Zaun in der Mitte einer Wiese

Überall werden aktuell innere und äußere Grenzen verändert. © jo.sau under cc

Aktuell erleben wir eine Verschiebung der Grenzen, entlang der Innen- und der Außenwelt. Für manche ist das zu viel, für andere zu spät.

Es tut sich etwas, aber leider oft in regressiver Richtung. Die Welt macht momentan nicht so richtig viel Spaß. Eine Krise jagt die nächste und es ist nicht zu erwarten, dass sich daran in absehbarer Zeit etwas ändern wird. Die Erwartung, zumindest die Hoffnung war, dass sich nach der halbwegs überstandenen Corona Pandemie nun langsam wieder etwas wie Normalität einstellt und bezogen auf diese Krankheit ist das weitgehend geglückt, doch dafür läuft vieles andere schief.

Russland überfällt die Ukraine, aktuell ein neuer Krieg am Horizont, die nächsten Konflikte sind bereits in Sicht. Der weltweite Klimawandel ist alles andere als im Griff und die Bevölkerung der westlichen Wertehemisphäre ist seit Jahrzehnten gespalten, eine Bewegung, die eher noch zunimmt. Nicht mal die Sommerzeit kriegt man abgeschafft. Das mag eine Randnotiz sein, aber irgendwie ist es exemplarisch.

Viele neue Überschriften, wenig Inhalt

Ein Problem wurde nach und nach, dass eine älter werdende und absteigende Gesellschaft den Wandel scheut. Man hofft irgendwie, dass die Krise, die man wahrnimmt demnächst verschwindet und wenn das nicht der Fall ist, suchen manche einfache Antworten und Lösungen dafür, warum das nicht so ist.

Das wird zwar immer wieder als primitiv oder unterkomplex bezeichnet, auf der anderen Seite ist es so, dass die, die behaupten die besseren Antworten zu haben, zwar oft erzählen, was man manchen müsste, es dann aber nicht tun. Die Bevölkerung fühlt sich immer weniger mitgenommen, aber mehr noch, kommt es zu einem Patt der Kräfte, auch das kann die Entwicklung lähmen.

In früheren Jahren fiel es leicht, sich ein wenig zu beklagen, doch am Ende des Tages hatte man noch immer das gute Gefühl, dass die Welt hier alles in allem in Ordnung ist. Man konnte sich zurück lehnen und entspannen, mit dem Gefühl der leichten Überlegenheit. Ob es stimmte oder nicht war nicht so wichtig, man konnte es sich zumindest erfolgreich einbilden.

Aber man braucht nur die Stichworte Fußball, Bildungsmisere, Facharbeiter- und Medikamentenmangel, Pflegenotstand und Deutsche Bahn aneinander zu reihen, um Vorstellungen zu evozieren, die vor wenigen Jahrzehnten einfach nicht zu uns gepasst hätten. Die glänzende Organisation ist häufig einer lähmenden Bürokratie gewichen. Geredet wird aber viel von Wandel und Wende, Innovation und Ärmel hoch, nur hat man immer wieder mal den Eindruck, dass das oft Lippenbekenntnisse sind.

Die verblassende Normalität der Herrenwitze

Doch es ist nicht nur so, dass es irgendwie nicht weiter geht, sondern die alte Normalität schwindet nach und nach. Der gepflegte Herrenwitz ist out. Zumindest in vielen Kreisen bekommt man dafür keinen klammheimlichen Zuspruch mehr, sondern die Mehrheit verdreht entnervt die Augen. Die zumeist ältere Generation fühlt sich missverstanden, weil sie es, man will es ihr abnehmen, ja irgendwie selten richtig böse meinte.

Doch die Konstanz der leisen Herablassung und subtilen Ausgrenzung hinterlässt ihre Spuren und wird heute nicht mehr toleriert. Der Reflex ist Beleidigtsein, weil man gar nicht weiß, was ‚die, auf einmal‘ haben. Jahrelang konnte man billig punkten und jetzt soll das nicht mehr gehen? Doch die Stimmen rissen nicht ab, nicht immer laut, manchmal nur darauf hinweisend, wie es erlebt wird, nicht dazu zu gehören.

Doch inzwischen ist gar nicht mehr so ganz klar, was die Mehrheitsgesellschaft eigentlich ist und ausmacht und ein gewisser Teil der Gesellschaft reagiert darauf mit Ablehnung und Wut. Doch so entgegengesetzt die Positionen, auch die extremen Enden eint der gemeinsame Wunsch nach Normalität. Die einen wollen, dass die Welt, die sie Jahrzehnte kannten, einfach so weiter besteht, die anderen wollen, dass diese Welt, unter der sie manchmal leiden, einfach verschwindet. Eine Verschiebung der Grenzen innerhalb unserer Gesellschaft, die für die einen viel zu schnell kommt und für die anderen viel zu lange dauert und nicht weit genug geht.

