Wenn wir von geheimen Doppelleben hören, dann sind unsere Gedanken schnell bei Spionen und Doppelagenten, eventuell bei Bigamisten oder sonstigen Betrügern.
Welten und Geschichten, die immer wieder faszinieren, vielleicht deshalb, weil man die eigene Durchschnittsexistenz mit der Phantasie peppen kann, dass man auch noch jemand anderes sein könnte, als man zu sein scheint. Da lebt ein anderer das, was irgendwie auch in mir steckt oder strecken könnte. Ich erkenne mich ein Stück weit wieder, könnte im Grunde auch so sein. Gerade in jungen Jahren, in der Phase der Selbstfindung, wenn man das Dagegensein aus Prinzip umwandeln muss, in die Frage wer man denn nun ist und wofür man eigentlich steht. Da man nicht alles machen kann, probiert man vieles und spielt noch mehr in der Phantasie durch.
Ein Doppelleben umweht die Aura des Geheimnisvollen, wie bei Superhelden. Ihr karges Privatleben spielt zumeist keine Rolle und wird nur skizzenhaft angedeutet, doch zumeist sind es eher unscheinbare Normalbürger, bis dann die durch einen Unfall oder sonst wie erworbenen Superkräfte durchkommen, wenn der Stress zunimmt oder Gefahr droht und auf einmal ist man ein völlig anderer. Eben noch am Schreibtisch und nun schon verwickelt in wilde Abenteuer, in denen es oft um nicht weniger als die Rettung der Welt geht. Eine super Projektionsfläche, natürlich ziemlich klischeehaft, aber gerade deshalb kommt es ja so gut an. Ähnlich der Traum junger Frauen, die darauf warteten, dass der eine oder andere Prinz sie erwählt und in eine ganz andere Welt entführt. Zum Teil ein Rollenklischee, zum anderen einer psychoanalytischen Sicht folgend, da das junge Mädchen früh von der Mutter ‚verstoßen‘ wird und sich dem Vater zuwenden muss.
Geheime Doppelleben als Absage an die Normalität
Da wir alle irgendwie ahnen, dass es keine Superhelden gibt, steht man irgendwann vor der Frage nach einem angemessenen Ersatz. Der Traum vom Spion, Agenten, Bigamisten, Betrüger oder Elitesoldaten ist zwar lebensnäher, hat aber entscheidende Nachteile: Erstens, können das ziemlich anstrengende Lebenskonzepte sein und zweitens, muss man, um sie für sich auszuschlachten eben doch durchblicken lassen, wer man ist und genau das darf man nicht, wenn man nicht ziemlich dicke Probleme haben will. Einigen macht das wenig aus, aber unser Hang, dann doch wenigsten später durchschimmern zu lassen, wer man ist, ist groß, denn darin liegt eine große narzisstische Befriedigung. Eine Alternative sind die großen Stars auf den Bühnen des Lebens, aber da ist der Platz ziemlich eng und sie führen in dem Sinne kein Doppelleben, sondern werden offen bewundert. Um diese Menschen soll es auch nicht gehen, sondern um jene, die ein Doppelleben führen, was nicht in dem bekannten Sujet beheimatet ist.
Der Wunsch und die Möglichkeit eine Art Local Hero oder Promi in einer bestimmtem Sparte des Lebens zu werden, ist für viele ein adäquater Ersatztraum, weil die Idee ein von allen erkannter Star zu sein, für manche eher eine Schreckensvorstellung ist. Dennoch ist der Wunsch irgendwie herauszuragen vermutlich ein Stück weit in uns allen und als Gangsta oder Gamer, durch die Teilnahme an einer Castingshow, als Influencer oder Pornostar ist diese Möglichkeit für eine größere Gruppe in greifbare Nähe gerückt. Geeint sind diese Wünsche oft darin, nicht viel für ihre Erfüllung tun zu müssen. Man kann eigentlich so sein, wie man ist, braucht sich kein Bein auszureißen, eine gute Projektionsfläche für die Durchschnittlichkeit.
Einfach so zu sein, wie man ist, kann man heute in Kapital oder Prominenz verwandeln. Ein wahr gewordener Traum, leider, wie so oft, nur halb wahr, weil auch die Stars dieser Szenen ungeheuer diszipliniert und durchorganisiert leben, wie in Das Internet: Eine Gefahr für Psyche und Gesellschaft? ausgeführt.
