Die mythischen Erzählungen in West und Ost und ihre Entzauberung

Rituale verbinden, überall auf der Welt © Not So Dusty under cc
Es ist etwas geschehen in der europäischen Geschichte, was wir verstehen müssen. Europa kommt aus einem mythisch-religiösen Zeitalter. Über das Ende dieses Zeitalters existieren fast schon eigene Mythen, nur zunehmend ohne Riten, das wird noch wichtig sein.
Der Mythos der Entzauberung setzte vermutlich irgendwann mit der Industrialisierung Europas ein. Industrialisierung, Elektrifizierung und die Erschließung neuer Transportsysteme, vor allem der Eisenbahn versetzte die Menschen in die Lage sich selbst zu versorgen, länger zu arbeiten und von den Mächten des Schicksals unabhängig zu werden. Die Gedanken der Aufklärung trugen ihren Teil dazu bei und die Erzählung dieser Zeit wird heute bei uns in der Regel als Befreiung gedeutet. Endlich frei von religiöser Denkbeschränkung, befreit zur Aufklärung, Selbstbestimmtheit und dem Mut selbst zu denken.
1917 gebrauchte Max Weber erstmalig den Begriff der Entzauberung, den Gedanken findet man 1788 schon bei Schiller und auch Nietzsche spricht vom Tod Gottes. Was nicht erzählt wird, ist, dass Weber diese Entzauberung nicht feiert, sondern bedauert, als einen Mangel erkennt. Nietzsche ist sich noch der Ungeheuerlichkeit des (zu frühen) Aktes bewusst, mit dem man Gott getötet hat. Horkheimer und Adorno werden die Entmythologisierung kritisch sehen und auf seine Art auch Heidegger.
1933 übernehmen die Nazis die Regierung, sie haben wieder Mythen und Riten im Gepäck, nach dem Desaster wächst die Skepsis gegenüber denselben. Die neuen Mythen kommen diskreter daher, Wirtschaftswunder und Erfolge im Sport. Demokratie und Freiheit sind die neuen Schlagworte, doch die treibende Kraft hinter dem unausgesprochenen neuen Mythos ist der Begriff Fortschritt. Fortschritt auf allen Ebenen, allen voran durch Wissenschaft und Technik, doch auf der Ebene von Wirtschaft, sozialem Fortschritt und Freiheit. Der Fortschrittsoptimismus hatte in den 1970ern eine ungeheure Wucht und war eine innere Gewissheit: Egal wie es mir geht, meine Kinder sollen es besser haben und sie werden es besser haben. Bildung war super, doch schon Fleiß sollte ausreichen, dass man es vielleicht nicht vom Tellerwäscher zum Millionär schaffen würde, aber immerhin zu einem guten Leben, in Sicherheit und mit einem gewissen Wohlstand, auf den man stolz sein durfte. Die Riten waren, zu tun, was alle tun, dann hatte man es geschafft. Urlaub an der Adria, eigenes Familienauto, im guten Fall ein eigenes Haus.
In Russland kam es 1917 zur Machtübernahme der Bolschewiki unter Lenin, in der Oktoberrevolution. Aus dem Zarenreich Russland wurde die Sowjetunion, die sich Ende 1991 auflöste. Putin hat mit der kommunistischen Idee nichts mehr am Hut, aber sieht den Zerfall der Sowjetunion als geopolitische Katastrophe an, er trachtet Einflusssphäre Russlands wieder zu vergrößern. Er greift dabei auf den Mythos der Rus, Ideen des Philosophen Iwan Iljin und Alexander Dugin zurück und auch die russisch-orthodoxe Kirche wird zurück ins Boot geholt.
Die Stärke von Mythos und Ritus sind Sinnangebote und die Stiftung von Einheit mit der Gemeinschaft, mit der Möglichkeit im Ritus immer wieder mit der Masse zu verschmelzen, den Mythos neu zu betonen.
Im Westen Deutschlands kam es nach 1970 zu einer neuen Entwicklung. Der Fortschrittsmythos erlebte seinen Höhepunkt und damit auch Niedergang. In der Folge war man nicht mehr wer, wenn man tat und hatte, was alle taten und hatten, sondern, wenn man anders war, einzigartig. Auch wenn man elitäre und einzigartige Erlebnisse hatte, von denen gesagt wird, sie seien unwiederbringlich weg, aber Teil meiner Geschichte. Der Individualismus verbindet immer weniger in der postkonventionellen Weise, er vereinzelt. Die Zeiten werden regressiver und narzisstischer. Auch die den Mythos erneuernde Riten fallen so flach. Kurz und gut: Uns im Westen verbindet immer weniger. Hier gilt: Du bist ein toller Mensch, weil du anders bist als alle. In Russland und weiten Teilen des Ostens: Du bist ein toller Mensch, weil du immer ein Teil von uns bist.
