder aber sie aus lauter Nervosität verdarb.“ Das alles trifft Wort für Wort auf Kafka zu. Erstaunlich, wie wenig er trotz allem „verdarb“: Wo man ihn hinstellte bewährte er sich, als Schüler, Student, Beamter. Doch nichts ging ihm ‚von der Hand‘, jede Entscheidung, auch die geringfügigste, war jenem Strom der Assoziationen erst zu entreißen. „Alles gibt mir gleich zu denken“, schrieb er einmal. Alles gab ihm gleich zu schreiben. Das Leben aber musste er erst übersetzen.

Diese eigentümliche Dialektik von An- und Abwesenheit reicht bis in Innerste des literarischen Werks. Die zahllosen Tagesreste aus Alltag und privatesten Sorgen, die Kafka dort abgelagert hat, sind unübersehbar. Die beispielhafte Allgemeingültigkeit seines Werks aber ebenfalls. Dieser Widerspruch, dieses Rätsel ist vielleicht der entscheidende Prüfstein jedes biographischen Unterfangens. Wenn der sozial unscheinbarste Mensch dazu fähig ist, in der Geschichte der Weltkultur eine Schockwelle auszulösen, deren Echos bis heute nachhallen, dann scheint es unvermeidlich Leben und Werk als inkompatible Welten zu betrachten, die ihren je eigenen Gesetzen folgen. „Das Leben des Autors ist nicht das Leben des Menschen, der er ist“, heißt es apodiktisch in Valérys Randnotizen zu den ‚Leonardo‘-Essays. Und Kafka selbst grub noch eine Schicht tiefer: „Der Standpunkt der Kunst und des Lebens ist auch im Künstler selbst ein verschiedener.“ Das haben wir zu respektieren. Doch der Biograph kann hier nicht stehen bleiben. Er hat zu erklären, wie aus einem Bewusstsein, dem alles zu denken gibt, ein Bewusstsein werden konnte, das allen zu denken gab. Das ist die Aufgabe.“[1]

Kafka war also so einer, der sich im Alltag bewährte und mit den konventionellen Entwürfen des Lebens dennoch nichts anzufangen wusste, sie machten ihn nicht satt. Sein Leben fand vor allem Nachts statt, wenn er allein am Schreibtisch saß und schrieb, etwas, für das er riesige Opfer brachte. Der chronische Schlafmangel, oft mit rasenden Kopfschmerzen verbunden, waren nur Teile davon. Kafka war ein stets bescheiden und höflich auftretender Mensch, jemand, der auch tagsüber gut funktionierte, aber das war für ihn nur die unwesentlichere Seite des Lebens.

Dass er dereinst diese Ruhm erringen würde, war in seinem Leben nicht vorgesehen, zu Lebenzeiten konnte er es nur geringfügig ausschlachten und wenn man Kafka durch Stachs Augen kennen lernt, ahnt man, dass es ihm auch eher unangenehm gewesen wäre.

Lehnstuhlgelehrte

Vom Lehnstuhlgelehrten ist zumeist etwas despektierlich die Rede. Man meint, der Forscher, der vom Sessel aus die Welt erklären wolle, sei im Grunde ein Narr, der sich irgendwas zurecht phantasiert, während der gute Forscher an den Ort des Geschehens geht und empirisch forscht. Er experimentiert, sammelt Daten, steht im Labor, führt Interviews, neuerdings füttert er Großrechner damit, obendrein soll er auch noch Teamworker sein. Vorbei die Zeit der einzelnen Welterklärer, Wissenschaft ist heute ein Gruppenprojekt, so hört man.

