Der Aufstand der Jugend in der arabischen Welt. Die Unruhen, die London jüngst erschütterten. Die kollektive Begeisterung für politische Ideologien in Zeiten der großen Diktaturen des 20. Jahrhunderts. Der kollektive Ruck nach dem atomaren Super-GAU von Fukushima. Die Leidenschaft, die Massenveranstaltungen von Popstars, Großereignisse im Sport oder das Oktoberfest hervorrufen. Was verbindet sie, was trennt sie, welche Erklärungen hat die Gruppen- und Massenpsychologie anzubieten?

Bei Massenphänomenen haben wir es immer mit einer Überschneidung soziologischer, psychologischer und oft historisch-politischer Umstände zu tun. Die Gruppen- und Massenpsychologie deckt immer nur einen Teil des Geschehens auf.

Regression

massenhaft Menschen

Streikende Menschenmassen im Amerika der frühen 1930er © Kheel Center under cc

Ein verbindendes Element aller unorganisierten Gruppen und Massen ist die Regression.

Regression ist der Rückfall in Muster und Bewältigungsstrategien einer früheren Entwicklungsstufe.

Typischerweise ist bei Massenregressionen eine moralische Regression anzutreffen, die der Moral der kindlichen Latenzphase entspricht. Das bedeutet, dass auch differenzierte Menschen unter dem Einfluss von Masseneffekten auf eine recht primitive Stufe der Moral abrutschen, in der ein einfaches und eindeutiges Wertesystem dominiert. Es geht nur noch darum, ob man für oder gegen etwas ist, Zwischentöne finden kein Gehör mehr, Differenziertheit wird als Verrat interpretiert.

Unorganisierte Gruppen und Massen pendeln sich auf diesem Niveau ein, um der Stimmung von Angst und Misstrauen zu begegnen, die immer dann auftritt, wenn eine größere Ansammlung von Menschen sich selbst überlassen bleibt, ohne dass eine konkrete Aufgabe, ein konkretes längerfristiges Ziel besteht.

Gruppenexperimente

Es gibt verstörende Experimente, die das immer wieder belegen. Gibt man Mitgliedern einer Gruppe – bestehend aus an sich intelligenten und differenzierten Individuen – die Anweisung, sich in der nächsten Zeit frei und offen über das zu unterhalten, wozu sie gerade Lust haben und zu beobachten, was während dieser Zeit in der Gruppe vor sich geht, stellt sich nach kurzer Zeit ein Klima aggressiven Misstrauens innerhalb dieser ein. Es gibt drei typische Wege diesen Spannungen zu begegnen, wobei es oft zu einer Neuorganisation der Gruppe kommt, die sich einen mittelmäßigen narzisstischen Anführer wählt, der das regressive Wertesystem von eindeutigen Gut-/Böse-Zuordnungen zusätzlich etabliert (vgl. Bion).

Nutzen und Risiken des Abtauchens in der Masse oder Gruppe

jubelnde Fußballfans

Die freudige Seite der Regression © gravitat-OFF under cc

Ein Mensch, der ansonsten ein komplexes Weltbild hat und anspruchsvollen Werten folgt, versinkt also im regressiven Sog der Masse und ist kaum mehr und oft gar nicht in der Lage, unter diesem Einfluss kritisch zu reflektieren, was vor sich geht.

Das Individuum selbst fühlt sich nicht mehr verantwortlich. Psychoanalytisch ausgedrückt ist sein Über-Ich (die verinnerlichten Wertvorstellungen) mit dem Über-Ich des Anführers verschmolzen oder man idealisiert gemeinsam eine Sportmannschaft, oder ähnliches, deren Bedeutung und Schicksal für kurze Zeit alles überragt.

Das hat durchaus auch eine enthemmende und entspannende Wirkung auf das Ich, was gewissermaßen in der Masse aufgeht. Es kann sich im Kino seinen Gefühlen hingeben, im Fußballstadion parteiisch und ungerecht die eigene Mannschaft unterstützen, es kann im Bierzelt schunkeln und sich dem kollektiven Taumel hingeben.

Im Rahmen dieser ritualisierten Veranstaltungen ist das meistens kein Problem, im Stadion oder beim Public Viewing kann man sich für zwei Stunden entspannen, bevor man wieder „zu sich“ kommt und ein „normaler“ Mensch ist. Das ist auch eines der Rätsel vor denen man steht: Einigen Menschen gelingt es unbeschadet in die Masse abzutauchen und als unverändert reifes Ich zurückzukehren, während andere dauerhaft regredieren und die Stufe simpler Werturteile nicht mehr verlassen können.

Wann ist man eigentlich Teil einer Masse?

Interessant ist, dass es zu psychologischen Masseneffekten nicht nur dann kommt, wenn man an einer Großveranstaltung teilnimmt, sondern auch, wenn man alleine in seinem Zimmer Massenmedien konsumiert, von denen man weiß, dass andere sie gerade jetzt mit einem teilen, wenn man also seine Zeitung liest oder eine populäre Fernsehsendung sieht. Dabei wirkt das gedruckte Wort weniger als das gehörte und Bilder haben den stärksten Effekt. (vgl. Moscovici). Das erklärt das regressiv paranoide Klima während medialer Inszenierungen, wenn sich weite Teile der Bevölkerung von Ängsten vor Seuchen und Terror anstecken lassen, was drei Wochen später wieder vollkommen vergessen ist.

Quellen: