Vertrauensverlust

Stinkefinger

Diese Geste fasst das Lebensgefühl einiger Menschen treffend zusammen. © viZZZual.com under cc

Gewöhnlich hatte man aber jemanden, der einem die Welt erklärte. In Streitfällen wurde ein Wissenschaftler oder Experte gerufen, der uns sagte, wie es wirklich ist oder man schaute sich die Nachrichten aus dem öffentlich-rechtlichen Fernsehen an, die als seriöse Quelle galten. Wenn das alles nichts half, kam Peter Scholl-Latour. Aber Wissenschaftler und Journalisten haben an Ansehen verloren, vielleicht nicht so dramatisch, wie man es manchmal hört, aber doch breit genug, um diesen Trend nicht nur als Randphänomen zu betrachten.

Es sind so viele Menschen schlecht gelaunt und aggressiv, weil sie enttäuscht sind. Was früher als sichere Bank galt, ist heute längst nicht mehr so. Qualität aus deutschen Landen, das war gesetzt. Technisch ganz weit vorne, gebildet, die Wissenschaftler spitze, die Prüfstellen seriös, das alles ist weggebrochen oder doch zumindest schwer angeschlagen. Früher brachte man sein Geld zur Bank, wo es sich durch Zins vermehrte, dass man Rente bekam, die auch reichte, war fast wie ein Naturgesetz. Zur Identität gehört auch die kulturelle Identität und um diese zu wissen und sie als etwas zu sehen, mit dem man sich sehe lassen kann ist stabilisierend. Heute muss man sich in nahezu alles selbst einarbeiten, Finanzberater sind fast geächtet und überhaupt lebt man in einer derzeit ungesunden Mischung aus Wissen und Nichtwissen, die unsere Laune nicht verbessert und einige Aspekte unserer kulturellen Identität schwächt.

Das goldene Zeitalter hat es nie gegeben. Dagegen stehen die oben verlinkten Statistiken und wenn man die nicht zu Rate zieht, bleibt die Tatsache, dass die gnädige Psyche unsere Vergangenheit in den meisten Fällen verklärt. Man erinnert sich daran, wie unbeschwert und schön das damals alles war und blendet dabei die Unsicherheiten, Zweifel und Ängste aus. Die vielen Momente der Trauer und des Frustes, wenn man nicht bekam, was man genau jetzt wollte, die Ängste, wenn man Mama im Getümmel verloren hat, die Ohnmachtsgefühle, die Schulzeit, die sicher auch nicht allen als unausgesetzter Traum in Erinnerung ist, die Stunden der Langeweile, die wir heute alle nicht mehr so bewerten wenn, wir uns als fit, gesund und neugierig erleben, losgelöst von allen Pflichten, die uns heute das Leben erschweren.

Es wird aber dran geglaubt, dass es eine bessere Zeit gab – ich glaube auch, dass es eine bessere Zeit gab, vielleicht nicht zufällig fällt auch diese mit meiner Kindheit und Jugend zusammen – glaube darüber hinaus aber auch, dass es tatsächliche Unterschiede manches besser war. Dies liegt vielleicht nicht in Lebensalter, Kindersterblichkeit und Arbeitszeit, aber in der Tatsache, dass man in vielem was man machte, einen direkten Sinn sah, man wusste, wofür man morgens aufsteht und lebt. Scheidungskinder waren eine Rarität, heute vielleicht nicht der Normalfall, aber doch eine fester Teil der Normalität und man unterschätzt, wie traumatisch dies für Kinder ist.

Wir sind heute kritischer gegenüber den vermeintlichen Autoritäten eingestellt und das nicht ohne Grund. Recherchen bringen immer wieder ans Licht, dass nicht alles Gold ist was glänzt, dass so mancher schöne Schein bei Licht betrachtet keine praktischen Konsequenzen hat, dass Doppelmoral auch bei uns an der Tagesordnung ist und alle das vertieft das Misstrauen und macht viele Menschen schlecht gelaunt und aggressiv.

Es ist verlockend, aber vermutlich dennoch falsch, zu glauben, früher sei deshalb die Welt grundlegend besser gewesen. Vieles lief unterhalb unseres Radars ab, der Einfluss, den wir heute haben, ist ungleich größer. Wer will kann einen privaten Blog schreiben und ins Netz stellen, in dem er erklärt, wie die Welt seiner Meinung nach funktioniert, selbst Bücher kann man ohne größere Probleme selbst verlegen. Wir wissen eigentlich mehr als früher, aber was wir sehen, gefällt uns nicht. Korruption, Vetternwirtschaft, A sagen und B machen. Früher lief Politik geräuschloser ab, von der Arbeit der Geheimdienste bekam man nichts mit, sie wurde auch nicht öffentlich diskutiert. Aber viele Politker, die noch echte Typen waren und die wir uns heute zurückwünschten, machten auch nichts anders. Das nennen wir dann augenzwinkernd Schlitzohrigkeit oder politischen Instinkt, aber ohnehin war das alles viel schicksalhafter. Politik war etwas, was im Hintergrund ablief und auf das der Normalbürger keinen Einfluss hatte. Heute wissen wir hier mehr und haben auch mehr Einfluss, müssen uns aber auch um mehr kümmern. Politik, Rentenvorsorge, Gesundheitsvorsorge, Klimawandel, Work-Life-Balance, Fitness, Medienauswahl und Glück, für all das und viel mehr sind wir selbst verantwortlich, mindestens zum Teil.