Sichtweise gegen Sichtweise: Welche ist besser?
Viele Interpretationen ordnen die Abfolge der Weltbilder hierarchisch ein. Das heißt, sie folgen nicht nur zeitlich aufeinander, sondern die späteren sind auch die besseren, komplexeren. Eine andere Sicht sieht in anderen Weltbildern einfach bestimmte Arten der Anpassung oder Entwicklung, ohne qualitativen Aspekt. Selbst wenn man ein hierarchisches Modell bevorzugt, muss man sehen, dass alle Weltbilder, auch heute und für uns noch, ihre starken und schwachen Seiten haben. Das alte Problem ist, dass man gerne die eigenen Stärken mit den Schwächen des anderen vergleicht, nur dann sieht alles sehr eindeutig aus.
Die Stärke des mythischen Weltbildes ist Sinn und Orientierung zu geben, ein Gemeinschaftsgefühl zu evozieren, mit einer klaren Position in dieser Gemeinschaft – sie braucht mich, auch wenn ich nur eine Zelle bin – und das ist nicht wenig, vor allem in unserer Zeit. Der Nachteil ist, dass man nicht unterstützt wird, wenn man aus dem Deutungsrahmen ausbricht und die Prämissen des Interpretationsrahmens infrage stellt. Selbstverständlich gibt es in Russland auch andere Interpretationsmuster, aber in Zuge der Regression durch den Krieg wird dieses dominieren und eine neomythische Sicht wird auch von der dortigen Machtelite gefördert.
Das Weltbild des Westens gibt es nicht, es ist ausgebreiteter. Ein schwacher Anteil ist mythisch, sehr sind vermutlich mythisch-rational, einige wissenschaftlich-rational und einige pluralistisch. Das mythisch-rationale Weltbild ist im Grunde ein Mythos, der die eigenen Wurzeln in einer Überzeugung leugnet. Das wissenschaftlich-rationale Weltbild ist flexibel, anpassungsfähig, selbstoptimierend und funktionalistisch, das ist eine starke Seite. Gleichzeitig ist es so funktionalistisch, dass Menschen nur noch zum Erhalt der diversen Funktionen herhalten müssen, die Fragen nach Sinn und Erfüllung in dem was wir tun, stellen sich nicht. Es wird gebraucht, wer und was gebraucht wird, bis man unbrauchbar ist und das heißt dann oft sinnlos, wertlos. Der pluralistische Ansatz will das durchbrechen und auch jenen einen Platz, eine Stimme, Respekt und Würde geben, die man bislang als eher unbrauchbar an den Rand drängte und auch für die, die noch gebraucht werden, eine Position oberhalb des Funktionalismus finden. Dieses empfindsame Selbst ist großartig, wirft jedoch den langen Schatten einer vorgeblichen Toleranz, die im Kern uninteressiert an allen ist und nicht selten einem oberflächlichen Narzissmus huldigt. Das ist die auf den ersten Blick nette Version des Hyperindividualismus, es sind Menschen, die heile Welt spielen wollen, allerdings im Sog einer unerkannten Massenregression. Diese Vielfalt mit ihren jeweils starken und schwachen Seiten finden wir bei uns, in einem weitgehend zerteilten Westen.
Wir haben im Westen also gewissermaßen einen kollektiven Sinn– oder Mythenverlust, bezogen auf die Mehrheit, durch den Zerfall in eine Vielzahl kleinerer Einzelerzählungen, die kleinere Gruppen zusammenhalten. Also einerseits ein großes Angebot an Erzählungen und Mythen, jeder der sucht, findet eine Nische, andererseits einen Mangel an einer für die große Mehrzahl verbindlichen und diese verbindenden Erzählung.
Sind Erzählungen denn wirklich so wichtig?
Das ist eine bedeutsame Frage, weil manche der Ansicht sind, Erzählungen seien so ein wenig das Sahnehäubchen. Nett, wenn vorhanden, aber was wir wirklich brauchen sind doch eher die Basics: Nahrung, Wohnung, Bildung und ein gewisses Einkommen, der Rest läuft dann schon. Aber auch das ist eine Erzählung.
