Verschmelzungen: Das große unterschätzte Phänomen

Naturerlebnisse haben oft etwas Atemberaubendes © Mohamed Amine ABASSI under cc
Der Extremismus geht noch einen Schritt weiter und es ist gut, wenn ihn immer mehr Menschen verstehen. Eine Erzählung geliefert zu bekommen, die mich vom Rand ins Zentrum rückt, das ist immens viel wert, aber Extremisten sind bereit ihr Leben zu opfern, der Möglichkeit der bürgerlichen Existenz eine radikale Absage zu erteilen und sich auf völlig neue, mitunter gefährliche Lebensformen einzulassen. Sicher werden sie auch verführt, in Situationen gebracht, in denen sie vielleicht ein Verbrechen begehen müssen, so dass ihnen der Ausstieg erschwert wird. Aber viele nehmen geduldig Wartezeiten und Proben aller Art in Kauf, um dabei sein zu dürfen. Was finden sie dort?
Es ist nicht nur die Geschichte der Aufwertung des eigenen Ichs, weil man nun endlich zur Gruppe der in irgendeinem Sinne Auserwählten gefunden hat. Es ist das Gefühl der Verschmelzung, des Aufgehens in dieser Gemeinschaft und eine dies initiierende Praxis, ein Ritus: ein Aufnahmeritual, ein Initiationsritus. In der Folge Erlebnisse, die dieses Ereignis immer wieder aufladen. Gemeinschaften, bei denen man einfach so Mitglied werden kann, sind nicht so beliebt, wie jene, deren Mitgliedschaft man sich verdienen muss, die ein Hauch des Elitären umweht.
Verschmelzungen kann man auf verschiedenen Wegen erleben. Durch gemeinsame Tätigkeit, etwa in einem Chor oder gemeinsamem Tanz. Als Fan, bei einem Konzert oder großen Sportereignis. Bei den Ritualen einer religiösen oder spirituellen Gemeinschaft. Durch den Konsum bestimmter Drogen. Beim Sex. Bei Nahtoderfahrungen. Bei überwältigenden Ereignissen, seien sie beglückend oder traumatisch, etwa durch Kunst oder Naturphänomene. In der Meditation oder beim holotropen Atmen. Als Schicksalsgemeinschaft. Durch gemeinsame Hilfsleistungen als Rettungssanitäter oder im OP Saal. Manchmal ganz spontan, ohne erkennbaren äußeren Anlass.
Dazu Jürgen Habermas:
„In anderer Hinsicht besteht freilich zwischen dem sakralen Komplex und den daraus hervorgegangenen modernen Künsten eine Verwandtschaft, die beide Kommunikationsformen wiederum von der kommunikativen Alltagspraxis unterscheidet. Ich meine das Moment des „Außeralltäglichen“. Diese Verwandtschaft mag unter anderem erklären, warum alle Religionen eine enge Verbindung mit künstlerischen Ausdrucksformen der Musik, der Literatur und der bildenden Kunst eingegangen sind. Diese Symbiose kann auch noch die Kunst dazu verführen, sich religiöser Motive zu bedienen. Das zu Meditation oder Gebet einladende Kissen im Oktagon von Mark Rothkos Kapelle in Houston zeigt, dass nicht einmal moderne Baukunst und abstrakte Malerei vor kultischen Assoziationen zurückschrecken. „Außeralltäglichkeit“ hat natürlich zunächst den trivialen Sinn, dass sakrale Vorgänge und Objekte aus den durchsichtigen Funktionszusammenhängen sozialer Interaktionen ausgeklinkt sind. Sakrale Gegenstände und Praktiken sind aus dem Weltumgang, dessen Sinn sich aus den Interessen und Absichten der beteiligten Akteure, wenigstens aus den gesellschaftlichen Funktionen ihrer eingewöhnten Alltagspraktiken ohne Weiteres erschließt, herausgehoben. Sie verschließen sich gewissermaßen in sich selbst. Diesen virtuellen Charakter teilen sie mit dem ästhetischen Schein der autonomen Kunst. Merkwürdigerweise provoziert jedoch die Weltabgewandtheit ritueller Handlungen den anthropologischen Beobachter zur Zuschreibung latenter Funktionen, die einen fehlenden Weltbezug