Die psychiatrische und psychologische Diagnostik ist im Begriff sich zu verändern. Das ist durchaus gut.
Gut ist es deshalb, weil sich am Ende des Tages zunehmend Konturen eines neuen Weltbildes abzeichnen, das mehr und mehr konsensfähig wird. Nicht unbedingt auf der Basis von Forschung und daraus resultierenden Erkenntniszuwachs im klassischen Sinn, sondern eher dadurch, dass man sich auf dem eingeschlagenen Weg eine blutige Nase geholt hat.
Das heißt, dass man nun über mehr als vier Jahrzehnte versucht den psychischen Krankheitsbegriff anhand überwiegend biologischer Faktoren festzuzurren. Ohne größeren Erfolg. Man findet hier und da Korrelationen, aber eine Grenze zwischen Normalität und Pathologie auszumachen ist schon schwieriger oder besser gesagt, so gut wie nirgendwo überzeugend gelungen. Trotz der Kombination aller möglichen Hilfsmittel, die uns in diesen Jahrzehnten erstmalig zur Verfügung stehen. Genetik, Hirnscans, Algorithmen und KI. Vielleicht ist ein Abgleich der Daten einfach noch nicht gelungen, wahrscheinlich ist der ganze Ansatz aber auch unzureichend.
Diagnosen können Stigma und Erlösung sein
Manche Menschen fühlen sich durch eine Diagnose verunsichert und abgestempelt, andere geradezu erlöst, weil ihre lange Odyssee endlich ein Ende und ihr Leiden einen Namen hat. So unterschiedlich sind die Empfindungen und genau das spielt auch bei der Diagnose selbst eine große Rolle, oder besser, es wird in Zukunft eine größere Rolle spielen.
Im ICD 11 werden viele psychologische Diagnostiken einer grundlegenden Revision unterzogen. Ob das sinnvoll ist oder nicht, wird die Zeit zeigen, die Theorie dahinter zeigt zwei Aspekte: zum einen, eine Stärkung der dimensionalen Kriterien und zum anderen, eine Verschlankung des Systems auf wesentliche Faktoren.
Denn was nun eigentlich gesund oder krank, normal oder abweichend ist, ist bis heute nicht klar. Genies sind selten, also von der Normalität abweichend, aber würden sie nicht unbedingt als krank ansehen. Wer länger als 14 Tage über den Tod eines Angehörigen trauert soll als depressiv gelten. Was ist hier verrückter, der Betroffene oder der, der so eine Diagnose erstellt?
Aber selbst die Klassiker von einst sind heute umstritten, wie das Stimmen hören. In Nigeria hören 30% der Menschen Stimmen, insbesondere von Verstorbenen und man muss sich eher erklären, wenn man keine hört. Bei uns hören nur 3-5% der Menschen Stimmen und es sind nicht überwiegend die von Verstorbenen.[1]
Bei Freud liest man, Religion sei eine Massenpsychose. Darüber denkt man heute vollkommen anders. Wenn doch alles so im Wandel ist, kann man dann nicht endgültig auf Kriterien der Krankheit verzichten? Man kann geteilter Meinung sein. Menschen tendieren dazu abweichendes Verhalten zu sanktionieren.
Bei selbst- und fremdschädigendem Verhalten kann man Sanktionen mitunter verstehen, aber einige wollen weiter gehen und neben den Kategorisierungen auch auf Strafe verzichten. Ihre Idee ist, dass die Kategorien mehr oder minder willkürlich sind, aber Stress auslösen und stigmatisieren, aber wie oben dargestellt, wird der letzte Punkt von vielen Betroffenen bereits anders gesehen, sie sind froh endlich zu wissen, was mit ihnen los ist.
Warum überhaupt bestimmte Verhaltensweisen ausgrenzen?
Das könnte man zurecht fragen und es wird auch getan. Einige gehen dabei sehr weit und wollen nicht nur Diagnosen, sondern auch Sanktionierungen und Strafen abschaffen. Die Frage ist nur, wie weit man gehen will. Alle Seiten, auch jene, die zunächst offen wirken, haben ihre Tabuzonen. Die einen wollen keinen Gottesstaat oder kein neues Königreich, die anderen sagen, dass sexueller Kindesmissbrauch bestraft werden muss, neuerdings stellen wir uns Fragen nach territorialem Imperialismus, dessen Element, die Grenzen anderer nicht zu respektieren aber auch auf die private Ebene runtergebrochen werden kann.
