Es gibt zwei konträre Ansätze, ein starkes Ich betreffend. In spirituellen Traditionen wird primär die Überwindung des Ich angestrebt. In der Psychotherapie ist jedoch die Ich-Schwäche ein Zeichen einer psychischen Erkrankung und ein starkes Ich das Ziel.
Passen Psychotherapie und Spiritualität deshalb nicht zusammen? Liegt die eine Disziplin falsch, die andere richtig?
Was ein starkes Ich ausmacht
Oft wird ein starkes Ich mit einem lauten verwechselt. Selbstherrlichkeit, gefühlte Wichtigkeit bis zur Grandiosität und Arroganz oder ein ruppiges Durchsetzungsvermögen sind aber oft genug die Anzeichen einer Ich-Schwäche, die unbewusst durch ein falsches Größenselbst kompensiert wird.
Jemand, der über Leichen geht und Rücksichtslosigkeit als starken Willen verkauft, steht ebenfalls im Verdacht ein eher schwaches Ich zu haben. Auch wenn jemand sehr charismatisch oder dämonisch daherkommt, so mag er auf seine Mitmenschen beeindruckend wirken, doch oft genug ist das ebenfalls eine Kompensation gefühlter Ich-Schwäche.
Ein starkes Ich erkennt man an einem eher breiten und angemessenen Repertoire an Reaktionsmöglichkeiten. Angemessen heißt, auf der einen Seite in der Lage zu sein Kritik zu ertragen und sogar erfreut über konstruktive Kritik zu sein, doch auf der anderen in der Lage zu sein auf unangemessene Attacken zu reagieren und sich zu wehren, ohne gleich die ganze Welt sprengen zu müssen und den anderen für alle Zeiten zu verdammen.
Stark ist ein solches Ich, weil es sich nicht ständig bedroht fühlt und nicht fortwährend danach trachtet, alle und alles zu kontrollieren oder zu bekämpfen. Ein starkes Ich wird sich zudem an der Leistung anderer freuen können und ist nicht gezwungen, sie aus Neid fortwährend herunterzuspielen und zu entwerten. Dieses starke Ich ist also in aller Regel ein entspanntes und gelassenes Ich. Nicht unbedingt trantütig, denn wie man mit Welt umgeht ist eine Frage des Temperaments, aber doch mit dem Grundgefühl, dass die Welt ein Ort ist, an dem man sich geborgen fühlen kann.
Dies ist das Ich, was die Psychotherapie errichten oder stärken will und sie tut es mit Recht.
Realitätsverlust: das psychotische Ich
Kein Ich zu haben, das käme aus dieser Sicht einem psychotischen Zusammenbruch gleich. Wobei dies nicht bedeuten muss, dass kein Ich mehr spürbar ist, sondern, dass die Grenzen von Ich und Welt zusammenfallen und das kann bedeuten, dass man nur noch sich erlebt. Dass ich und die Welt oder ich und der andere eins sind.
Genau das erzählen uns aber auch die Mystiker. Sind sie alle verrückt? Entscheidender als das Erlebnis selbst ist offenbar der psychische Boden, auf den es fällt. Treffen außergewöhnliche Bewusstseinserfahrungen auf eine labile Psyche, kann das Ergebnis überwältigend sein und der Mensch hat große Probleme sich davon wieder zu erholen, eventuell kommt es zu einem psychotischen Zusammenbruch.
Doch das gleiche Erlebnis kann von einem anderen Menschen möglicherweise verarbeitet werden und als außergewöhnlich und sogar bereichernd empfunden werden.
Das Ich in der Spiritualität
Wenn nun in spirituellen Traditionen von einer Ichüberwindung oder gar vom Ichtod die Rede ist, dann sind das Erfahrungen, die durchaus real sind. Ein völliger Ichtod macht keinen Sinn, denn wie erleuchtet auch immer muss man dennoch durchs Leben navigieren können, muss wissen, in welchen Mund man das Essen stecken soll, wenn man Hunger hat und wie man von A nach B kommt.
Sehr sinnvoll ist jedoch die Forderung die Egozentrik zu überwinden und hier kriegen wir die Kurve zum Ich der Psychotherapie. Ein starkes Ich ist eines, das nicht mehr egozentrisch sein und ständig seine Bedeutung betonen oder kämpfen muss.
Die Erfahrung zu sein, aber sich nicht als Ich zu empfinden, ist möglich aber verwirrend und sollte einem stabilen Ich vorbehalten sein oder im Kontext stabilisierender Übungen stattfinden. Die Zen-Buddhisten wissen, warum zur Meditation auch Boden schrubben und einfachste, erdende Übungen gehören.
Ein starkes Ich ist also wichtig. Psychotherapie und Spiritualität passen durchaus zusammen und bilden eine durchgehende Linie, die von einem schwachen, egozentrischen Ich über ein stabiles, immer weniger egozentrisches führt und schließlich in der Überwindung des Egozentrismus mündet, die sich so ausdrückt, dass die eigenen Bedürfnisse nicht mehr an erster Stelle befriedigt werden müssen.