substituieren sollen, während der fehlenden Weltbezug für die selbstreferentielle Abschließung von abstrakten Gemälden, Konzertaufführungen oder Skulpturen auch dann, wenn deren enigmatischer Inhalt Interpretationsbedarf hinterlässt, als Eigenart einer ästhetisch erzeugten fiktiven Welt begriffen und als solcher respektiert wird. Zweifellos haben die Riten in einfachen Gesellschaften eine Fülle von Funktionen übernommen. Auch diese Funktion können sie jedoch nur aufgrund einer Bedetung erfüllen, die der ästhetische Kode als solcher besitzt. Es ist wesentlich der fehlende oder unterbrochene Bezug zum innerweltichen Geschehen, der das Sakrale nicht weniger als das moderne Kunstwerk (die moderne Kunst und die nachklassische Musik sogar in ausgezeichneter Weise) von profanen Äußerungen abhebt.
In Ansehung der Kunst fragen wir nicht nach ihrer Funktion, sondern nach ihrem Sinn, weil wir davon ausgehen, dass die kommunizierte Erfahrung als solche relevant ist und keiner Rechtfertigung aus einem praktischen Wozu bedarf.“[2]
Das Außeralltägliche ist eine eigene Welt, die aus sich selbst heraus Sinn generiert. Beim oft auf reinen Funktionalismus reduzierten Alltag darf man fragen, ob und wo er das noch leistet, die Flucht auf immer mehr, aber fragmentierte und auseinanderdriftende Inseln des Sinns scheint die Abstimmung mit den Füßen zu sein.
Menschen nehmen viel in Kauf, um das Außeralltägliche immer wieder zu erleben, es ist das, was uns den Alltag durchstehen lässt. Die ehedem gemeinschaftlichen Praktiken des Außeralltäglichen, bis zur religiösen Praxis wurden privatisiert, auch weil ihre Bedeutung verkannt wird.
Gemeinsame Auswege?
Russland bleibt vorerst bei seinem, aus unserer Sicht regressiven Mythos, der nach innen verbinden soll. Das kann klappen und scheitern, in jedem Fall ist es gefährlich. Wieder Habermas:
„Weltbilder sind, weil sie nur so lange „bestehen“, wie sie geglaubt werden, also die Angehörigen überzeugen können, für „Wahrheitsfragen“ empfindlich. Sie können durch Zuwachs an Weltwissen erschüttert werden. Insofern ist die Vernunft auch schon in der Mythenbildung am Werk. Mythen sind Stabilisatoren der Gesellschaft und gleichzeitig destabilisierende Einfallstore für dissonantes Erfahrungswissen.“[3]
Russlands Haltung kann den Westen teilen, aber auch zusammen schweißen, auch hier verbindet der gemeinsame Feind, wenn er sich nachhaltig als solcher positioniert. Wie werden wir wieder zusammen finden, nach einem Waffenstillstand, nach einem Frieden?
Wir werden getrennt sein und einander misstrauen. Die Kräfteverhätnisse auf der Erde ändern sich, nach 500 Jahren Dominanz des weißen Mannes geht diese Ära zu Ende. Der Fall des Westens mag noch herausgezögert werden, dass Russland sich traut ihn militärisch herauszufordern ist neu, aber vielleicht ist auch nur neu, dass der Westen dieses mal, geschlossener als vermutet reagiert. Chinas Wirtschaft, die Jahr um Jahr zweistellige Wachstumsraten hatte, ist ins Stocken geraten. Es heißt Russland könne warten, dann heißt es, China könne warten, mal heißt es beide bildeten eine Koalition gegen den Westen, mal spielen beide alleine, mit Russland als Juniorpartner. Aber China ist angewiesen auf den Handel mit Europa und wenn Europa in den Krieg investieren muss, fällt dass China auf die Füße. Auch die USA können warten. Russland schwächt sich, mit jedem Monat mehr, alles was in die Kriegswirtschaft fließt, fehlt an Geld, Technik und Manpower an anderer Stelle, die jungen und intelligenten Kräfte verlassen das Land. Der Rest ist noch unbekannt.
