Die Wissenschaft und ihre Heilsversprechen

Plasmakugel

Die Wissenschaft hat viele faszinierende Gesichter. Doch nicht jeder findet in ihr Orientierung. © Mars P. under cc

So wurde dann auch der Wissenschaft, zumeist der Naturwissenschaft, mehr aufgebürdet, als sie jemals tragen konnte. Die Versorgung mit Wohlstand und Gesundheit gelang noch mit Bravour, aber die restlichen Heilsversprechen, um die sich die Religion kümmerte, lagen brach. Neuerdings, mit dem Transhumanismus, kommt das ewige Leben wieder neu ins Spiel, ins Naturwissenschaftliche gewendet und in eine unendliche Spanne qua Genregulation übersetzt. Ob dies mal gelingt, wissen wir nicht, ob das jedoch ein Versprechen oder eine Drohung ist, darüber lässt sich trefflich streiten.

Der Buddhismus sah den Ausstieg aus dem Rad der Wiedergeburten noch als große Befreiung und Erlösung an, für uns klingt das unendlich ausgeweitete Dasein im ersten Impuls verlockend. Aber, wie gesagt, dies dämmert am Horizont der Möglichkeiten. Etwas anderes klappte jedoch nicht. Die Wissenschaft kann keine Moral formulieren. Man muss kein gottgläubiger Mensch sein, um moralisch integer zu sein, soviel gilt es festzuhalten. Im Gegenteil ist es oft so, dass Religionen den Menschen auf einer soziozentrischen Stufe des Gehorsams halten, manchmal ein Stück weit in ihrer moralischen Entwicklung bremsen. Gegenüber den Brüdern und Schwestern im Geiste und Glauben ist man stets bemüht, für die anderen hat man, wenn überhaupt, allenfalls noch Almosen parat. Doch die Fairness gebietet es festzustellen, dass der religiöse Glaube ein Gesamtpaket ist und ein moralisches Motiv im Schlepptau hat.

Denn Ethik und Moral sind die Fragen nach dem Sollen. Und: Warum sollte man überhaupt? Der wissenschaftliche Glaube kann dies nicht beantworten, aller Gehversuche durch Hochrechnungen zur optimalen Strategie zum Trotz. Aber warum nicht radikal? Weg mit Religion und Moral könnte man sagen und nicht wenige meinen, dass Nietzsche genau hierfür steht. Doch ihm geht es nicht um eine simple Antithese, denn wie wir anfangs sahen, warnt er vor den Entwicklungen einer zu leichtfertigen Entsorgung, dem Wegwischen eines ganzen Horizontes.

Denn auch wenn das „Survival of the fittest“ nicht das Überleben des Stärksten, sondern Anpassungsfähigkeiten oder insgesamt Geschicktesten meint, so ist das im Grunde genau der Zustand, den wir heute oft vorfinden und der Eindruck, dass sich irgendwelche Eliten, die ohnehin schon an der Macht sind, gerade dadurch, dass sie es sind, durchsetzen, ist das, was die Bürger dieses Landes politisch abgewählt haben.

Vom Sein und vom Wissen: Was die Wissenschaft nicht erklären kann

Welt oder Natur ist das Wirken an sich blinder und im Kern am Schicksal des Einzelnen und der Menschheit uninteressierter Kräfte. Das ist die eigentlich irritierende Botschaft der Wissenschaften und des Naturalismus. ‚Entspann‘ Dich, es kommt nicht auf Dich an‘, so ist der eher positive Teil der radikalen Botschaft, doch es gibt eine dunkle Schwester dieser Nachricht, die lautet, dass der Natur die Existenz von Dir und mir und der Menschheit insgesamt im Grunde herzlich egal ist. Wobei ‚egal‘ schon wieder zu personalisiert ist, denn „die Natur“ ist gerade keine gütige Mutter, sondern ein Bündel von Prozessen und Ereignissen, die den Naturgesetzen gemäß einfach geschehen und ablaufen und ob wir da Sonstiges hineingeheimnissen oder nicht, ist nur eine belanglose Randnotiz auf irgendeinem Planeten eines durchschnittlichen Sterns, am Rande einer unter Milliarden anderen Galaxien. Wir Wesen, die auch nach dieser Lesart evolutionär bedingt nach Aufmerksamkeit, Sinn und Bedeutung gieren, werden durch sie in den Zustand absoluter Sinn- und Bedeutungslosigkeit und kosmischen Desinteresses katapultiert. Und es waren die Existentialisten, die sich das in aller Schonungslosigkeit klarmachten und dem Absurden ein trotziges Dennoch entgegenschleuderten.