In der Tat, was Charles Darwin oder Alexander von Humbolt, stellvertretend für viele weitere auch körperlich auf sich genommen haben, können wir uns heute kaum noch vorstellen, aber es ist im höchsten Maße zu bewundern, dass und wie man überhaupt die Aspekte der Welt vom Lehnstuhl oder Küchentisch aus einfangen kann. Kein Geringerer als Albert Einstein war einer jener, die mit ihrem Genius nicht durch empirische Forschung, sondern eben qua Überlegung die Welt veränderten. Einstein ist obendrein aber auch jemand, der mit der Welt sicher etwas anzufangen wusste, aber auf seine Art. Viele Anekdoten seines Verhaltens sind überliefert, die man als eine Mischung aus Fokussierung auf das Wesentliche beschreiben kann, aber garniert mit etlichen Spritzern Schrulligkeit. Das kann man sich erlauben, wenn man Weltstar ist, als Normalo wirkt man einfach seltsam. Ob er keine Socken trug, seine Frau nicht in sein Arbeitszimmer ließ oder scheinbar nicht passend gekleidet war, Einstein war anders, glücklicherweise auch in seinem Denken als Physiker im Lehnstuhl, wo er in Bereiche gelangte, die wir oft heute noch nicht verstehen können. Einstein verfügte über Humor, das ist vielen schon verdächtig und war auch auf anderen Feldern, außerhalb der Physik, oftmals weitblickender, aber dabei unverkrampfter und unkonventioneller, als viele andere. Nicht jedes unkonventionelle Verhalten ist genial, aber jedes Genie ist zu einem gewissen Maße auch unkonventionell.

Mit Stephen Hawking verweigerte sich ebenfalls ein berühmter theoretischer Physiker, dem damaligen Drehbuch. Im Jahr 1963, im Alter von 21 Jahren, diagnostizierte man bei ihm die Nervenerkrankung ALS, die binnen weniger Jahre zum Tod führen sollte. Auch wenn er vermutlich an einer Form litt, die milder verlief, so wusste er das bei der Diagnose noch nicht. Hawking ließ sich auf dem Weg zu einem der berühmtesten Physiker der Gegenwart dennoch nicht aufhalten und starb erst 2018 und forschte vor allem über die Phänomene der Gravitation, schwarze Löcher, gekrümmte Räume und Singularität.

Das Leben dieser Wissenschaftler war in dem Sinne nicht geheim, sie erlaubten sich nur anders zu sein und standen geradezu als Weltstars in der Öffentlichkeit, jedoch gibt es auch Forscher, bei den man wirklich von einem geheimen Doppelleben sprechen kann.

Guido Reitz – Uhrmacher und Linguist

Wenn Sie mit dem Namen Guido Reitz nichts verbinden, so hat das zwei Gründe. Er wirkte tatsächlich im Verborgenen und als Linguist bringt man es ohnehin eher selten zu Weltruhm, sieht man vom Umberto Eco und Noam Chomsky mal ab. Guido Reitz ist der Bruder des Autors und Regisseurs Edgar Reitz, dessen Filmreihe Heimat berühmt wurde.

Die beiden Söhne stammten aus der kleinen, katholischen Gemeinde Morbach, im Hunsrück, weit und hügelig war das Land. Der Vater war Uhrmacher im eigenen Geschäft. Wie es manchmal so ist, brach der eine Sohn, Edgar, aus dem in diesen Zeiten und Regionen üblichen Lebensweg aus, während der andere, Guido, nach einem Jurastudium, der Tradition folgend selbst Uhrmacher wurde und das elterliche Geschäft übernahm, wo er seiner Arbeit nachging, nicht weiter auffiel und 2008 verstarb.

Was auch nicht auffiel, war seine andere Seite, eine geniale Neigung zu Sprachen. Weder die Morbacher, noch die eigene Familie wusste etwas von Guido Reitz‘ intensiver Beschäftigung mit der Linguistik, aber in seinem Nachlass finden sich über 2500 Bücher linguistischer Fachliteratur, die er nicht nur gelesen, sondern auch verstanden haben musste. Reitz war auf dem Gebiet der Linguistik ein international anerkannter Fachmann, der Doktoranten betreute, neues über die Hunsrücker Dialekt heraus fand und selbst 50 Sprachen gesprochen und sich manche selbst beigebracht haben muss. Seine eigenen Forschungen mochte der menschenscheue Guido Reitz jedoch nicht veröffentlichen, er gilt den Experten des Faches dennoch als ungeheuer klug und belesen. Briefe an Fachkollegen hat er geschrieben, aber nie abgeschickt.

Wenn Edgar Reitz seinen in sich gekehrten Bruder, mit autistischen Zügen, besuchte, so saß dieser hochbegabte Sprachforscher oft Stunden da, ohne ein einziges Wort zu reden. Erst nach seinem Tode wurde bekannt, dass Guido Reitz jemand war, der tatsächlich eine Art geheimes Doppelleben führte und ebenfalls als jemand gelten darf, der mit einfachsten Mitteln, sozusagen als Lehnstuhlgelehrter forschte.[2]

Kennen Sie Eberhard Trumler?