Das wäre vermutlich alles nicht so überfordernd, wie es von vielen erlebt wird, wenn die Veränderungen in der Welt nicht viele weitere Bereiche umfassen würden.

Eine neue Normalität ehemaliger psychischer Krankheiten?

Wo Krankheiten beginnen und enden ist eine Frage der Konvention. Aber vieles was ehedem als krank galt wird heute nicht mehr so gesehen und umgekehrt. Was Krankheit ist, wird gerne an objektiven Kriterien festgemacht, doch wie diese Kriterien lauten, ist ebenfalls eine Frage der Übereinkunft. Oft in bester Absicht, möchte man unterstellen, um das Leben der Menschen zu erleichtern. Darum wurden und werden die Normwerte von Blutdruck, Blutzuckerspiegel oder Cholesterin über die Jahre immer wieder angepasst.

Aber auch die Frage wo Depressionen beginnen und behandelt werden sollten ist in der Diskussion oder wie pathologisch es ist Stimmen zu hören. Doch davon ab, gibt es immer wieder auch Diskussionen über eine Vermischung von Wissenschaft und Politik in diesen Diskussionen. Das ist nie ein gute Sache, aber vermutlich im Alltag nicht zu vermeiden. Dann werden Menschen die man nicht leiden kann pathologisiert und Narzissmus ist auf einmal keine psychologische Diagnose mehr, sondern ein Synonym für einen rücksichtslosen Egoisten und damit für jeden, den wir als einen solchen empfinden.

Oft werden gesellschaftliche Motive und Gewohnheiten pseudowissenschaftliche zu legitimieren versucht, wie es bei der Unterdrückung der Frauen geschah oder in Fragen der Homosexualität die auch in Deutschland gesetzlich verboten war und von einigen als psychische Störung angesehen wurde. Heute gibt es alle Arten queerer Bewegungen und Motive, deren vordringliche Forderung ist, einfach als normal anerkannt zu werden und die die Möglichkeit haben wollen, ein Leben zu führen, wie jeder andere Mensch auch.

Die Mischung aus gesellschaftlicher Isolierung und psychologischer Stigmatisierung wird zunehmend als problematisch erkannt und man versucht eine neue Normalität zu etablieren, in der die vielen Möglichkeiten der geschlechtlichen Identifikation und sexuellen Orientierung als normale Möglichkeit angesehen werden, immer mehr auch die zwischenzeitliche oder generelle Asexualität, sowie die Masturbation.

Neuerdings fragt man auch, ob sogenannte Persönlichkeitsstörungen nicht einfach Ausprägungen normaler Verhaltensweise sind und die Diskussion ist längst noch nicht am Ende, sie beginnt gerade erst, man sieht jedoch, was eine Veränderung des Blicks bewirken kann.

Die Veränderung des Blicks

Themen wie die Rechte von Minderheiten werden gerade aus einer ganzen Reihe von Gründen kontrovers gesehen, aus alten Gewohnheiten und neuen Verunsicherungen. Ähnlich wie bei Diskussionen über den Klimawandel, zu denen es kaum noch kommt, weil man bei dem Thema gleich in die ideologischen Schützengräben verschwindet.

Bei unemotionaleren Themen kann man üben, was eine Veränderung des Blicks bewirken kann. In vielen Fällen ist auch sie eine Verschiebung der Grenzen. In Bewertungsfehler führten wir aus, dass die Vorstellung einer Welt, die ohne Geld funktioniert hat, für uns kaum zu denken ist. Man denkt automatisch, dass der Tausch Wert gegen Wert immer schon die Menschen begleitet hätte und Geld diesen Tausch einfach erleichtert hätte. Doch dass es tatsächlich mal ganz anders gewesen sein könnte, an diese Idee muss man sich erst heran tasten.

Gegen unsere Intuition ist auch die Idee des Philosophen Ludwig Wittgenstein, der uns davon kurierte anzunehmen, dass es ein immer schon existierendes Ich gäbe, das im Grunde bereits fertig ist und stumm die Welt erlebt, bis es schließlich die Worte lernt, um auszudrücken, was es die ganze Zeit wahrgenommen hat. Ganz falsch, sagt Wittgenstein, durch Sprache bekommen wir erst den Zugang zur Welt und sogar zu unserem eigenen Inneren. Auf Anhieb schwer zu verstehen.

