Deckengemälde, Öffnung vor Wolkenhimmel mit Engeln und Tieren

Wir können sehen, wo wir hin wollen, sind aber noch nicht dort © Sztuka24h under cc

Nach einem Waffenstillstand im Krieg Russlands gegen die Ukraine ist irgendwann eine echte Annäherung, ein wirklicher Frieden notwendig.

Viele fragen sich, wie ein solcher wirklicher Frieden aussehen kann. Ich mich auch. Die Gesichtswahrung beider Seiten wird dabei betont. In der gegenwärtigen Situation ist das verfahren, hängt vom Verhandlungsgeschick der Diplomaten ab und ist klarer Weise ein machtpolitisches Tauziehen, von dem niemand weiß, wie es ausgeht. Diesen Strang will ich nicht weiter verfolgen, weil ich es nicht sagen kann, mich interessiert die Zeit danach.

Die wechselseitigen Vorwürfe

Gegenwärtig ist unklar, wofür der Westen steht, da er gespalten und in einer Phase der Transformation ist. Es ist selbst im Westen, der gerne Einigkeit und ein gleiches Wertefundament betont, nicht so, dass er homogen ist, es könnte sich jedoch am Ende als seine Stärke erweisen, dass er es nicht ist.

Denn das was wie Zerrissenheit aussehen kann und es auch manchmal ist, ist gleichzeitig ein Aufbruch in den Pluralismus mit der Vielfalt seiner Perspektiven. Aber nicht jeder im Westen ist Pluralist, nicht jeder möchte es sein und so ringen die Positionen miteinander. Der Pluralismus hat großartige und unschöne Seiten.

Die unschönen sind, den Pluralismus allen Menschen aufzudrängen und dagegen rebellieren gerade viele in Europa und auch in Deutschland, mal mit besseren, mal mit schlechteren Argumenten. Der andere Punkt ist ein Werte- und Wahrheitsrelativismus, der suggerieren möchte, dass irgendwie jeder Recht hat und wenn man das nicht empfindet, hat man sich einfach nicht genug Mühe gegeben, sie oder ihn zu verstehen. Da ist schon was dran, aber die Frage muss erlaubt sein, ob der oder die andere sich ebensolche Mühe mit dem tiefen Verständnis unserer Position gibt. Die Frage von Symmetrie und Wechselseitigkeit.

Die schöne und starke Seite des Pluralismus ist, die Breite der Perspektiven und die Möglichkeit eine nahezu endlose Zahl neuer, kreativer Ansätze zur Verfügung zu haben, die daraus resultieren können, sowie eine Sensibilität für marginalisierte Stimmen und Gruppen zu besitzen.

Die russische Machtelite kritisiert diese Heterogenität oder Uneinigkeit des Westens, sieht diese als Schwäche an und versucht daher den Westen immer mehr zu spalten. Dabei geht es gar nicht unbedingt darum möglichst viele von der Perspektive Russlands zu überzeugen, es reicht die Spaltung zu vertiefen. Ob dies gelingt, bleibt offen.

Ansonsten wirft man dem Westen eine Mischung aus Aggression und Perversion vor. Es sei von Frieden die Rede, in Wirklichkeit sei man aber an knallharter Machtpolitik interessiert, die man nett mit der Rede von Werten und Rechten ummantelt und immer dann kurz vergisst, wenn es um eine Ausdehnung der Einflusssphäre in militärischer wirtschaftlicher Hinsicht geht. Im Grunde der Vorwurf der Doppelmoral und Lüge. Eine Lüge sei auch die repräsentative Demokratie. Pervers sei der Westen, weil es keine klare Zuordnung der Geschlechter mehr gibt, man offen gegenüber vielen Formen der Sexualität ist und verweichlicht sei.

Russland wird vom Westen ein Rückfall ins 19. Jahrhundert vorgeworfen, mit imperialistischen, homophoben und faschistischen Tendenzen. Eine autoritäre Clique regiert das Land und kontrolliert die Medien, der einzelne Bürger spielt keine Rolle und hat sich im Zweifel dem Staat, der als großer Organismus gesehen wird, unterzuordnen. Der einzelne Mensch ist eine Zelle im Organismus. Es ist unklar, ob diese Sicht eine authentisch religiöse Sicht ist oder religiöse Einstellungen instrumentalisiert, es ist auch denkbar, dass beide Positionen oszillieren und einander ergänzen.

Auch Russland wird vorgeworfen zu lügen, es könnte sein, dass die in der Machtelite die Einstellung herrscht, gelogen werde ohnehin überall, alles sei letztlich eine Machtfrage und so tue man einfach, was überall gemacht wird, nur versucht man das nicht zu übertünchen.