Wildhunde beim Sonnenbad auf der Trumler Station. © PartnerHund.com under cc

Man könnte ihn kennen, besonders, wenn man einen Hund hat. „Er gilt als der Nestor der Kynologie (Hundekunde) im deutschsprachigen Raum.“[3] So heißt es bei Wikipedia. „So kam der Mensch auf den Hund“, heißt ein Buchtitel des vielleicht berühmtesten Verhaltensforschers Konrad Lorenz. Der aus Wien stammende Eberhard Trumler war ein Schüler von Lorenz, in irgendeinem Buch schrieb Lorenz, ebenfalls ein Wiener, dass Trumler über Hunde viel besser Bescheid wisse, als er selbst.

Trumler gründete die ‚Gesellschaft für Haustierforschung (GfH) e.V.‘ und die ‚Haustierbiologische Station Wolfswinkel‘. Sein Interesse galt den Tieren und der Forschung, obwohl einer der renommiertesten unter ihnen hat Trumler selbst nicht mal promoviert. Es interessierte ihn wohl nicht so sehr, wie die Forschung und die Natur selbst. Neben Hunden waren Pferde sein frühes Thema, aber auch vor Terrarien sah man Eberhard Trumler Stunden regungslos, in seine Beobachtung vertieft, sitzen, nicht merkend oder ignorierend, dass die Heizung im Raum längst aus war.

Sein Wissen galt dabei als immens, auch seine Bereitschaft Opfer für die Forschung und die Hunde zu bringen war groß. Einige Monate nach Eberhard Trumlers Tod, hatte ich das unverhoffte Glück auf der ‚Haustierbiologischen Station Wolfswinkel‘ ein Praktikum über mehrere Monate zu machen. Damals lebten dort etwa 130 Wildhunde verschiedener Rassen, in diversen Außengehegen zur Forschungsstation, die von seiner Frau Erika, die selbst Anfang des Jahres 2020 verstarb, weiter geleitet wurde. Neben Erika Trumler und einem Doktranten lernte ich zwei Söhne kennen, sowie das kleine Rudel Hunde, die im Haus lebten und den Esel, die alle fester Teil der Station waren. Im Arbeitszimmer erwartete mich eine ganze Schrankwand voller Hundebücher, da Hunde damals meine große Leidenschaft waren, dachte ich, ich sei im Paradies auf Erden angekommen, umso mehr, wenn mehrmals am Tag alle Wildhunde zum Konzert anstimmten, eine Mischung aus wolfsähnlichem Heulen, durchsetzt mit einigen Bellversuchen.

Der Alltag des Forschers ist jedoch arbeitsreich und anstrengend, man muss Leidenschaft dabei sein, um ein solches Leben zu führen, die Trumlers waren es beide. Auf der anderen Seite ist ein solches Leben nicht nur etwas für die großen Geister der Szene, es bietet gleichzeitig auch die Möglichkeit zu einem eigenen Doppelleben. Die konventionellen Lebensentwürfe folgen einem gewissen Fahrplan, im Bezug auf Ausbildung, Beziehungen, Karriere und dem wie man leben sollte.

Viele Menschen, die mit Tieren zusammen leben haben mit der Zeit ihre eigenen Regeln etabliert. Etwa drei Monate nach Eberhard Trumlers Tod rief ich bei der Forschungsstation an und hatte ErikaTrumler direkt am Telefon. Ich stellte mich kurz vor und sagte, dass ich gerne ein Praktikum dort machen würde. Ob ich denn die Gehege sauber machen wollte, fragte sie. Nein, ich wollte forschen. Ob ich denn Biologie studiert hätte. Ich hatte eben erst mein Abi, sagte aber in leidenschaftlicher Ignoranz, dass ich keine Lust hätte Biologie zu studieren, ich würde mich für Hunde interessieren und wollte auch nur Hunde beobachten. Die Skepsis an der anderen Seite der Leitung war sicher da, aber immerhin sollte ich vorbeikommen und mit einem Doktoranten sprechen. Dazwischen lagen etliche Kilometer, aber ich wollte und so fuhr ich zum Wolfswinkel.