Der vorgefertigte Blick verschließt nicht nur Zugänge, er schließt auch aus, was tatsächlich da ist und zu sehen wäre. Homosexualität und Masturbation wurden lange Zeit im Tierreich nicht beobachtet, einfach weil man sie nicht erkennen wollte. So etwas konnte es in der Natur nicht geben, also gab es das auch nicht.

Übt man die Veränderung des Blicks ein wenig ein, sieht man, wie reich die Welt sein kann, weil es nicht nur die eine, richtige Perspektive gibt und dann noch eine, die irgendwie alt und falsch ist, sondern viele, in sich durchaus stimmige Sichtweisen. Doch das schätzen nur bestimmte Persönlichkeitstypen und eine breitere Schicht der Gesellschaft in dem Moment, wo man das Gefühl hat, dass es alles in allem bergauf geht.

Die Verschiebung der Grenzen in der Politik

Auch hier bewegt sich gerade viel. Protest ist längst nicht mehr links, sondern rechts. Doch nicht alles was rechts ist, ist Protest. Eine Gefahr für die Demokratie, die unter Druck steht, wie überall gesagt wird, verbunden mit einem gleichbleibenden Desinteresse an diesem Sachverhalt, bei vielen Menschen, gerade auch bei den jüngeren. Der Druck von innen, aus der eigenen Gesellschaft, geht mit einem von außen zusammen.

Die Vorherrschaft der westlichen Wertehemisphäre galt lange Zeit als gesetzt, nun ist sie unter Druck, von vielen Seiten, kriegerische Auseinandersetzungen inklusive. Alle gegen den Westen, könnte man meinen. Er ist von innen gespalten, wie man in den USA sieht, in Europa sieht man die Uneinigkeit in und zwischen den Staaten.

Die einen wollen unbedingt ins demokratische Europa, weil sie noch oder ganz aktuell wissen, wie es sich anfühlt in einer Diktatur zu leben oder von einer bedroht zu werden. Je weiter wir in der Westen Europas kommen, sehen wir Länder, die überreizt, übersättigt und irgendwie überdrüssig sind. Wir nehmen unsere eigenen Werte nicht ernst und dass Moral und Ethik unter Dauerfeuer aus Ecken der Rechten, der Linken und einer szientistischen und Wirtschafts-Fraktion steht, ist schon fast krank zu nennen, wäre das nicht eine unzulässige Vermischung von Bereichen, die man nicht mischen sollte, Politik und pathologische Diagnostik. Nennen wir es also seltsam.

Was wollen wir eigentlich? Darüber müssen wir uns klar werden und das kann uns keiner abnehmen. Die Lösung könnte einfach sein: Eine Welt, auf die wir wieder Lust haben. Aber der Werbefilm für den Westen ist nicht überzeugend. Wir sind am Ende des Tages nicht ganz so verlogen, zynisch und korrupt, wie die anderen. Aber von dem, was uns da als Aufklärung mal versprochen wurde, ist das doch ziemlich weit entfernt. Dennoch, wer das Recht des Stärkeren der Stärke des Rechts nicht vorzieht, hat die Wahl.

Die Verschiebung der Grenzen ins Surreale

Was ist momentan verrückter als die tägliche Nachrichtenlage? Vielleicht die Nachricht, dass es noch ganz andere Bereiche gibt, durch die wir Abstand nehmen können. Irgendwelche Nerds waren schon immer in ihrer eigenen Welt unterwegs, aber Nerd oder Exzentriker wird man nicht über Nacht, man ist es schon. Man kann üble Situationen dadurch relativieren, dass man sie in Beziehung zum ganzen Universum setzt und dann sind wir irgendwo am Rand, unbedeutender als ein Staubkorn.

Hat mich allerdings nie überzeugt, jedoch sind die neuen Vorstöße der Kosmologie schon spannender, die wir in Und wenn alles ganz anders ist? darstellten. Unser Universum könnte buchstäblich von jetzt auf gleich verschwinden.

Aber das hilft auch nicht so richtig weiter und so können wir uns auf der einen Seite der erstaunlichen Macht der Normalität hingeben, sofern wir dort gut etabliert sind und uns wohl fühlen.

Spiritualität könnte der genialste Weg sein, aber nicht um die Welt irgendwie aufzuhübschen. Spiritualität wird manchmal zur Entspannungstechnik, das ist okay, aber im Grunde vergibt man damit ungeheuer viel, denn nimmt man es ernst, kann man das Ich loswerden. Das ist vielleicht der fundamentale Schritt den man gehen kann, jener, bei dem die Verschiebung der Grenzen maximal ist.