All das ist auch eine stille Absage an die Normalität. Das eine oder andere Mal bestimmt deshalb, weil die man mit der Normalität und ihren Anforderungen nicht Schritt halten kann. Unser Alltag ist komplex geworden, nicht nur, wenn man sich ein S-Bahn Ticket von einer Strecke ziehen möchte, die man nicht täglich fährt. Manche sind von der Komplexität überfordert, eine Möglichkeit ist, sich in Verschwörungstheorien zu flüchten, die dem Leben über Nacht mehr Pep geben. Aber Überforderung erklärt längst nicht jede Biographie.
Wenn man mit der konventionellen Welt nichts anfangen kann
Es ist fraglich, ob es Menschen, die ein geheimes Doppelleben führen, stets um Geheimniskrämerei oder den Wunsch nach Berühmtheit geht. Wir kennen immer wieder Biographien von Menschen, die sich im Alltag gut bewährt haben. So heißt es in den glänzenden Kafka-Biographien vom Reiner Stach, am Anfang:
„In seinem Roman DAS WAHRE LEBEN DES SEBASTIAN KNIGHT – der von der Unmöglichkeit der adäquaten Biographie handelt – hat Nabokov dieses Leiden aus einer gewissermaßen tieferen Schlaflosigkeit aus der Innenperspektive formuliert: „Ein hungriger Mann, der seinen Braten verzehrt, interessiert sich für sein Essen und nicht für die Erinnerung an einen sieben Jahre zurückliegenden Traum von Engeln mit Zylinderhüten; bei mir jedoch standen alle Klappen und Verschlüsse und Türen des Geistes den ganzen Tag über gleichzeitig offen. Bei den meisten Menschen hat das Bewusstsein seine Sonntage – meinem war kein halber Feiertag vergönnt. Dieser ständige Wachzustand war nicht nur an sich, sondern auch in seinen unmittelbaren Folgen äußerst quälend. Jede Bagatelle nahm sich so kompliziert aus, rief eine solche Fülle von Assoziationen hervor, und diese Assoziationen waren so heikel und dunkel, so ungeeignet für jede praktische Verwertung, dass ich mich entweder um die fragliche Sache ganz drückte oder aber sie aus lauter Nervosität verdarb.“ Das alles trifft Wort für Wort auf Kafka zu. Erstaunlich, wie wenig er trotz allem „verdarb“: Wo man ihn hinstellte bewährte er sich, als Schüler, Student, Beamter. Doch nichts ging ihm ‚von der Hand‘, jede Entscheidung, auch die geringfügigste, war jenem Strom der Assoziationen erst zu entreißen. „Alles gibt mir gleich zu denken“, schrieb er einmal. Alles gab ihm gleich zu schreiben. Das Leben aber musste er erst übersetzen.
Diese eigentümliche Dialektik von An- und Abwesenheit reicht bis in Innerste des literarischen Werks. Die zahllosen Tagesreste aus Alltag und privatesten Sorgen, die Kafka dort abgelagert hat, sind unübersehbar. Die beispielhafte Allgemeingültigkeit seines Werks aber ebenfalls. Dieser Widerspruch, dieses Rätsel ist vielleicht der entscheidende Prüfstein jedes biographischen Unterfangens. Wenn der sozial unscheinbarste Mensch dazu fähig ist, in der Geschichte der Weltkultur eine Schockwelle auszulösen, deren Echos bis heute nachhallen, dann scheint es unvermeidlich Leben und Werk als inkompatible Welten zu betrachten, die ihren je eigenen Gesetzen folgen. „Das Leben des Autors ist nicht das Leben des Menschen, der er ist“, heißt es apodiktisch in Valérys Randnotizen zu den ‚Leonardo‘-Essays. Und Kafka selbst grub noch eine Schicht tiefer: „Der Standpunkt der Kunst und des Lebens ist auch im Künstler selbst ein verschiedener.“ Das haben wir zu respektieren. Doch der Biograph kann hier nicht stehen bleiben. Er hat zu erklären, wie aus einem Bewusstsein, dem alles zu denken gibt, ein Bewusstsein werden konnte, das allen zu denken gab. Das ist die Aufgabe.“[1]
Kafka war also so einer, der sich im Alltag bewährte und mit den konventionellen Entwürfen des Lebens dennoch nichts anzufangen wusste, sie machten ihn nicht satt. Sein Leben fand vor allem Nachts statt, wenn er allein am Schreibtisch saß und schrieb, etwas, für das er riesige Opfer brachte. Der chronische Schlafmangel, oft mit rasenden Kopfschmerzen verbunden, waren nur Teile davon. Kafka war ein stets bescheiden und höflich auftretender Mensch, jemand, der auch tagsüber gut funktionierte, aber das war für ihn nur die unwesentlichere Seite des Lebens.