Der Doktorant war am Tag meines Erscheinens gar nicht da, also empfing mich Erika Trumler, sie bat mich ins Haus, ich sollte warten. Ich war hingerissen von den Hunden, die mich empfingen und ich vermute stark, dass es nicht das war, was ich erzählte, was den Ausschlag dafür gab, dass ich schließlich bleiben durfte, sondern, dass es der große belgische Schäferhund war, der sich neben mich auf das Sofa setzte, ein Anblick der Erika Trumler zum staunen brachte, ab da durfte ich mitspielen. Eine mein Leben prägende Erfahrung.

Menschen die intensiv mit Tieren zu tun haben, vertrauen ihren Tieren, sie wissen in aller Regel, warum. Gleichzeitig ist diese Welt so eigen und fordert so viel Aufmerksamkeit, dass die konventionelle Welt zwangsläufig in den Hintergrund gedrängt wird. Hier gelten eigene Regeln und Zeitabläufe, ein wenig so, wie Thomas Mann es für den Zauberberg und die ebenfalls eigene Welt der Kranken beschreibt. Das liegt auch daran, dass es mit Tieren keine Ferien und Feiertage gibt. Sie müssen versorgt werden, brauchen Futter, Wasser, die Gehege müssen täglich gereinigt werden, das gehörte dazu, bevor man mit der eigentlichen Arbeit anfangen konnte. Einerseits ist es hart, andererseits auch geeignet, um so ein Leben zu romantisieren, in jedem Fall weiß man, wofür man lebt und was man tut. Die Trumlers haben ihr Leben der Verhaltensforschung verschrieben. So zu leben ist wohl immer zu gleichen Teilen sinnstiftend und entbehrungsreich, hier ähnlich Kafka, der sich für seine Berufung ebenfalls aufopferte. Warum tut man so etwas? Die Antworten sind vielfältig.

Die kleinen Nischen und Paralleluniversen

Wer eine starke Neigung in irgend eine Richtung spürt, der ist davon vermutlich so mitgerissen, dass er oder sie kaum anders kann. Es ist irgendwie auch der Ruf des Schicksals, dem man Folge leisten muss. Ihn verspüren Mystiker, Künstler, die Berufenen unter den Wissenschaftlern und jenen, die sich für anderen Menschen einsetzen, für ihre Freiheit, Gesundheit und Rechte. Auch Exzentriker fühlen sich zu Lebensentwürfen hingezogen, die deutlich anders sind, oft wissen sie selbst nicht, warum es so ist, spüren aber sehr genau, dass es so ist.

Eine nächste Gruppe bilden jene, die pathologisch abweichen, die mit dem Leben aufgrund psychischer oder körperlicher Gebrechen oder sozialer Ausgrenzung nicht mithalten können oder es nicht dürfen. Auch sie sind gezwungen, sich andere Formen des Lebens zu suchen und sie zu finden. Aber nicht immer ist es so eindeutig, denn nicht jeder, der auf die derzeitige Normalität keine Lust hat, ist jemand, der nicht mit ihr mithalten kann. Manche können, wollen aber nicht. Der russische Mathematiker Grigori Jakowlewitsch Perelman ist jemand, der einfach nicht will. Er lebte lange Zeit alleine, in der Datscha eines Freundes, heute ebenso zurückgezogen, bei der Mutter in Leningrad. Kurz nach der Formulierung von sieben Milleniums-Problemen der Mathematik wurde eines von ihnen gelöst, als bisher einziges, von Perelman. Doch der Rummel um seiner Person widert ihn an, er gilt als schwieriger Mensch, die Veröffentlichung seiner Arbeit interessierte ihn nicht, das Preisgeld von einer Million auch nicht. Es hat es nie abgeholt. Perelman will rechnen, sonst nichts.[4][5][6]

Ludwig Wittgenstein, Philosoph und Logiker, litt unter seiner Homosexualität, Alan Turing, ebenfalls, ein genialer Mathematiker, Logiker und Informatiker wurde deswegen zwangstherapiert, es endete im Suizid des Genies. Auch der geniale Neuropsychologe Oliver Sacks musste seine Homosexualität noch verstecken. Frauen wurde ihre genialen Leistungen, vor allem in der Kunst nicht zugetraut, so dass viele von ihnen unter Männernamen veröffentlichen mussten. Viele durften nicht mithalten, auch wenn sie überragend waren. Sie alle und andere waren zu einem geheimen Doppelleben der tragischen Art geradezu gezwungen.