Der westliche und östliche Sichtweise

Der Kern der Differenz zwischen ‚dem Westen‘ und ‚dem Osten‘, auch über Russland hinaus, ist die Bedeutung des Individuums. Die westliche Wertehemisphäre betont den Wert des Individuums, zur Not auch gegen den Staat, während in Russland gerade die Idee vorherrscht, das Individuum habe sich zu fügen, für den Staat. Auch andere Teile der Welt sind oft kollektivistisch eingestellt, das heißt, das Wohl der Gemeinschaft, Gesellschaft oder des Staates rangiert über dem Wohl des Einzelnen.

Problematisch ist nun, dass im zunehmend säkular werdenden Westen die Einstellung vorherrscht, die Geistesgeschichte habe gegen die Kirche die Position des Individuums gestärkt, während Larry Siedentop beschreibt, wie gerade das Christentum in einem Jahrhunderte währenden zähen Ringen die extrem schroffe Asymmetrie zwischen Herrschenden und Beherrschten aufbricht, bis zu der Unverfrorenheit der Behauptung, vor Gott seien alle gleich, auch die Herrscher.

Aber auch wenn man damit weniger anfangen kann ist die europäische Geistesgeschichte vom Einfluss der religiösen Denker nicht zu trennen, wie unlängst Habermas in seinem monumentalen Auch eine Geschichte der Philosophie ausführte. Das könnte insofern wichtig sein, als die Religion mehr verbindend als trennend sein dürfte, auch wenn sie vielleicht im ersten Impuls als trennend erlebt wird.

Der westliche Individualismus und der östliche Kollektivismus scheinen einander kategorisch auszuschließen, aber der Individualismus der uns gerade selbst entgleitet – vielleicht hat Russland in der Kritik sogar einen Punkt, aber nicht die passende Kur – muss ja kein narzisstischer, präkonventioneller Trotz sein, er kann auch ein postkonventionelles Abwägen sein, das versucht für Gesellschaft und Individuum das Optimum zu finden, klappt aber schon bei uns in der Breite nicht so überragend.

Es ist wichtig den Unterschied zu erkennen. Lawrence Kohlberg beschreibt die Stufen der Moralentwicklung und dabei eine präkonventionelle Ebene, die nahezu alle Regeln als persönliche Beleidigung auffasst und aus Prinzip dagegen rebelliert. Darüber existiert eine konventionelle Ebene, auf der man sich mit den Regeln und Werten der Gemeinschaft identifiziert und versucht sich an die Vorgaben der Herrschenden zu halten, weil man meint sie wüssten, was gut und richtig ist, entweder weil sie brillant sind, wohlmeinend oder in Kontakt mit einer höheren (meist religiösen) Autorität. Über dieser Ebene gibt es die postkonventionelle Moral, die die Prinzipien der Gesellschaft weitgehend teilt, aber in begründeten Ausnahmen, die oft aus ethischen Prinzipien abgeleitet werden, sich auch über die Regeln hinwegsetzen kann, aus guten Gründen, die man formulieren kann und zu rechtfertigen gewillt ist.

Russland verfolgt eine mythische Sichtweise mit religiöser und nationalistischer Färbung. Das Narrativ ist das eines von allen Seiten bedrohten Landes, das den Auftrag hat das Gute und Reine gegen die Aggressoren zu verteidigen. Die Presse ist staatlich weitgehend kontrolliert, nach innen soll das Bild eines sich kümmernden Elite mit einem noch einmal herausgehobenen Herrscher und relative Ruhe vermittelt werden. Alles läuft nach Plan, so die Botschaft. Dass dieser Plan nebulös ist, ist dabei kein Nachteil, gerade so kann suggeriert werden, man wisse immer eine Antwort.

Treten doch interne Probleme auf, kann man das auf den äußeren Feind schieben, auch in Russland rückt man enger zusammen. Ein großer Teil der Bevölkerung ist mit dem Krieg einverstanden, auch wenn das Ergebnis von Umfragen auf Desinformation und staatlicher/sozialer Erwünschtheit und einem nicht so genau sehen wollen beruht, werden die Umfragen halbwegs realistisch sein. Jene, die es genauer sehen wollen, verlassen mitunter das Land.

Die Stärke der mythischen Sicht ist der ungeheure Zusammenhalt, den sie auslösen kann, wenn das Narrativ gut gewählt ist. Innere Probleme werden auf den Feind projiziert, Druck von Außen schließt die Reihen, wenn es allerdings nicht läuft und das Vertrauen ist die Machtelite schrumpft, wird das Narrativ wackelig und innere Zweifel und Spannungen können wachsen. Kritik von innen muss also kontrolliert werden.