Dass er dereinst diese Ruhm erringen würde, war in seinem Leben nicht vorgesehen, zu Lebenzeiten konnte er es nur geringfügig ausschlachten und wenn man Kafka durch Stachs Augen kennen lernt, ahnt man, dass es ihm auch eher unangenehm gewesen wäre.
Lehnstuhlgelehrte
Vom Lehnstuhlgelehrten ist zumeist etwas despektierlich die Rede. Man meint, der Forscher, der vom Sessel aus die Welt erklären wolle, sei im Grunde ein Narr, der sich irgendwas zurecht phantasiert, während der gute Forscher an den Ort des Geschehens geht und empirisch forscht. Er experimentiert, sammelt Daten, steht im Labor, führt Interviews, neuerdings füttert er Großrechner damit, obendrein soll er auch noch Teamworker sein. Vorbei die Zeit der einzelnen Welterklärer, Wissenschaft ist heute ein Gruppenprojekt, so hört man.
In der Tat, was Charles Darwin oder Alexander von Humbolt, stellvertretend für viele weitere auch körperlich auf sich genommen haben, können wir uns heute kaum noch vorstellen, aber es ist im höchsten Maße zu bewundern, dass und wie man überhaupt die Aspekte der Welt vom Lehnstuhl oder Küchentisch aus einfangen kann. Kein Geringerer als Albert Einstein war einer jener, die mit ihrem Genius nicht durch empirische Forschung, sondern eben qua Überlegung die Welt veränderten. Einstein ist obendrein aber auch jemand, der mit der Welt sicher etwas anzufangen wusste, aber auf seine Art. Viele Anekdoten seines Verhaltens sind überliefert, die man als eine Mischung aus Fokussierung auf das Wesentliche beschreiben kann, aber garniert mit etlichen Spritzern Schrulligkeit. Das kann man sich erlauben, wenn man Weltstar ist, als Normalo wirkt man einfach seltsam. Ob er keine Socken trug, seine Frau nicht in sein Arbeitszimmer ließ oder scheinbar nicht passend gekleidet war, Einstein war anders, glücklicherweise auch in seinem Denken als Physiker im Lehnstuhl, wo er in Bereiche gelangte, die wir oft heute noch nicht verstehen können. Einstein verfügte über Humor, das ist vielen schon verdächtig und war auch auf anderen Feldern, außerhalb der Physik, oftmals weitblickender, aber dabei unverkrampfter und unkonventioneller, als viele andere. Nicht jedes unkonventionelle Verhalten ist genial, aber jedes Genie ist zu einem gewissen Maße auch unkonventionell.
Mit Stephen Hawking verweigerte sich ebenfalls ein berühmter theoretischer Physiker, dem damaligen Drehbuch. Im Jahr 1963, im Alter von 21 Jahren, diagnostizierte man bei ihm die Nervenerkrankung ALS, die binnen weniger Jahre zum Tod führen sollte. Auch wenn er vermutlich an einer Form litt, die milder verlief, so wusste er das bei der Diagnose noch nicht. Hawking ließ sich auf dem Weg zu einem der berühmtesten Physiker der Gegenwart dennoch nicht aufhalten und starb erst 2018 und forschte vor allem über die Phänomene der Gravitation, schwarze Löcher, gekrümmte Räume und Singularität.
Das Leben dieser Wissenschaftler war in dem Sinne nicht geheim, sie erlaubten sich nur anders zu sein und standen geradezu als Weltstars in der Öffentlichkeit, jedoch gibt es auch Forscher, bei den man wirklich von einem geheimen Doppelleben sprechen kann.