Manchmal führt das zu großem Leid, aber durchaus nicht immer. Man muss nicht genial sein, um anders zu leben. Manche entschließen sich auch, es einfach zu tun. Etwa solche, die in Ökokommunen, Künstlerkolonien oder auch im Kloster leben. Die Erfahrung ist oft, dass das, was eben noch so wichtig schien, schnell verblasst, wenn man neue Ziele hat, die obendrein von anderen geteilt werden. Doch nicht jeder Ausstieg gelingt, vor allem dann nicht, wenn man meint, typisch menschliche Themen, wie Aggression oder Sexualität (hier oft ihre Hemmung) seien eher auf gesellschaftliche Einflüsterungen zurückzuführen. Bis man merkt, dass die einen auch heimsuchen können, wenn man nackt seine Möhren anbaut.

Aber das ist eher der Ausstieg als ein Doppelleben, Letzteres findet in dem Moment statt, wenn man am Leben der anderen weiterhin teilnimmt, ohne, dass man sich diesem ganz hingibt. Oft war die Privatsphäre das, mit dem dieser Lebensansatz dosiert werden konnte, aber in Zeiten digitaler Medien schrumpft diese Sphäre immer mehr zusammen, alles wird getracked und ausgewertet. Doch sein eigenes Zuhause kann man sich noch immer so gestalten, wie man möchte und weiter seinen Hobbys und Neigungen nachgehen, mit denen man aus der Welt ein Stück weit aussteigen kann. Vielleicht nicht so radikal, wie Guido Reitz, aber eben in der Dosierung, wie man es braucht. Manchen Exzentrikern gelingt es ihr Doppelleben in aller Öffentlichkeit zu gestalten, indem sie schrille Klamotten anziehen oder sich einfach für die Vorkommnisse und Ziele der Welt um sie herum nicht sonderlich interessieren. Sie beneiden die anderen nicht, sie bedauern sie auch nicht, sie machen ihr eigenes Ding und demzufolge ist es ihnen auch egal, was andere über sie denken. Damit leben sie oftmals gut und glücklich.

Thorwald Dethlefsen und der unausgesetzte Rückzug in aller Öffentlichkeit

Wer wird da vom wem heimgesucht, in El Grecos Bild? gemeinfrei, El Greco/zeno.org under cc

Thorwald Dethlefsen war Psychologe und Esoteriker. Heute steht Esoterik als Synonym für alles was wirr ist, wir müssen also gedanklich bei der Betrachtung in eine Zeit zurückspulen, in der der Begriff zunächst relativ unbekannt und demzufolge unbesetzt war und dann sogar den Status einer Auszeichnung bekam. Esoterik meint historisch einen inneren Zirkel, was schon in gewisser Weise ausschließt, dass Esoterik ein Breitensport ist, zu dem sie dann allerdings wurde. Der erste, der das früh bedauerte, war Dethlefsen selbst. In einem seiner Vorträge redet er darüber, dass Esoterik schnell mit Themen wie gesundem Leben und New Age in Verbindung gebracht wir und betonte, dass damit nicht einmal am Rande eine Berührung existiert, ebenso scharf grenzte er sich später von der Parapsychologie ab.

Dethlefsens Gebiet war die westliche Esoterik, damit war vor allem Astrologie, Magie, Alchemie und Kabbalah gemeint. Ungewöhnlich, weil das Thema eher mit dem Osten verbunden wurde, Elemente, die auch bei ihm immer wieder einflossen, aber nicht überbetont wurden. Dethlefsen verflocht, vor allem in der Phase der Zusammenarbeit mit dem damals jungen Arzt Rüdiger Dahlke, das Thema Schicksal mit einer der häufigen Erscheinungsformen, der Krankheit. Insofern ist die damals und heute starke „Gesundlebeszene“ (Dahlke) doch immer mit an Bord. Oft verstanden sie die Botschaft allerdings falsch, in der Weise, dass es letztlich doch darum ging, Krankheiten und das Leben zu vermeiden.

Dabei entlarvten Dethlefsen und Dahlke Krankheit als sozial gut anerkannten Mechanismus, um sich für eine kurze oder längere Zeit von den Anforderungen des Alltags zurückzuziehen. ‚Ich kann nicht‘ heißt daher oft: ‚Ich will nicht‘. Aber es ging nicht darum, sich selbst als Drückeberger zu entlarven, schuldig zu fühlen und nun möglichst schnell und reuig wieder zu funktionieren, sondern im Gegenteil darum, sich ehrlich zu machen und zu dem zu stehen, was man sich durch die Krankheit unbewusst verschafft: Zur Notwendigkeit Ruhe, Veränderung oder sonst etwas zu brauchen, statt stur seine Alltagsroutine durchzuziehen.

