Durchatmen und das Ganze betrachten

Daumen runter

Das kann und muss besser werrden. © Paul Downey under cc

Wir leben in regressiven Zeiten. Nicht erst seit ein paar Jahren, vermutlich seit ein paar Jahrzehnten. Sie sitzen, dass macht die Vermittlung dessen, worum es geht, so schwer, an anderen Stellen, als man denkt. Regressiv das sind immer die anderen. Über die Moral der Latenzphase, die für etwa 10-Jährige Kinder typisch ist, schreibt Kernberg, dort und im Kitsch „übt das Einfache und Triviale eine größere Anziehungskraft aus als das Tiefgründige. Die für die Moral der Latenz typische Unfähigkeit, Ambivalenz zu ertragen, kommt vielleicht am eindrucksvollsten darin zum Ausdruck, dass Konfliktlösungen oft darin bestehen, „böse Feinde“ von „guten Freunden“ zu scheiden. Die Moral der Latenz weist starke Parallelen zum Kitsch auf, also zu Kunstformen ohne künstlerischen Wert, die aber sehr beliebt sind. Die üblichen Merkmale von Kitsch sind Sentimentalität, Eindeutigkeit, Bombast; Grandiosität, unbekümmerte Vereinfachung von traditionell herrschenden Ausdrucksstilen, geistige Oberflächlichkeit und das Trachten nach kindlichen Idealen: die Idealisierung des Kleinen, Behaglichen, Amüsanten; Bilder von Clowns, ein Kaminfeuer vor einer Winterlandschaft, die warme, geschützte, sichere, einfache und glückliche Welt der (Phantasie-)Kindheit.“[1]

Viele Elemente dieser moralisch regredierten Versionen kennen wir, aber leitend ist die Trennung in böse Feinde und gute Freunde, ist der vermeintliche Zwang sich entscheiden zu müssen. Da gibt es nur grobe Kategorien zu verteilen. Wir kennen die unterschiedlichen Versionen, aber sind wir in der Lage dem anderen zuzuhören, uns nicht gleich auf eine Seite zu schlagen? Finden wir es plausibel, dass man sich eben entscheiden muss, jetzt, da wieder mal Endzeit ist? Empfinden wir jede andere Haltung lauwarm und waschlappig oder als eine Taktik des Gegners? Dann sind wir schon ziemlich tief drin.

Wenn wir ein positives Ziel haben, wissen, wofür es sich lohnt morgens aufzustehen, wenn wir einen Feind als Schuldigen nicht mehr brauchen und dennoch nicht alles in rosarotem Wellnesscolor sehen, kommen wir da raus. Es sind immer nur wenige die dem regressiven Sog widerstehen können, aber immerhin ist das ein echter Qualitätsnachweis. Verstehen, ohne sich zu verwickeln. Liegt gerade nicht im Trend der allgemeinen Empörung, die viele Menschen schlecht gelaunt und aggressiv macht. Das ist zum Abreagieren gut, langfristig macht es nur noch schlechtere Laune.

Es kann verärgern, wenn man sich viele Bereiche ansieht, jeder hat da etwas andere Prioritäten. Doch manchmal hat man, liest man Kritiker, den Eindruck, als lebten wir im schlimmsten Land der Erde. Laut World Happiness Report 2018, ist Deutschland auf Platz 15 von 156 gemessenen Ländern. In über 90% der Länder lebt man schlechter. Das Empfinden einzelner Menschen kann natürlich bedeutend abweichen. Oft sagen und schreiben sie mehrmals täglich das, von dem sie meinen, dass sie es nicht sagen und schreiben dürfen. Die Meinung frei äußern zu dürfen, heißt ja nicht, dass sich sogleich jeder nach dieser Meinung richten muss. Andere könnten anderer Meinung sein, das muss man ertragen. Meine private Liste, auf der stehen würde, was mich derzeit, manchmal auch ganz grundsätzlich, nicht nur als kleines Symptom stört, wäre lang. Aber sehr vieles klappt bei uns sehr gut, gerade im Vergleich zu anderen Ländern. Tauschen würde man oft gerne einzelne Segmente. Die Sozialpolitik der Skandinavier, kombiniert mit der Sonne und Entspanntheit der Südseeinseln, der Solidität der Schweiz, dem US-amerikanischen Selbstbewusstsein und der kanadischen Einwanderungspolitik. Oder eben anders kombiniert. Nur das US-amerikanische Gesundheitssystem will dann kaum jemand haben, der nicht äußerst wohlhabend ist.

Wer schafft den Sprung über den eignen Schatten?

Dennoch, die Stimmung bleibt angespannt, vielleicht bei einer Minderheit, aber doch bei einer, die groß ist. Eine soziale Spaltung gilt es zu verhindern, die liegt nicht nur im monetären Bereich, sondern gerade auch in der Spaltung des Empfindens: Wut hier, Gelassenheit dort. Den einen ist das Land viel zu links, den anderen viel zu rechts. Prima, könnte man sagen, wenn die einen das Gegenteil der anderen meinen, macht man öfter mal alles richtig, einfach weil irgendwer immer was zu meckern hat, aber so einfach liegen die Dinge nicht. Wenn die Eckdaten stimmen, ist das nicht schlecht, doch die Zukunftsfragen müssen ebenfalls gelöst sein.

