»Wir sind ein System«, sagt Fleur, bei welcher eine »Dissoziative Identitätsstörung« diagnostiziert wurde. Besser bekannt ist der Ausdruck einer »multiplen Persönlichkeit«, einer Aufsplittung der Persönlichkeit in mehrere Teilidentitäten.
Stark diskutiert in der psychologischen Fachwelt, ist die umstrittene Diagnose für die Betroffenen einerseits eine Erleichterung, weil sich ihre Lebenssplitter plötzlich zu einem haltlosen Ganzen zusammenfügen. Andererseits wirkt der Stempel einer »multiplen Persönlichkeit« wie eine scheinbar unüberwindbare Hürde.
psymag.de verwendet das »Wir« als gewünschte Anredeform von Fleur.
Schattenhafte Umrisse im Inneren
Fleur ist der Name eures Systems. Welche Bedeutung hat er?
Wir sind ein System, das immer wieder neue Blütenblätter hervorbringt. Wir sind verletzlich, aber unverwüstlich.
Was tun einzelne Anteile von euch gerade?
Viele halten sich bedeckt und schlafen. Einige beobachten das Gespräch. Momentan führe ich, also Marlene, das Gespräch mit dir. Trotzdem möchte ich für uns die Bezeichnung des Wirs, da es in diesem Gespräch um uns als System geht.
In Ordnung. Ihr teilt euch einen Körper. Kommt ihr zurecht?
Das System ist inzwischen sehr organisiert. Wir leben in diesem dreiunddreißig Jahre alten, weiblichen Körper. Früher war alles unorganisierter. Dank der Therapie kommen wir besser zurecht. In der Therapie haben wir uns das Wir als Ganzes erarbeitet. Früher wussten viele von uns nichts von den anderen. Das führte zu Missverständnissen und Erinnerungslücken. Heute schaffen wir es, miteinander zu kommunizieren. Meistens haben wir sogar ein Co-Bewusstsein, das heißt, wir wissen die meiste Zeit, was die anderen machen und wer gerade vorne ist. Damit ist gemeint, wer gerade bei uns im Vordergrund steht.
Waren die Erinnerungslücken der Grund, warum ihr euch vor einigen Jahren zu einer Therapie entschlossen habt?
Ja, wir hatten massive Gedächtnislücken und Probleme im Alltag. Das ist anders als bei Unos, also bei Menschen, die nur eine Identität in sich tragen und nur ein Bewusstsein haben. Wir konnten uns nicht vertrauen, weil wir uns nichts glauben konnten. Weil wir uns nicht als Ganzes wahrnehmen konnten. Wir wussten nicht, was wahr und was nicht wahr war. Wir erledigten Dinge doppelt, weil wir nicht wussten, dass ein anderer sie schon erledigt hat. An vieles konnten wir uns nicht erinnern. Wir trafen auf einen Menschen, der behauptete, uns zu kennen, und der uns unbekannt war, weil die Bekanntschaft mit einem anderen Anteil unseres Systems geschlossen worden war, als dem Anteil, der gerade im Vordergrund war. Einmal standen wir in einem Geschäft in einer anderen Stadt und wussten nicht, wie wir dorthin gekommen waren. Wir haben versucht, das zu überspielen, aber es hat nicht so richtig geklappt. Die Wahrheit war, dass ein anderer Anteil uns dorthin gebracht hat, als der, der gerade vorne war. Diese Switches haben wir nicht mitbekommen. Dissoziation ist prinzipiell nichts Ungewöhnliches bei Menschen. Hat jemand einen schweren Verkehrsunfall und steht unter Schock, dann erinnert er sich auch nicht an das, was passiert ist. Er hat Teile des Bewusstseins und Gefühle dissoziiert. Bei Menschen mit Dissoziativer Identität ist das eben stärker ausgeprägt. Wenn wir uns versucht haben, uns an etwas zu erinnern, war früher nur ein schwarzes Loch. Wir hatten enorm viele Erinnerungslücken. Es hat sich so angefühlt, als wäre die Zeit sprunghaft vergangen. Da die meisten Anteile nichts von den anderen wussten. Nur manche von uns haben Schatten im Inneren wahrgenommen, bruchstückhafte Stimmen, so als wären dort noch mehr.
Mehrere Frauen und Kinder
Aus wie vielen Anteilen besteht das System?
Das wissen wir nicht. Wir haben das Gefühl, dass im Inneren früher noch mehr waren, aber wir wissen es nicht genau. In der Therapie haben wir einige Anteile aufgedeckt und uns das Co-Bewusstsein erarbeitet. Zu diesem Zeitpunkt wissen wir nur von Frauen und Kindern, die in unserem System leben.
Keine Männer?
Nein, soweit wir wissen, sind keine Männer bei den Anteilen dabei.
Helfen manche Anteile den anderen?