Die Idee war, mit dem eigenen Unbewussten zu kommunizieren und zwar kreativ und auf die Art und Weise, wie es ursprünglich auch in der Psychoanalyse gemeint war. Die unbewussten Anteile sind aufzudecken und wollen aktiv gelebt werden, statt nun noch einmal verdrängt. Doch, das war Dethlefsen klar, Esoterik war und blieb ein Weg für immer wenige, ob er den Beifall der Masse wollte, weiß man nicht, sein Rückzug wurde immer offensiver. War das Buch „Krankheit als Weg“ noch als eine Art Adaptation der Reinkarnationstherapie für breite Schichten gedacht, so war das Ödipus-Projekt eine Art Zwischenstufe, in der Dethlefsen gewissermaßen einübte, was mit Kawwana vollendet werden sollte. Nach einer Reihe von Büchern in dichter Folge war von Dethlefsen längere Zeit nichts mehr zu lesen, er stellte lediglich eine Textauswahl zusammen, zu der er kommentierend etwas beitrug. Dethlefsen ist in jenen Jahren längst der Star der Szene, doch er macht sich vergleichsweise rar.

In der großartigen Deutung des Ödipusmythos, die 1990 als Buch und Vortrag vorliegt tritt Dethlefsen von der Individualtherapie einen Schritt zurück, zur Idee einer archetypischen Therapie, angelehnt an die Vorstellungen von Aristoteles bezüglich der Katharsis, wenn „Seele und Symbol“ (Dethlefsen) in Kontakt kommen und an die Tradition der Mysterien von Eleusis, ein Kult in den viele normale Menschen eingeweiht waren. Zurück zum Mythos und Ritus zu finden, das würde auch unserer Gesellschaft gut tun, so Dethlefsen, der er attestiert eine Kinderkultur zu sein, die vornehmlich auf Absicherung ausgelegt ist und in der man sich primär als Opfer sieht. Sein Thema seit 1978, er sollte Recht behalten.

Dethlefsen empfiehlt nach wie vor, der Gesellschaft den Ausstieg aus ihrer bisherigen Lebensform, den sie in voller Fahrt praktiziert und bietet nun, neben dem Angebot der Symptomdeutung und der Reinkarnationstherapie, eine weitere und breitere Form an, in der eine theatermäßige Gestaltung von Mythen eine Rolle spielt. Er wusste, dass unsere Zeit ihre Formen finden muss und bot dann später selbst welche an.

Aus der Idee ein reiner distanzierter Betrachter zu sein, wurde dann im nächsten Schritt, in dem es darum ging, in die Mysterien aktiver und individueller, gleichzeitig aber überindividueller einbezogen zu sein – nicht das Ich sollte erlöst werden, sondern die „obere Seele“ die mit dem Ich oder der unteren Seele direkt und spürbar kaum etwas zu tun hat – Kawwana entstand. Dethlefsen machte nicht weniger als eine Kirche zu gründen. Auf die sich selbst gestellte Frage, ob die Teilnahme an den Ritualen von Kawwana dennoch das eigene Leben und dessen Probleme verändern würde, antwortete Dethlefsen: „Nein“, aber dass er hoffe, dass man die Probleme danach nicht mehr so wichtig nähme.

Den Schritt gingen dann viele nicht mehr mit. Der langjährige Weggefährte Rüdiger Dahlke, der längst einen eigenen Namen hatte, distanzierte sich von Kawwana, Dethlefsen aber machte weiter, kam fünf Jahre nach Ödipus wieder an die Öffentlichkeit. Kawwana, das hieß nun Magie, etwas wofür sich Dethlefsen schon länger interessierte, aber öffentlich selten thematisierte.

Wer in die Esoterik einsteigt, führt in gewisser Weise ein Doppelleben, weil schon der von Dethlefsen und Dahlke vorgestellte Ansatz sich deutlich von den medizinischen Überlegungen seiner Zeit absetzte, aber auch von der gesellschaftlichen Strömung. Kurioserweise wurden die beiden ziemlich populär und prägten nicht unwesentlich sogar die Themen der Zeit. Heute ist schon wieder verdrängt, wie ‚in‘ Esoterik damals war, Dethlefsen war skeptisch, dass es zu viele waren, zugleich war dies natürlich auch ein Geschäft.