Es ist vergleichsweise unsinnig das eine oder andere Thema weil es gerade nicht auf der eigenen Agenda stehen darf komplett zu ignorieren. Das gilt für Migration, Arbeit und Wohnen, Terrorangst, Kriminalität, soziale Spaltung, Rente, Versorgung im Alter ebenso wie für Klimawandel, Ressourcenknappheit, Plastikmüll, Insektensterben und Energiepolitik. Das Fahren auf Sicht ist keine adäquate Antwort mehr. Die Diskussion über die Ursachen der Regression ist vielleicht nicht einfach, weil sie beiden Lagern etwas abverlangt, nämlich wenigstens ein Stück weit über den eigenen Schatten zu springen. Man will sein geliebtes Feinbild ungern hergeben: Die Einwanderer oder den Neoliberalismus. Wenn an anerkennt, dass an beidem etwas dran sein könnte, bleibt mindestens im Falle des Neoliberalismus die Frage, wie es dazu kommen konnte, dass so viele mitmachen. Eine wichtige und nachvollziehbare Antwort gibt Diana Diamond und es ist eine psychologische Antwort. Von linken Theoretikern formuliert, bohren sie doch am Nerv der Linken, wenn es um Wert und Bedeutung der Familie geht, ein eher konservatives Thema:

„Horkheimer, Adorno und Lasch führen das Auftauchen des Narzissmus als dominanten Charakterzug und die Ausweitung Narzisstischer Persönlichkeitsstörungen als vorherrschende Psychopathologie auf den Zusammenbruch väterlicher Autorität und die Verwässerung mütterlicher Fürsorge im Zuge veränderter familiärer Strukturen und ökonomischer Produktionsprozesse zurück. Die Übernahme elterlicher Funktionen durch Medien, Schule und Sozialeinrichtungen haben zu einer Verwässerung elterlicher Autorität und zur Beeinträchtigung der Fähigkeit von Kindern geführt, starke psychische Identifizierungen mit ihren Eltern auszubilden. Autorität und Autonomie des Vaters werden mehr und mehr durch die Trivialisierung seiner Rolle im Produktionsprozess unterminiert, während Effektivität und Fürsorge der Mutter durch die zunehmende Professionalisierung von Kindererziehung und den Mangel an gesellschaftlicher Anerkennung ihrer Rolle als Trägerin dieser Qualitäten (d.h. Liebe, Zärtlichkeit, Gegenseitigkeit) infrage gestellt werden – Qualitäten, die einer Reduzierung des Menschen auf ein bloßes Anhängsel von Produktionsprozessen entgegenstehen.

Nach Auffassung von Horkheimer, Adorno und Lasch interferiert dieser Schwund elterlicher (insbesondere väterlicher) mit ödipalen und präödipalen Internalisierungsprozessen. Der Ödipuskomplex dient in den Augen dieser Theoretiker nicht nur als Medium zur Internalisierung, sondern auch als Fundament moralischer Autonomie, die ihrerseits zum Hort gesellschaftlichen Widerstands werden kann. Viele Mitglieder unserer Gesellschaft, so die These, entbehrten aufgrund der Abwesenheit des Vaters von zu Hause sowie seiner Machtlosigkeit innerhalb der sozialen Welt einer starker Identifikationsfigur, was den Verlust eines starken Ichs zur Folge habe, das normalerweise den langwierigen Auseinandersetzungen mit einem geliebten und verehrten, wenngleich gefürchteten Vater entspringt. Vielmehr sei der Einzelne, so Lasch (1982), seinen primitiven Phantasien über einen unnötig strengen und strafenden Vater ausgeliefert, mit dem Ergebnis, dass auch das Über-Ich seine primitiven personifizierten Qualitäten behalte und auf die soziale Welt projiziere, die dann als gefährlich und irrational erscheine. Der Zusammenbruch väterlicher Autorität als zentrales Sozialisationsmoment machen so den Weg frei für die direkte Manipulation des Ich durch Massenmedien, Schule, Peergroups und politische Führer. Das Ich-Ideal entspringe nicht der Auseinandersetzung mit dem Vater, sondern einem unterentwickelten Ich bzw. dem direkten Einwirken von Kräften außerhalb der Familie. Eine derartige Aufpfropfung des Ich-Ideals auf das entstehende Ich prädisponiere zu dessen rascher Reprojektion auf äußere Figuren, sowie zu Regressionen, die mit einer Verdichtung von Ich und Ich-Ideal in Richtung narzisstischer Pathologie einhergehen.“[2]

Die Linke verkennt die Bedeutung der inneren Struktur mit souveräner Zuverlässigkeit, wer schafft den Sprung über den eigenen Schatten ohne dabei in gute alte Zeit Romantik und Eindeutigkeit zu versinken?

Quellen