Ein Partner beendet eine Beziehung und der andere akzeptiert die Trennung nicht und beginnt mit Stalking. Was Grenzübertretungen sind, da ist man unterschiedlich empfindlich, aber bei Psychoterror und Gewalt sehen die meisten das Ende der Toleranz erreicht. Manche bleiben dabei, dass eine wahlweise kapitalistische, patriarchale oder rassistische Gesellschaft erst die Symptome produziert, die den Individuen dann in die Schuhe geschoben werden, aber die Breite dessen, womit Menschen Probleme haben oder was sie spielend tolerieren können ist unendlich. Die Gemeinsamkeit ist und bleibt dennoch, dass alle irgendwas verbieten oder sanktionieren wollen.
Für die einen ist Konkurrenz das Grundproblem der Gesellschaft, für andere ein Motor, der sie antreibt. Für manche ist Schizophrenie ein angemessenes Verhalten auf eine verrückte Welt. Nur kann man eben schlecht bei einem individuellen Problem die Welt ändern. Wenn Menschen Angst vor Brücken haben, soll man dann alle Brücken abbauen? Oder vor Spinnen?
Die prinzipiellen Fragen sind, wie weit man von einem Menschen verlangen darf, sich anzupassen und wo die Grenzen liegen. Dabei gibt es ja nicht nur das eine System, die Fragen werden in einer intimen Paarbeziehung, einer Freundschaft, der Familie, dem Beruf, einer Gemeinschaft, in die man sich einbringt und einer Gesellschaft immer ähnlich gestellt und anders beantwortet werden.
Sind Beziehungen Besitzdenken? Gehört jeder Mensch nur sich selbst oder ist er immer auch anderen verpflichtet? Das kann man ja konkret an den Fragen nach der Spinnen- und Brückenphobie oder Stalking und Mobbing durchspielen. Genau das müssen wir tun, wenn wir das Konzept von Krankheit und Gesundheit, Normalität und Abweichungen breiter betrachten wollen, denn andere Individuen und Gesellschaften haben durchaus unterschiedliche Antworten auf diese Fragen.
Die Idee, dass sich alles von selbst regelt, wenn man die Menschen in Ruhe lässt und nicht überreglementiert klingt irgendwie anarchistisch bis linksliberal, macht aber die Rechnung ohne den Wirt. Zum einen brauchen wir Kategorien für die Orientierung und um ehrlich zu sein, die schnellen Kategorisierungen sind nicht immer die fairsten. Es ist gut, sie zu reflektieren und hier und da tiefer zu denken.
Das Verhältnis vom Wohlbefinden des Einzelnen zur Funktionalität der Gesellschaft
Noch etwas ist beim Rekurs auf die grundgute Natürlichkeit zu bedenken. Die Forschung zeigt uns drei Befunde, die wir zur Kenntnis nehmen müssen. Einerseits steckt in uns das Potential zur Aggression. In seinem Buch zur Naturgeschichte der menschlichen Moralentwicklung konnte Michael Tomasello zeigen, dass uns Menschen aber neben der Aggressionsbereitschaft die einzigartige Fähigkeit und angeborene Bereitschaft zu komplexer Kooperation innewohnt und zwar in einem weitaus größere Umfang als bei anderen Primaten.
Dennoch hat der Mensch eine weitere Eigenschaft, er kooperiert nur mit Menschen, die ihrerseits kooperieren. Trittbrettfahrer, wie sie bei Tomasello heißen – in dem Kontext: Menschen, die kooperativ sein könnten, es aber nicht sind – werden sanktioniert. Dass wir auf der anderen Seite aber auch Menschen helfen, die kooperiert haben, es aber momentan nicht mehr können, weil sie verletzt oder alt sind, ist typisch für den Menschen.
Das Verhältnis vom Wohlbefinden des Einzelnen zur Funktionalität der Gesellschaft ist also schon vom Beginn des Menschseins an eingepreist, dass sich alles ‚einfach so‘ regelt, könnte also durchaus stimmen, aber es würde dem Einzelnen dennoch eine gewisse Kooperations-, also Leistungsbereitschaft und Anpassung abverlangen. Mit anderen Worten, die Idee, das alles sei eine Forderung aus dem kalten Kielwasser des Kapitalismus ist so nicht aufrecht zu erhalten.
Doch zugleich stellt sich damit die Frage, wie und wo ein Mensch der Gesellschaft in besonderer Weise dienen kann und eine naheliegende Antwort ist, dass man dort und in dem besonders gut ist, wo man sich wohl, angekommen und angenommen fühlt. Sowohl im Bezug auf die Tätigkeit, als auch auf die Gemeinschaft. Manche sind und arbeiten gerne allein, andere im Team, manche wollen führen, andere sich lieber leiten lassen, die einen wollen kreativ sein, andere lieber ordnen und so geht es weiter, durch die Neigungen und Vorlieben. Damit verhält es sich mit den prinzipiellen Ansätzen, wie dem Verhältnis vom Wohlbefinden des Einzelnen zur Funktionalität der Gesellschaft aber so, dass stets der Einzelne zu befragen ist und der sollte sich hinreichend gut kennen.