Man wird behaupten, dass es das nicht sei, weil man sieht, wie schlecht es dort läuft, wo eines dieser Elemente fehlt. Auf der anderen Seite haben wir in Deutschland die Gegenbewegung erlebt. Die Regression entstand inmitten von Bildung und Wohlstand. Sie hat eine Vielzahl von Gründen, einer wird sein, dass der stille und tragende Fortschrittsmythos, so diskret und verlässlich er den Rahmen bildete (die nächste Generation würde es besser haben), langsam zerbrach.
Man bekommt das nicht direkt mit, so wie man in der Sonne auch nicht bemerkt, dass sich die Haut bräunt, aber irgendwann bemerkt man die Veränderung, auch die, dass der gesellschaftliche Kitt verloren gegangen ist. Wir erinnern uns an Webers Begriff von der Entzauberung der Welt.
Der Wikipedia Artikel zur Entzauberung der Welt führt es treffend aus:
„Die Entzauberung der Welt trägt dazu bei, dass metaphysische oder Sinnbedürfnisse in der Moderne unbefriedigt bleiben. Daher wird seit den 1980er Jahren eine Wiederverzauberung der Welt konstatiert, ein neu erwachtes Interesse an Transzendenz und Spiritualität, das sich zumeist außerhalb der etablierten Kirchen eklektisch im New Age auslebt. Der amerikanische Kulturkritiker Morris Berman erkannte 1981 ein „Ende des Newtonschen Zeitalters“. Der niederländische Medienwissenschaftler Stef Aupers zieht diesen Prozess zur Erklärung der Zunahme von Verschwörungstheorien in den letzten Jahrzehnten heran: Der verbreitete „Wille zu glauben“ („I want to believe“ – Akte X – Die unheimlichen Fälle des FBI) finde in ihnen einen Kompromiss zwischen Wissenschaftlichkeit und Sinngebung, insofern Verschwörungstheorien zumeist scheinbar faktengesättigt und wissenschaftsförmig daherkommen, damit aber ein Geheimnis hinter oder unter der empirischen Oberfläche der modernen Welt aufzudecken meinen, nämlich die Verschwörung, die die vermeintlich wahre Bedeutung der bei oberflächlicher Betrachtung sinnlosen Phänomene liefert.“[1]
Heute finden wir inmitten dieser verwirrenden Melange vor. Theorien zur Geheimpolitik, zu diesen oder jenen Eliten, zur gesunden Ernährung, zur Selbstoptimierung, zu sich außerhalb verstehenden politischen Richtungen und ihren Querverbindungen, zur Esoterik, zum gesunden und erfüllten naturnahen Leben, zur Errettung der Welt durch den Transhumanismus, das Gendern oder den Klimaaktivismus, was immer man im Einzelfall davon hält: All diese Strömungen haben ihre große Geschichte, ihren Mythos im Rucksack, der das Leben des Einzelnen mit dem versorgt, was heute so oft fehlt: Sinn und Orientierung. Psychologisch hat der Mangel derselben seine Namen: Angst und Depression. Die aktuell häufigsten Störungen bei uns.
Vor Jahren schon hat mich interessiert, was Fundamentalismus und Extremismus eigentlich so interessant machen. Wir müssen uns klar werden, was der Verlust von Sinn und Orientierung wirklich bedeutet. Das ist nicht so ein ’nice to have‘, sondern stellt Fundamente unserer Psyche da. Wir sind es im Zuge des seit 250 Jahren immer stärker um sich greifenden Funktionalismus gewohnt, auch unser Inneres überwiegend aufgrund von äußeren Ursachen zu erklären. Selbst die Psychologie regrediert gefährlich in Richtung äußerer Umprogrammierungen, durch die kognitive Verhaltenstherapie, einer Reduzierung von Psyche auf Hirnfunktionen (trotz ihres hartnäckigen Misslingens) und einer immer weiter um sich greifenden Psychopharmakologie, das alles ist schnell und billig, Risiken und Nebenwirkungen werden nicht erkannt, weil man das Innen vergessen hat und schon aus Gewohnheit nicht mehr wichtig nimmt.
Der Fundamentalismus liefert den Mythos. Im buchstäblichen Sinne von jetzt auf gleich, wird ein Mensch, der in unserer Gesellschaft an den Rand gedrängt wurde, mit einer Geschichte versorgt, die ihn ins Zentrum stellt. Übliche Lesart: Nicht du bist der Versager, die Gesellschaft ist es. Dort läuft was schief, nicht bei dir. Endlich bist du erwacht und hast zu uns gefunden Bruder/Schwester. Da geht man innerlich auf, wie ein Hefeteig, es ist wirklich das was so lange, manchmal das ganze Leben, fehlte. Mit einem mal hat mein Leben Sinn.