Gibt es gemeinsame Auswege, an dessen Ende ein wirklicher Frieden stehen könnte?
Wir hätten verschiedene Zutaten:
Die Stärke der verbindenden mythischen Erzählung muss nicht gegen die Bedeutung des Individuums ausgespielt werden, wie die Geschichte des Christentums zeigt. Hier muss der Westen seine eigenen Ressentiments reflektieren. Die Bedeutung des Individuums wurde dann in der Aufklärung noch einmal geschärft, aber dann leider auch im Westen schnell wieder vergessen. Sich dem Funktionalismus unterzuordnen zu müssen, ist wenig besser, als eine Zelle im Organismus zu sein. Wenn der Westen sich wieder an seine eigenen weltanschaulichen Stärken erinnert und den Osten einlädt, diese nachschärfende Reflexion zu begleiten, ist viel gewonnen, einen reifen Individualismus formuliert zu haben, ist das große Geschenk des Westens an die Welt.
Es klingt banal und abgedroschen, aber auch dieser Krieg wird nur Verlierer kennen. Krieg lohnt nicht mehr, in einer Welt, die immer mehr zusammenwächst. Im Hinblick auf den Klimawandel, Müll, Artensterben, Ressourcenschwund, Überalterung, Antibiotikaresistenzen, Seuchen und weitere Plagen, die uns tendenziell nicht mehr einzeln und alle paar Jahre, sondern parallel begleiten werden.
Mythen verbinden Ost und West, schon in dem Sinne, dass beide welche kennen. Es muss aber nicht den zu plakativen einen weltweiten Mythos geben, an den alle in gleicher Weise denken. Die Stärke von uns Menschen scheint schon immer unsere Bandbreite gewesen zu sein, die Vielzahl der Rollen, die wir kreieren. Wir können in der eher abstrakten Idee verbunden sein, die Probleme der Menschheit gemeinsam zu lösen und jede Region der Welt kann dabei ihre Stärken, ihre Identität und regionale Eigenart behalten.
Wenn wir wirklich verstehen – und unsere eigene Geschichte der letzten Jahrzehnte kann uns oder Jahrhunderte kann uns das lehren – dass Sinn und Orientierung mehr sind als eine nette, aber im Grunde verzichtbare Beigabe des Lebens und dass die Sehnsucht nach ihnen so groß ist, dass man sich noch an die fragwürdigsten Erzählungen klammert und wenn wir darüber hinaus verstehen, wie wichtig eine Praxis der Verschmelzung ist, oder am besten mehrere, dann ist viel gewonnen. Die spirituellen Praktiken des Ostens sind die besten Wege zur Verschmelzung und das große Geschenk des Ostens an die Menschheit.
Es ist wichtig zu verstehen, dass Sinn, Orientierung und Verschmelzung nicht gegen Bildung, Nahrung und Wohnung ausgespielt werden muss. Wie könnte wirklicher Frieden gelingen? Durch eine verstehende und behutsame Kombination dieser Elemente.
Quellen:
- [1] https://de.wikipedia.org/wiki/Entzauberung_der_Welt
- [2] Jürgen Habermas, Auch eine Geschichte der Philosophie: Band 1: Die okzidentale Konstellation von Glauben und Wissen, Suhrkamp 2019, S. 224f
- [3] Jürgen Habermas, Auch eine Geschichte der Philosophie: Band 1: Die okzidentale Konstellation von Glauben und Wissen, Suhrkamp 2019, S. 142