Mit Ödipus und dann Kawwana legte er die Latte immer höher, redete in einer einführenden Vortragsreihe vor Tausenden von Menschen und tourte durch mehrere deutschsprachige Städte im In- und Ausland. Der Schritt hinein in die Magie. Eine Weiterentwicklung oder ein Rückschritt? Im Rahmen klassischer Entwicklungspsychologie und historischer Abläufe eher eine Regression, aber es war natürlich furios so etwas um die Jahrtausendwende vorzustellen. Vor der Augen der Gesellschaft gründete Dethlefsen eine Religion, baute einen Tempel mitten in Münschen, vollzog, so stellte er es dar, magische Rituale für die Erlösung der Welt. Irgendwann verkündete er, die Welt sei nun gerettet, der Tempel wurde wieder abgerissen, nicht lange danach starb Thorwald Dethlefsen. Ein geheimes Doppelleben in aller Öffentlichkeit, das sich mit magischen Lehren beschäftigt. Verrückt?

Wir brauchen die andere Seite

Wir haben all das aus unserem Leben heraus gedrängt. Wurden über die Jahrzehnte immer vernünftiger, effektiver und aufgeklärter. So ist die eine Version. Gemeinsame Riten, die uns noch verbinden? Da gibt es nicht mehr viele, vielleicht innerhalb von Familien. Esoterik ist inzwischen als dummes Zeug diskreditiert. Wir sind an Leistung orientiert und wenn wir unsere Leistung nicht bringen, ist uns das peinlich oder wir wechseln die Seiten und erklären gleich alles an dem wir gescheitert sind, zu einem Ausbund an Kälte und Unmenschlichkeit.

In seinem dicken zweibändigen Buch „Auch eine Geschichte der Philosophie“ widmet sich der Philosoph Jürgen Habermas auf 45 Seiten in einem eigenen Kapitel „Mythos und Ritus“. Von der Frontstellung der Rationalisten gegen all das Irrationale ist nicht mehr viel zu merken. Jeder liest Bücher auf seine Weise, abhängig von der Vorerfahrung dessen, was man gelesen hat, aber ich war, nach all den Jahren die bei mir zwischen einer sehr intensiven Auseinandersetzung mit der Arbeit von Thorwald Dethlfesen und Rüdiger Dahlke liegen, nun eigenartig berührt, vieles von dem bei Habermas wieder zu finden, der von einem schwärmerischen Esoteriker maximal weit entfernt ist.

Habermas zitiert hier W.R. Smith, wenn er schreibt:

„[I]n fast allen Fällen leitete sich der Mythos aus dem Ritus ab und nicht umgekehrt, der Ritus aus dem Mythos; …“[7] Eine umstrittene Deutung, die nicht restlos aufzuklären ist, Habermas tendiert zu der Auffassung, „dass Mythen die erste Gestalt der Versprachlichung rituell verkapselter sakraler Gehalte darstellen.“[8]

Der Ritus, das gemeinsame Tun ist das, was uns verbindet, aber es ist das Tun. Später heißt es:

„Wir müssen beides zusammen sehen: „Framing“, also die Kraft des Mythos zur sprachlichen Welterschließung […] geht Hand in Hand mit “re-enacting“, mit der periodisch wiederholten „Aufführung“ des Mythos. Diese verjüngende und verwandelnde Rückkehr zu einem ursprünglichen Ereignis macht für Mircea Eliade überhaupt des Kern des Sakralen aus: „[D]a die rituelle Rezitation des kosmogonischen Mythos die Reaktualisierung dieses primordialen Ereignisses bedeutet, so folgt daraus, dass der, für den man rezitiert auf magische Weise in ‚jene Zeit‘ projiziert wird, an den ‚Beginn der Welt‘. Es handelt sich also für ihn um eine Rückkehr zur Zeit des Ursprungs […].“[9]

Habermas gelingt es das Denken dieser Zeiten nachzuvollziehen, er revidiert auch die geläufige Abfolge von archaisch, magisch, mythisch, rational wenn er schreibt:

„Aber das magische Denken setzt offensichtlich eine mythisch ausgestaltete und narrativ verfügbare Welt höherer Wesen schon voraus. Deshalb bietet die Magie auch nicht den richtigen Schlüssel zum rituellen Kern des Sakralen.“[10]

Warum aber ist das Sakrale überhaupt wichtig für uns? Sind das nicht einfach primitive Vorstellungen unserer Vorfahren, die wir längst überwunden haben? Nicht unbedingt:

„In anderer Hinsicht besteht freilich zwischen dem sakralen Komplex und den daraus hervorgegangenen modernen Künsten eine Verwandtschaft, die beide Kommunikationsformen wiederum von der kommunikativen Alltagspraxis unterscheidet. Ich meine das Moment des „Außeralltäglichen“.“[11]

Es verbindet Sakrales und Kunst, dass sie beide aus Funktionszusammenhängen „herausgehoben“ oder „ausgeklinkt“ sind. Was Habermas hier philosophisch und historisch rekonstruiert, hat Kernberg anhand der Übergangsobjekte für die individuelle Entwicklung erörtert. Dort findet er den gemeinsamen Entstehungsort von Moral, Kunst, Religion, Wissenschaft und Liebe. Man kann und muss hier weiter differenzieren, aber das, was aus dem Alltag ausgeklinkt ist, ist zugleich psychologisch miteinander verzahnt.

Das was hier entsteht ist kein durch nachträgliche Erklärung zu ergänzender Fehler, sondern, es ist der Sinn der Übung, dass wir andere als alltägliche Erfahrungswelten betreten. Durch die Kunst und das Sakrale gelangen wir in diese Räume, in denen es nicht um eine praktische Funktion, sondern um Sinn geht.

Was wir aber brauchen, ist das Element des Außeralltäglichen. Momente und Welten der Auszeit. Wenn wir dies verdrängen oder verleugnen, kommt es nur in Zerrformen zurück, daher brauchen wir diese Räume, in denen wir nicht einfach nur funktionieren müssen, auch für unsere psychische Gesundheit. In welcher Dosis, das ist individuell verschieden. Unsere Zeit hat viele dieser Räume gestrichen, zugunsten eines immer größerer werdenden Funktionalismus, der in mehrfacher Hinsicht eine Zerrform ist. Er ist ein Ritus ohne Mythos, eine leere Art Zwangshandlung, die uns gerade nicht mit Sinn versorgt. Ein rein auf Funktionalismus getrimmter und vom Sinn abgespaltener Alltag erzwingt aber geradezu seine Ergänzung, die wir dann in regressiven Formen finden. In trivialer Unterhaltung, in zahllosen Affären und in der heute gebräuchlichen Form magischer oder mythischer Denkformen, dem Glauben an Verschwörungstheorien auf der Basis eines paranoiden Misstrauens oder narzisstischer Besserwisserei.

Eine ebenso unbewusste, wie unerlöste Form geheime Doppelleben zu inszenieren. Wünschen wir uns allen, dass wir bald bessere Räume finden, spannende Kandidaten gibt es genug.

Quellen:

  • [1]Reiner Stach, Kafka – Die Jahre der Entscheidung, S. Fischer Verlag, 2002, S. XXIf.
  • [2] Christoph Strouvelle, Sprachgenie und unbekannter Bruder, volksfreund, 6. Oktober 2013 um 12:47 Uhr, online:
    https://www.volksfreund.de/region/mosel-wittlich-hunsrueck/sprachgenie-und-unbekannter-bruder_aid-5641601
  • [3] https://de.wikipedia.org/wiki/Eberhard_Trumler
  • [4] https://de.wikipedia.org/wiki/Grigori_Jakowlewitsch_Perelman
  • [5] Die wahnhafte Welt des russischen Rechen-Genies, Welt Online, 25.06.2013, online: https://www.welt.de/geschichte/article117427879/Die-wahnhafte-Welt-des-russischen-Rechen-Genies.html
  • [6] Genialer Einsiedler, NZZ online, 23.07.2006, 02.06 Uhr, online: https://www.nzz.ch/articleEB7Y1-1.48697
  • [7] Jürgen Habermas, Auch eine Geschichte der Philosophie: Band 1: Die okzidentale Konstellation von Glauben und Wissen, Suhrkamp 2019, S. 206
  • [8] Ebd., S. 207
  • [9] Ebd., S. 212
  • [10] Ebd., S. 214
  • [11] Ebd., S. 224