Der Mainstream machte sich diese Gedanken bereits nicht mehr. Alles prima, solange man dran glaubt, auch hier. Und ebenfalls analog zu den Religionen gilt, dass die Gläubigen so lange stillhalten, wie das Ideal ihres Glaubens, im Wesentlichen: Fortschritt von Wissenschaft und Technik, sie gut versorgt. Noch die an sich banale Erfindung einer Waschmaschine bedeutete einen immensen Zugewinn an Lebensqualität. Nach anderen Produkten wie Fenster, Heizung, elektrisches Licht und Seife. Die Massenmedien wurden schon kritischer beäugt und die Ambivalenz des technischen Fortschritts trat mehr und mehr ins Bewusstsein. Heute bedeuten neue technische Errungenschaften, auch wenn sie unsere Welt verändern, man denke nur an die allgegenwärtige Onlinevernetzung, nicht mehr zwingend eine Lebenserleichterung.

Zum Verzicht auf Sinn, Moral und dem schleichenden Verlust des sedierenden Wohlgefühls kommt noch eine weitere Komponente. Die Wissenschaft kann uns mitunter die Welt nicht mehr erklären. Ihr größter Bonus gerät ins Wanken. Denkt man einige Jahrzehnte zurück, schien vieles klarer. Man ging davon aus, dass das Gehirn das Bewusstsein hervorbringt und nach wenigen Jahren ausgewachsen ist, die Eckdaten der Psyche genetisch determiniert sind. Der Gedanke des Einflusses des Gehirns auf die Psyche im Sinne einer Einbahnstraße und dass das Gehirn zu verstehen automatisch bedeutet, die Psyche zu verstehen, ist so kaum noch haltbar. Zudem ist das Gehirn in vielen Bereichen bis ins hohe Alter veränderbar und die Gene sind viel weniger festlegend, als wir dachten.

Meinte man obendrein, die Natur des Universums sei wesentlich geklärt, so finden wir auch hier heute viel mehr Rätsel und Fragen als noch vor Jahrzehnten. Dazu kommt, dass eine Konsequenz des Naturalismus, der Physikalismus, die Idee, das alles letztlich aus Materie besteht – Materie in der Form der modernen Physik, also Teilchen und energetische Prozesse –, zwar widerspruchsfrei angenommen werden kann, aber herzlich wenig erklärt. Gerade auch im Bereich von Psyche und Bewusstsein muss man, wenn man fair sein will, einerseits zugestehen, dass die Forschung großartige Erfolge erzielt hat, wenn es darum geht, psychische Merkmale auf Vorgänge im Gehirn zurückzuführen, andererseits aber ein riesiger Bereich noch nicht und vielleicht sogar prinzipiell nie erklärt werden kann.

In der Philosophie ist längst bekannt, dass die Lehre vom Sein, die Ontologie und die Lehre der Erkenntnis, Epistemologie oder Erkenntnisthorie etwas auseinandergehen und eine Aufgabe der modernen Philosophie ist es, die Erkenntnistheorie in ein monistisches Ganzes zu integrieren. Genau hier stockt der Motor und dies trifft die Wissenschaft an einer empfindlichen Stelle, denn, wir erinnern uns, ihr eigentlicher Bonus, mit dem sie in Europa die Religion vom Thron stoßen konnte, war, dass sie die Welt schlanker und besser erklären könnte und vor allem Praktiken zur Verfügung stellte, für jedermann.