Die Spreizung der Gesellschaft wird breiter, zwischen denen, die irgendwo auf dem Weg aussteigen und denen, die ihn bis zum Ende durchziehen und ironischerweise ist nicht einmal klar, ob die, die durchhalten und vorne mit dabei sind, wirklich jene sind, denen es besser geht.

Es macht aggressiv für blöd gehalten zu werden

Es sind sind so viele Menschen schlecht gelaunt und aggressiv, weil die nun seit etlichen Jahren aufkommenden und immer lauteren Botschaften, wie gut es uns allen geht und dass, wer das Gegenteil annimmt, unter einer Fehlwahrnehmung leidet oder auch, wenn er das nicht einsehen möchte, ein bisschen dämlich ist, einfach herablassend und beleidigend sind. So einfach ist das Thema nicht abzuhandeln, dass man vorgeschrieben bekommt, was im Leben wichtig und was weniger relevant ist, denn wenn man zufällig nicht zu den Gewinnern zählt, ist man ein zusätzlich nun auch noch selbst Schuld, hat Verständnisschwierigkeiten oder ist missgünstig.

Die Reaktion darauf ist sicher nicht Begeisterung. Abgehängt zu sein, sich so zu fühlen oder dazu erklärt zu werden, ist aber wiederum Ursache einer regressiven Bewegung, die wir ohnehin schon seit längerer Zeit erleben und deren Ursachen zumeist sehr einpolig zugeordnet werden, was wiederum selbst Ausdruck der Regression ist. Wir bräuchten Orientierung, aber die Welterklärung fehlt, die Visionen oder weniger blumig ausgedrückt, die Strategie für die nächsten Jahrzehnte fehlt und das Thema vieler Menschen ist gar nicht der Standard heute, sondern die Sorge um das Morgen. Was wird aus den Kindern, Enkeln, der Welt? Klimawandel, Artensterben, Überbevölkerung, soziale Kälte, Müllberge, Phosphatmangel, die Liste ist lang und die Probleme weitgehend ungelöst.

Ich erlebe es immer als merkwürdig, wenn in einer Bevölkerung, die aufgrund ihrer Überalterung immer mehr offene Stellen nicht besetzen kann und händeringend nach Fachkräften sucht, es als Erfolgsmeldung verkauft wird, dass die Arbeitslosenquote sinkt. Das ist nicht unser Problem und wird es die nächsten Jahrzehnte auch nicht werden. Dass wir aktuell nicht genügend Lehrer, Schulrektoren, Soldaten, Pflegekräfte, Polizisten und stellenweise sogar Ärzte und Bürgermeister haben, neben etlichen Handwerksbetrieben, die keine Nachfolger mehr finden ist allerdings etwas, was uns noch um die Ohren fliegen könnte, auch weil das dazu führt, dass die Renten demnächst knapp werden könnten, was dann gleich die nächste Zukunftssorge ist, die weder gelöst noch irrational ist.

Wer sich in etlichen Lebensbereichen an der Nase herum geführt fühlt, ist irgendwann nicht mehr bereit, sich mit seinem Land zu identifizieren. Wir haben was zu verlieren und wir sind gerade dabei uns in einem recht umfassenden Sinne dessen bewusst zu werden. Die passende Antwort wäre, dass man überhaupt eine hat und das ist derzeit noch immer nicht in Sicht. Schlimmer aber: Wer etwas zu verlieren hat, verliert Offenheit, Risikobereitschaft und Neugier, zugunsten einer Art von Konservativismus, die ängstlich und/oder aggressiv versucht zu sichern, was sie noch hat. Psychologisch relevant ist, dass die zweite Variante sich obendrein mies anfühlt. Hier spielen objektive Größen keine Rolle. Wer gerade 500.000 Euro im Lotto gewonnen hat, macht vermutlich einen Freudensprung, wer hingegen die Hälfte seines Aktienguthabens von einer Million in den Sand gesetzt hat, verfügt über die gleiche Summe, wie der Lottogewinner, die Stimmung dürfte deutlich unterschiedlich sein. Der Mangel an Antworten, Strategien und Visionen macht uns Glauben, das wir festhalten müssen, was wir noch haben, wenigstens ein Stück davon.