Ja. Durch die Therapie haben wir gelernt, miteinander zu kommunizieren und aufeinander Rücksicht zu nehmen. Manche Frauen versuchen, den Kindern zu helfen.
Inwiefern?
Wir haben ein Baby bei uns, um das sich gekümmert werden muss. Das macht vor allem Toni. Außerdem haben wir ein sechsjähriges Kind bei uns, das abends verängstigt in der Ecke sitzt. Es hat schlimme Dinge erlebt. Wir versuchen es zu beschützen. Ich, also Marlene, versuche, ihm Trost zu spenden. Aber wenn wir uns nähern, schreit und weint es. Es ruft nach seiner Mutter, weil es Angst hat.
Was habt ihr im Speziellen versucht, um ihm zu helfen?
Der Vorschlag der Therapeutin war, ihm etwas vorzusingen. Oder ihm einen süßsauren Bonbon zu geben. Etwas, was seine Sinne anregt, und das Kind in die Gegenwart zurückholt. Damit es weiß, dass es in Sicherheit ist. Das ist ein therapeutischer Ansatz, der helfen soll, über die starke Sinnesreizung die Dissoziation aufzuheben. Das Kind ist traumatisiert. Aber wir haben nicht das Recht darüber zu sprechen. Das ist privat.
Selbstverständlich. Das akzeptiere ich.
Wir versuchen, dem Kind jetzt in der Therapie zu helfen, aber es will nicht in den Raum reingehen. Es bleibt an der Schwelle stehen und dann weint es.
Wie verläuft für gewöhnlich eine Therapiestunde?
Wir praktizieren in der Therapie die innere Kommunikation. Es gestaltet sich beinahe so wie in einer Gruppentherapie. Leider wollen noch nicht alle Anteile im therapeutischen Kontext sprechen. Manche zweifeln, ob die Therapie überhaupt gut für uns ist. Die Therapeutin praktiziert Kognitive Verhaltenstherapie. Sie hat außerdem eine Traumatherapieausbildung und sie hat sich auf DIS (Anm. der Redaktion: Dissoziative Identitätsstörung) spezialisiert. Wir machen Fortschritte. Früher hatten wir das Gefühl, oft zu schauspielern. Heute erleben wir uns mehr als Einheit. Wir wissen, dass wir viele sind.
Plötzlich ist man woanders
Wenn ihr sagt, schauspielern, wie ist das gemeint?
Wir wussten nicht, wer wir waren. Wir waren wie zersplittert, hatten Erinnerungslücken. Darüber hinaus wurden wir manchmal von Freunden damit konfrontiert, dass wir uns so anders verhalten hätten. Also haben wir im Laufe unseres Lebens gelernt, uns so normal wie möglich zu verhalten. Wir haben versucht, uns an die tagtäglichen Anforderungen anzupassen. Vielleicht konnten wir uns deshalb jahrelang so unauffällig verhalten. Aber wir waren nicht authentisch. Wir wussten natürlich, dass es komisch ist, wenn man nach außen hin sagt, dass wir nicht wissen, wie wir in dieses Geschäft gekommen sind. Also haben wir es nicht gesagt und haben so getan, als wüssten wir genau, warum wir gerade dort stehen. Inzwischen haben wir einen hochfunktionalen Anteil, der den Alltag die meiste Zeit für uns regelt.
Demnach seid ihr bemüht, ein »normales« Leben zu führen? Geht ihr einer Arbeit nach?
Wir sind jetzt berentet. Früher waren wir auf Hartz IV. Wir haben versucht zu arbeiten. In Fast-Food-Restaurants, auch immer mal wieder in der Warenverräumung und als Reinigungskraft. Aber wir waren oft zu abgelenkt und zu langsam. Nach einem Switch wusste der neue Anteil nicht, wo er war. Es war wie ein Filmriss.
Wie organisiert ihr heutzutage euren Alltag? Die Zubereitung von Essen, die Körperhygiene und all diese Dinge.
Wir leben in einer betreuten Wohneinheit, haben dort schönerweise eine eigene kleine Wohnung mit separatem Badezimmer und einer kleinen Kochnische. Für die Bewältigung einzelner Aufgaben bilden wir Arbeitsteams. Meistens. Die Anteile, die etwas besonders gut können, übernehmen die entsprechenden Aufgaben. Das Modell haben wir mit der Thera zusammen erarbeitet.
Thera?
Ja. Unsere Therapeutin. Sie war es auch, die uns empfohlen hat, für regelmäßige Ausruhzeiten zu sorgen. Damit wir uns Zeit für uns nehmen, da stressbedingte Situationen unsere Ängste verstärken könnten. Und die Aufregung könnte dazu führen, dass die innere Kommunikation zwischen den Anteilen abbricht. Das wäre nicht gut.
Im zweiten Teil des Interviews mit einer »multiplen Persönlichkeit« sprechen wir mit Fleur über einzelne Anteile ihres Systems.