Uaaahhhh… © Stefan Rheone under cc

Sind Sie eher unsicher und ängstlich oder selbstbewusst und mutig?

Egal, wo Sie sich einordnen, Sie werden vermutlich Menschen kennen, die auch an den Enden des Kontinuums beheimatet sind. Einige, die irgendwie superängstlich sind oder von denen Sie sogar wissen, dass sie unter einer Angststörung leiden. Und auch die anderen, deren Mut oder Tollkühnheit Sie bewundern. Stuntmen, Artisten, Höhlenforscher, Bombenentschärfer oder vielleicht neuerdings Intensivpflegerinnen?

Vielleicht Menschen, die öffentliche Reden halten oder sich trauen ‚Nein‘ zu sagen? Auch zum Chef und zur Mutter? Wir sehen hier schon, dass Angstfreiheit nicht unbedingt heißen muss, auf zwei Rädern mit dem Auto zu fahren oder beim Sondereinsatzkommando zu sein.

Angst: Biologisch sinnvoll, persönlich unangenehm

Angstpatienten bekommen, wenn Sie sich therapieren lassen, häufig eine biologische Einordnung präsentiert. Dass die Angst evolutionär sinnvoll sei. Denn ohne Angst, ist man schneller tot, als man denkt. Wer in grauer Vorzeit das Rascheln im Gebüsch nicht ernst nahm, hatte später keine Möglichkeit mehr sich fortzupflanzen, wenn das Rascheln eben doch dieser oder jener Feind war.

Aber was hilft einem das, wenn man Angst hat in den Fahrstuhl einzusteigen? Es ist halt blöd, wenn man etwas nicht kann, was anderen leicht fällt und da man sich gerne vergleicht, fühlt man sich da vielleicht etwas minderwertig. Warum kann ich das eigentlich nicht? Manche denken drüber nach, andere nicht. Für die zweite Gruppe ist das einfach so, dass sie die Treppe nehmen. Vielleicht ist die Ursachenforschung da gar nicht immer besser. Dann benutzt man eben die Treppe, fertig.

Wer grübelt und zweifelt kommt eventuell sogar in die Nähe der Depression, die häufig mit Angst und Unsicherheit zusammen auftritt. Was nützt es mir also zu wissen, dass die Angst von evolutionären Nutzen ist? Der Säbelzahntiger lauert heute nicht mehr hinterm Baum und überhaupt ist es recht sicher geworden, in unseren Breitengraden. Wir geraten in Sorge, wenn der nächste Defibrillator zu weit entfernt ist oder die Polizei zu lange braucht.

Eigentlich kann uns heute nicht mehr viel passieren, aber seltsamerweise nehmen Ängste nicht ab, sondern immer mehr zu. An Angst kann man nicht sterben. Auch so eine Weisheit, die der angehende Angstpatient lernt. So lernen es Therapeutinnen ja oft selbst. Hat man das Pech von einem Fall zu lesen, bei dem jemand doch an Angst gestorben ist, hat man mit der Therapeutin im weniger guten Fall Streit, der auf Kosten des Vertrauens gehen kann. Mir hat das nie so gut gefallen, auch wenn es ein wohlmeinender, aber durchsichtiger Versuch ist, den Angstpatienten in Sicherheit zu wiegen. Ihm ein Fundament zu geben, damit dieser wieder einen etwas festeren Boden unter den Füßen hat, wenn er von der Angst schlimmer erwischt wurde.

Ob Angst, Broken Heart oder psychogener Tod, sowas gibt es. Es ist keine Hilfe für einen Herzneurotiker, wenn er hört, dass jemand, der an Angst stirbt, dann aber bestimmt einen unentdeckten Herzfehler gehabt haben muss. Genau das ist der heimliche Albtraum dieser Art von Angstpatienten. Man kann dran sterben, aber man muss es nicht und es gibt Wege aus dem tiefen Tal wieder heraus zu kommen. Das scheint mir ehrlicher zu sein und eröffnet dennoch psychotherapeutische Optionen.

Neben der verständlichen Angst vor dem Tod, ist der Gedanke der Einordnung, ob man unsicher und ängstlich ist sehr sinnvoll. Das Rad der Evolutionsbiologie ist aber erstens, viel zu groß und zweitens, viel zu reduktionistisch. Was man schon daran sieht, dass viele Ängste und Unsicherheiten soziokulturelle Faktoren sind. Genügend Futter und Schutz haben wir heute, wir leben zum Glück nicht mehr in einer Situation in der man ums nackte Überleben kämpfen muss.

Die Kompensierer

Es gibt Berufe und Hobbys, die Mut erfordern. Freeclimbing, Rodeoreiten, Soldat sein und die bereits erwähnten. Fragt man Menschen mit gefährlichen Berufen oder Hobbys, warum sie keine Angst haben, ist die Antwort meistens, dass sie sehr wohl Angst haben und die Angst sogar sehr wichtig sei, für ihre Tätigkeit. Angst fördert die Wachsamkeit und Konzentration, sie haben nur gelernt, mit dieser Angst umzugehen, sie sind nicht gelähmt von der Angst. Das oft, weil sie sich an die Situation schrittweise gewöhnen konnten. Was man kennen lernen konnte, macht weniger Angst. Die ganz neue oder lange nicht mehr geprobte Situation macht Angst oder verunsichert zumindest manchmal. Ob ich das noch kann?

Manchmal macht man sogar die merkwürdige Entdeckung, dass ein auf einem Gebiet sehr angstfreier und selbstsicherer Menschen, seinen Mut auf einem anderen Gebiet plötzlich verliert. Bei manchen könnte man sogar das Gefühl haben, dass sie die Gefahr suchen, um vor einem bestimmten Lebensbereich davon zu laufen, sich und anderen aber sagen zu können, dass sie dennoch mutig sind.

Die Liste von Phobien ist lang, es gibt kaum etwas, vor dem man sich nicht fürchten kann. Vor Erröten, aber auch Mundgeruch, Obst, der Zahl 4, Schnee, Erbrechen oder Frauen.

Ob Kompensation oder nicht, häufig kann man beobachten, dass jemand eine bestimmte Situation mit Bravour meistert, aber in einer anderen mindestens verunsichert ist. Das gilt für so gut wie alle Menschen. Vielleicht ist es ein bisschen so, dass die einen sich Schwächen und Lücken gut verzeihen können. Sie können etwas eben nicht, sagen das auch und sehen keinerlei Notwendigkeit, sich dafür zu rechtfertigen. Bei manchen ist das anders. Sie können etwas nicht und es ist ihnen peinlich, weil das, was sie können doch angeblich jeder kann. Das was sie nicht können aber auch. Es ist so schrecklich einfach, aber sie bekommen es nicht hin. Sind sie verunsichert, weil sie es nicht hinbekommen, oder schaffen sie es nicht, weil sie verunsichert sind? Auf jeden Fall keine gute Kombination, aber, wie man hört, eine häufige. Angst und Depressionen sind die psychischen Erkrankungen Nummer 1 und 2 und sie treten gerne zusammen auf.

Es ist zumindest vorstellbar, dass jemandem, der viel grübelt, es peinlich ist, wenn etwas ‚Leichtes‘ nicht gelingen will. Das verunsichert noch mehr, man fühlt sich vielleicht wertloser und auf einmal ist das, was nicht klappt, die wichtigste Sache der Welt. Man weiß irgendwo, dass es nicht die wichtigste Sache ist, aber man will ja auch nicht die Eiger Nordwand erklimmen, nein, vielleicht nur eine kurze Ansprache halten oder im Supermarkt etwas einkaufen. Kein Problem, aber auf einmal stehen zwei Leute vor einem an der Kasse, man kann nicht weg, ist gefangen, hat die Situation nicht mehr im Griff, ist von den anderen abhängig. Man will schnell raus, muss aber bezahlen, man könnte alles stehen und liegen lassen, aber wie unendlich peinlich wäre das? Die Kontrolle entgleitet und vorne geht es nicht weiter. Die Hände sind klamm, die Knie zittern, das Herz wummert, man wird hier gleich sterben, also doch nichts wie raus? Aber man will ja noch mal wieder kommen, da wäre es unendlich peinlich, wenn man nun raus rennt. Herzphobie? Soziale Phobie? Irgendwie beides? Und hey, es ist nur ein blöder Einkauf, jeder Idiot kriegt das hin, warum ich nicht? Das macht einen nicht selbstbewusster.

Es ist ja nicht nur das Denken. Alles geht blitzschnell. Auf einmal ist die Panik da und man will nur noch raus, weg. Oder man kann sich nicht mehr rühren. Aber es ist auch Denken. Sich dafür noch fertig zu machen, macht die Sache nicht besser. Es war eben nicht die Eiger Nordwand. Wer an ihr scheitert und sagt: „Puh, sorry, da hab ich mich wohl übernommen.“ Wer könnte das nicht verstehen?

Es ist eben nur der blöde Einkauf. Kann doch jeder. Das ist die Denkschleife. Alle schaffen das, nur ich nicht. Warum nur? Ich verstehe es nicht. Das ist doch nicht schwer. Hier hilft die Einordnung. Viel mehr Menschen als man denkt, können irgendwas nicht. Man redet halt nur nicht so gerne drüber. „Nein, ich gehe nicht zur Vorsorge, weil ich Angst habe, dass die was finden.“ „Meinem Chef widersprechen?“ „Meine Träume leben?“ Dann kompensiert man vielleicht doch lieber.

Angstsituationen

Einer der Klassiker aus der Liste der Furchtobjekte. © Rolf Dietrich Brecher under cc

Das Szenario, dass die Alltagssituation, die man nicht bewältigen kann, in der eigenen Psyche auf einmal zum wichtigsten wird, was es im Leben überhaupt gibt, hat ein Geschwister. Nämlich die Vorstellung, dass das, was man selbst schafft – das gibt es ja auch noch, viele Dinge, die man spielend hinbekommt –, doch in keiner Weise etwas Besonderes ist. Das kann doch wirklich jeder, sagt man sich dann selbst und macht sich kleiner, als man ist.

Nicht nur die Liste der Phobien ist lang: Fahrstuhl, Zahnarzt, Spinnen, Fliegen, Spritze, Blut abnehmen, Menschenmassen, Tunnel oder Hunde, vor all dem kann man Angst haben. Da gibt es durchaus noch andere Situationen: Wenn kein Alkohol mehr im Haus ist oder nicht genügend Tabletten. Man kann sehr große Angst davor haben, was andere über einen denken. Irgendwo reden zu müssen, einfach nur etwas sagen, kann zur Hürde werden. Nicht nur dem Chef zu widersprechen, generell haben manchen Menschen Angst ‚Nein‘ zu sagen, also anderen einen Wunsch nicht zu erfüllen. Männer lassen vor allem bei der Arbeit alles mit sich machen, Frauen sind da selbstbewusster und beschweren sich sogar über das, was bei der Arbeit nicht in Ordnung ist. So kann ich nicht arbeiten. Viele Ängste kreisen um das Thema Sexualität, weil man nicht weiß, was da als normal gilt und was nicht. Es gibt die unbewusste Angst des Patriarchats vor männlicher Homosexualität und der Untreue der Frauen. Ebenso die unbewusste Angst des Matriarchats vor einer Koalition junger Frauen mit mächtigen, alten Männern, dem Inzest zwischen Vater und Tochter und der Untreue der Männer.

Manche dieser Ängste sind den Betroffenen selbst nicht bewusst. In der Kindheit sind es folgende Ängste, die uns am tiefsten berühren:

„An erster Stelle steht die Angst vor einem tatsächlichen Verlust der „Mutter“, gefolgt von der Angst, ihre Liebe zu verlieren. Drittens die ödipale Angst vor dem Verlust des Penis (Kastrationsangst). An vierter Stelle erwähnt Freud die Furcht, den Erwartungen des eigenen Über-Ich nicht zu entsprechen und so an Stellenwert einzubüßen. Wir können eine fünfte Angst für jene Menschen mit unintegrierter Selbstrepräsentanz hinzufügen: die vor dem Verlust des „guten“ oder idealisierten Anteils der Selbstrepräsentanz, wenn sich dieser mit dem „schlechten“ oder entwerteten Anteil vermischt. Oder – im Fall einer narzisstischen Persönlichkeitsorganisation – der Verlust der Allmacht des Größen-Selbst, wenn es sich mit den entwerteten Selbst- und Objektbildern, die das „hungrige Selbst“ ausmachen, verbindet.“[1]

Es gibt also eine ganze Menge von Dingen, vor denen man Angst haben kann. Die tiefenpsychologischen Aspekte sind nicht grundsätzlich von den konkreten Situationen und Phobien verschieden, sondern manchmal sind Letztere der Ausdruck Ersterer. Wer nicht ‚Nein‘ sagen kann, hat nicht selten die heimliche Angst die Liebe zu verlieren, weil vielleicht eine tiefere, aber unbewusste Unsicherheit über die mütterliche Liebe besteht. Wer dem Chef nicht stand hält, kann das natürlich rationalisieren, weil der Chef ja objektiv in der stärkeren Position ist, aber auch die Angst vor der Kastration kann da eine Rolle spielen. Dem Vater und Vaterfiguren widerspricht man nicht ungestraft.

Manche Ängste kann man sich abtrainieren und lernen die Reste zu überstehen. Spinnen, Höhen, Enge das geht. Bei sozialen Phobien gibt es auch Tricks, aber ist üben, üben, üben immer die beste Lösung? Manchmal heißt ‚Ich kann nicht‘, auch, dass man eigentlich nicht will. Der Körper oder die unbewussten Anteile der Psyche ziehen dann die Notbremse. Man hatte vielleicht nicht den Mut zu sagen, dass man etwas nicht machen will, weil man Angst vor dem Liebesentzug hat. Man will nicht in Ungnade fallen, fürchtet vielleicht sogar, dass der andere sich rächen wird, mindestens aber abgrundtief enttäuscht ist. Wenn man nicht kann, ist man nicht schuld. Man kann ja nicht, denn man ist ja krank.

Angst als Wegweiser

Was, wenn die Angst mich zu mir führt? Das ist dann auch eine Form der Einordnung, man kann sich selbst kennen lernen. Vielleicht wird man manchmal vom hohen Ross geholt, das kann gesundend sein. Aber viele ängstliche Menschen sind ja ohnehin obendrein verunsichert und depressiv. Auch Depressionen kann man verlernen, einer von vielen Ansätzen. Manchmal klappt das, manchmal nicht.

Wenn man die Formel, dass man nicht will, was man nicht kann, nicht als in Stein gemeißelt betrachtet, aber wenigstens für möglich hält, kann man sich selbst auf die Suche machen. Was will ich dann eigentlich nicht? So kann man auch das Katastrophisieren reduzieren. Gut, ich kann kein Hochseilartist werden, das lässt die Höhenangst nicht zu. Aber war das wirklich mein dringendster Wunsch im Leben? Okay, ich kann keine flammenden Reden vor 10.000 Menschen halten, werde also kein Showstar oder Politiker, aber ist mein Leben deshalb nichts mehr wert? Und wollte ich das wirklich werden, ein öffentlicher Mensch, mit allen Konsequenzen? Oder will ich nur die Zuckerseite haben? Etwa so, wie es bei der Frage Warum immer ich? ist. Allen anderen haben immer nur Glück. Nur ich, ich habe ständig Pech. Mit wem würde man denn das ganze Leben tauschen wollen?

Ach ja, was kann ich denn eigentlich spielend leicht? Klar, was ich nicht kann, ist total wichtig, was ich kann hingegen völlig unbedeutend, aber fragen Sie mal den, der das was Ihnen leicht fällt nun wiederum nicht kann. Es gibt diese Menschen. Vielleicht können Sie ja alleine einkaufen gehen, mit dem Amt telefonieren, in den Keller gehen oder Auto fahren … andere nicht. Wie würden die anderen es wohl finden, dass Sie das können? Jene, denen etwas aus dieser kleinen Aufzählung unmöglich ist?

Auch das ist nur der Gedankenstrom, aber wenigstens den kann man schon mal beruhigen und in eine andere Richtung lenken. Ist der Rest üben? Zum Teil vielleicht, aber wichtig ist auch die weitere Reflexion, bei der man sich kennen lernt. Will ich das denn wirklich? Wenn die Angst mich lehrt, was ich nicht will, ja was will ich überhaupt? Klar, selbstsicherer werden und angstfreier. Aber mal konkret. Wo soll sie hingehen, die Reise des Lebens? Was erwarte ich eigentlich vom Leben? Ich! Habe ich mich das je gefragt? So über Geld, Ansehen und Erfolg hinaus? Durfte ich mich das eigentlich fragen? War das wichtig in meinem Leben? Gab es Raum dafür, als ich Kind war? Bin ich das jemals gefragt worden? Oder musste ich eigentlich immer nur funktionieren?

Viele Menschen, die das mussten, funktionieren dann irgendwann nicht mehr. Sie bekommen die einfachsten Dinge nicht mehr hin und sind völlig aus der Bahn geworfen. Im ersten Moment macht das unsicher und ängstlich, aber auf lange Sicht kann das sehr gesundend sein, wenn man zum Nachdenken gezwungen wird. Wenn man auf diesem Weg der Krankheit zu sich findet, dann hat man anfangs oft das Gefühl, dass man sich gar nicht kennen lernen will – oder man meint, man kenne sich sowieso schon sehr gut, das sei gewiss nicht das Problem, schließlich ist man intelligent – sondern am liebsten einfach wieder funktionieren will, wie zuvor.

Manche schaffen das sogar. Sie vermeiden jedes Anhalten und jede Reflexion, es muss nur schnell weiter gehen. Ich bin dabei immer unsicher, ob ich das bewundern oder bedauern soll. Jede Möglichkeit zum Innehalten bleibt ungenutzt. Andererseits habe ich erkannt, dass Menschen eben sehr unterschiedliche Ziele und Vorstellungen haben und finde es wichtig, das zu respektieren und sie nicht zwangszubeglücken. Vielleicht wäre die Reflexion zu schlimm, vielleicht würde zu viel hochgespült oder müsste zu viel infrage gestellt werden. Auch das kann ja ein Ergebnis sein, sogar von einer Therapie. Zu wissen, wo es hin gehen könnte, zu erkennen, was man dafür tun müsste und einzusehen, dass man dies nicht schaffen würde.

Man kennt sich auch dann besser, ist realistischer geworden, sieht Grenzen, auch wenn dem Idealisten in mir das nicht richtig gefallen will. Vielleicht ist es nur die zweitbeste Lösung, aber auch die kann besser sein, als die schlechteste, nämlich unsicher und ängstlich zu werden und zu bleiben. Denn sich kennen zu lernen ist keinesfalls wirkungslos. Das ist der Punkt, den es zu verstehen gilt. Üben, üben, üben – klar, kann man manchen, muss auch manchmal sein, aber die andere Seite ist eben sich immer besser kennen zu lernen. Dass jede und jeder von sich denkt, man kenne sich bereits bestens, ist sicher weit verbreitet, aber kenne ich mich, wenn ich weiß, dass ich Angst habe, wenn ich frei sprechen soll? Oder weil ich meine, dass über mich getuschelt wird?

Deshalb muss es darum gehen sich auch in der positiven Form kennen zu lernen. In dem was ich will, nicht nur, was ich nicht will. Wer bin ich und was will ich? Klar, gesund, reich und glücklich will man sein, mit perfektem Partner, der die eigenen Bedürfnisse befriedigt, aber was genau erwarte ich eigentlich vom meinem Leben? Das mag nerven, weil man denkt, dass es genau jetzt, darum eben nicht geht. Jetzt bin ich unsicher und ängstlich und möchte, dass man mir hilft, über mein Leben kann ich auch noch nachdenken, wenn es mir besser geht.

Aber sich kennen zu lernen, ist der langfristig stabilere Weg, damit es einem besser geht. Die Ich-Schwäche, die nicht selten hinter Angst und Verunsicherung steht, muss in eine Ich-Stärke verwandelt werden und der Weg dahin führt darüber, dass man sich kennen lernt. Wer bin ich und was will ich? Und wie sehe ich andere? Der Mensch ist ein Beziehungswesen, aus der Qualität der bisherigen familiären und Peergroup-Beziehungen leitet sich direkt ab, was man über andere denkt und wie man sie sieht.

Der Triumph, dass man tot ist

Ich hab’s dir doch gleich gesagt. Ein später, aber fragwürdiger Sieg. © Joe Shlabotnik under cc

Die Grabinschrift bringt es auf den Punkt: „I told you I was sick“. Ich habe dir doch gesagt, dass ich krank bin. Das hast du nun davon. Entweder hat da jemand einen sehr ironischen Lebensansatz oder er will noch im Tode triumphieren und Recht behalten. Man muss sich nicht entscheiden, beides ist möglich.

Vielleicht kennt man aber auch selbst die Phantasie, was denn wäre, wenn man auf einmal tot da liegen würde. Das kann sogar mit einer gewissen Lust verbunden sein, es am Ende doch besser als alle gewusst zu haben. Durchaus nachvollziehbar, wenn man sich nicht richtig ernst genommen fühlt. Auf der anderen Seite zeigt es, wie weit man gehen würde, um Recht zu behalten. Man könnte im Tod, durch den Tod triumphieren. Um was zu erreichen? Im schlimmsten Fall, um das Leben und Glück anderer zu zerstören. Noch im Tod rächt man sich, doch das ist selten und entspricht den schwersten psychologischen Krankheitsbildern, die wir kennen.

So treten manche Menschen mit einer antisozialen Persönlichkeitsstörung ab. Sie rächen sich und zerstören den anderen durch den eigenen Tod, um ihm zu zeigen, wie ohnmächtig er ist. Wenn ein Psychotherapeut sich abmüht und man sich dann genüsslich vor dessen Augen die Pulsadern aufschlitzt. „Schau her, was du kannst: Gar nichts.“ Hier tritt die Angst hinter den Wunsch nach Zerstörung anderer zurück. Abgeschwächter finden wir das bei Menschen mit Borderline-Störungen, die eine intensive, frei flottierende Angst, die entsetzlich ist, immer wieder heimsucht. Zuweilen ist da die Selbstschädigung bis hin zu inszenierten Suiziden Teil der Absicht, anderen zu zeigen, was passiert, wenn man nicht funktioniert, aber nicht auch Bosheit, sondern aus entsetzlicher Angst. Mitunter dient die Selbstverletzung dem Abbau der psychischen Hochspannung. Diese Inszenierungen sollen in der Regel nicht zum Tode führen, aber es kann sein, dass man manchmal zu hoch pokert und dennoch stirbt.

Aber auch wenn man gesünder ist, kann man in sich diese Phantasien finden und reflektieren. Dazu wäre ich also bereit? Tatsächlich? Wie wichtig ist mir so ein Triumph? Würde ich wirklich mein Leben dafür hergeben, dass ich am Ende Recht hatte? Und was ist es, was mir da fehlt? Das passiert Menschen, die selten das Gefühl hatten, dass sie wirklich ernst genommen wurden. Man hat sich auch nie um ihre Bedürfnisse gekümmert. Manchmal ging das nicht, weil das Leben war, wie es eben war. Aber dem kann man therapeutisch nachgehen und in überraschend vielen Fällen, kann man effektiv helfen.

Was auch immer gewesen ist, ich kann versuchen mich selbst ernst zu nehmen. Ich kann ergründen, was ich wirklich vom Leben erwarte. Was ich bereit bin, dafür zu tun? Was möchte ich lieber nicht? Ich kann mich fragen, welcher meiner Wünsche vielleicht gar nicht mein Wunsch ist. Will ich wirklich das Geschäft der Eltern weiter führen, weil es doch so praktisch ist? Könnte durchaus sein, nur ist es gut, das herauszufinden. Wer nicht weiß, was er wirklich will und was einem suggeriert wurde, der tut gut daran klein anzufangen. Wer bin und was mag ich eigentlich wirklich? Welches Essen, welche Farben, welche Musik, was macht mir Spaß? Man muss die Antwort darauf nicht nach 30 Minuten oder einer Woche finden.

Was ist eigentlich mein Wunsch? Was muss ich eigentlich können?

Gut, dann werde ich eben kein Hochseilartist oder Showstar, das muss vielleicht wirklich nicht sein. Aber Arbeiten, Einkaufen und so weiter muss ich schon. Und wenn mir alles zu viel ist? Dann brauche ich Rückzug und einen geschützten Raum. Man ist dann unsicher und ängstlich, zuweilen auch noch depressiv, weil man einfach kein Licht am Ende des Tunnels sieht. Der sichere Ort innen und außen ist wichtig. Den inneren kann man sich selber schaffen und ausbauen, es reicht wenn es ein phantasierter Ort ist. Auch das wirkt, das sollte man wissen. Wenn man sich auch dort anfangs nicht zu 100% sicher fühlt, sondern nur zu 70%, okay, besser als nichts.

Ansonsten ist es in etwa wie beim Sport. Wer wenig fit ist, profitiert von kleinsten Fortschritten. Ich darf mir etwas zutrauen. Ich brauche das, was ich kann nicht immer wieder zu entwerten: „Ist doch nichts. Kann doch jeder. Gut, kann sein, dass ich das kann, aber da sind Tonnen von dem, was ich alles nicht kann.“ Ist man erst einmal unsicher und ängstlich, kann man sich überhaupt nicht vorstellen, dass man jemals wieder auch nur halbwegs am normalen Leben teilnehmen kann und wird. Jeder wird das schaffen, aber ich nicht. Vorsicht mit dieser Sonderrolle, die gehört zur Ich-Schwäche. Auch das kann man lernen zu verstehen.

Ich darf mich auch über kleine Fortschritte freuen, über meine. Niemand wird Sie dafür feiern, dass Sie zum erstem Mal wieder Bus fahren, in die Stadt gehen oder einkaufen, aber Sie dürfen es. Das Gute ist: Wenn es ein echte Hürde war, die Sie übersprungen haben, feuert Ihr körpereigenes Belohungssystem. Nennen Sie es Körper, Psyche, Gehirn, tiefere Weisheit, all das ist auf Ihrer Seite.

Wenn Sie sich noch keine großen Sprünge zutrauen, machen Sie kleine. Informieren Sie sich, wie Sie Affekte dämpfen können. Ruhe, Einfachheit, Sport, vielleicht mal erdendes Essen. Die Orientierung an natürlichen Rhythmen. Immer wieder schauen, wer und wie Sie sind. Können Sie es ausdrücken? Aufschreiben, Malen, Tanzen, in Musik fassen oder Knetgummi?

Unsere Lebensweise ist über die Jahrzehnte wirklich fragwürdig geworden. Es liegt also nicht an Ihnen. Aber dennoch ist es schön, mit der Welt, wie sie ist, klarzukommen. Das heißt nicht, dass man sie nicht ändern dürfte oder sollte, aber es heißt eben auch nicht, dass man permanent lamentieren oder unter ihr leiden muss. Was will ich? Sich kennen zu lernen, heißt Ich-Stärke aufzubauen, heißt, sicherer und angstfreier zu werden irgendwann vielleicht sogar selbstbewusst und mutig. In einigen Bereichen sind Sie es ja schon.

Es ist auch hier so, dass die Abwärtsspirale sich irgendwann umdrehen kann und dann kommt eines zum anderen, wenn es wieder nach oben geht. Die zunehmende Ruhe, die wachsende körperliche Fitness, die tiefere Innenschau, das konstante Üben, die kleinen Fortschritte und die Erlaubnis, die man sich gibt, sich über sie zu freuen … Irgendwann ist das Leben keine Übung mehr, sondern wieder Leben. Mein Leben. Ich freue mich nicht mehr, weil ich etwas ausgehalten oder geschafft habe, sondern weil ich gerade Lust dazu hatte. Dann geht ein weiterer Vorhang auf, man ist wieder da oder vielleicht sogar zum ersten Mal angekommen, im eigenen Leben.

Ist die Abwesenheit von Angst und Unsicherheit ein wünschenswertes Ziel?

Bestimmt, wenn man unter intensiven Formen von Angst und Unsicherheit leidet, wünscht man sich nichts sehnlicher, als dass man diese los wird, egal wie. Da pfeift man auch drauf, dass die Angst eine evolutionären Nutzen hat, wenn die Lebensqualität gegen Null geht. Klar, es ist, wie beim Schmerz. Wer unter intensiven Schmerzen leidet, wird auch nicht froher, wenn dieser biologisch sinnvoll ist, auch wenn es stimmt. Durch eine genetische Abweichung schmerzfreie Menschen sterben früh und entsetzlich. Dennoch macht das den eigenen Schmerz nicht besser.

Angst ist auch hilfreich, aber Panikattacken oder generalisierte Angst sind einfach unerträglich. Angstfreiheit gibt es tatsächlich, interessanterweise bei zwei sehr unterschiedlichen Gruppen von Menschen, nämlich Heiligen und Psychopathen. Menschen mit antisozialer Persönlichkeit haben keine Angst. Auch ihre Anspannung steigt zunächst an, doch während sie bei normalen Menschen mit weiterem Stress immer größer wird, macht es bei Psychopathen irgendwann klick und sie werden kühl, konzentriert, fokussiert und eben komplett angstfrei. Eine biologische Besonderheit?

Falls ja, fragt man sich, wie wünschenswert sie ist, denn die Angstfreiheit geht auf Kosten jedes Mitgefühls. Menschen, die extrem unsicher und ängstlich sind, würden diese Option vermutlich dennoch wählen, weil sie über die Maßen leiden. Irgendwann kann man so normal und selbstsicher werden, dass man Morgens auch wieder in den Spiegel schauen möchte und dann hat man schon wieder ein Problem.

Erstaunlich genug ist es daher, dass die vom anderen Ufer, meditierende Mönche, die den ganzen Tag Mitgefühl üben, die andere Gruppe darstellen, die komplett angstfrei ist. Dafür muss man halt meditieren wie der Teufel und das tut längst nicht jeder. Aber auch das wäre ein Weg. Man sollte ihn nicht leichtfertig gehen, weil es eben auch spirituelle Krisen gibt und da ist es besser, mit jeder spirituellen Praxis auszusetzen oder Hilfe von Menschen in Anspruch zu nehmen, die sich auf dem Gebiet der Spiritualität und der Psychotherapie auskennen, aber wichtiger ist mir ohnehin die Botschaft, dass es viele Wege gibt, die helfen können.

Oft ist auch die Angst vor der Angst das größere Problem und das schon angesprochene Katastrophisieren. Man baut sich riesige Hürden auf. Springt man ins kalte Wasser reagiert man in echten Stresssituationen oft anders als geahnt. Aber eigentlich kommt es auch darauf nicht an, ich man kann nach und nach die Deutungshoheit über das eigene Leben übernehmen. Nicht indem ich irgendeinen willkürlichen Unsinn behaupte, sondern weil ich mich inzwischen kennen gelernt habe.

Die Urteile der Gesellschaft werden dadurch auch ein wenig fragwürdig oder mindestens relativiert, vielleicht auch die Werte, auf deren Basis diese getroffen werden. Man kann nicht verhindern, aus eben dieser Sichtweise bewertet zu werden, aber das muss einen nicht erschüttern. Auch die Rückschläge nicht, die irgendwann ganz sicher noch mal kommen, weil das Leben nie ganz rund läuft. Es wird Ihnen schlecht gehen, so wie anderen in der Situation auch, aber ab einem bestimmten Punkt wird Sie das nie wieder zerstören.

Wir wissen heute viel und sind zudem in einer Phase des gesellschaftlichen Umbruchs. Die Menschen sind generell verunsichert, neue Richtungen müssen sich erst noch herauskristallisieren. Wenn Sie mit ihrem Thema durch sind, sind Sie sogleich kompetent anderen zu helfen, weil Sie, wenn Sie sich selbst kennen gelernt haben, immer ein Stück weit auch die Menschen kennen gelernt haben. Sie werden viele kleine Steine umdrehen müssen, aber es kommt der Tag, an dem sich aus dem losen Verbund die Umrisse eines neuen Bildes erkennen. Ob der Fluss der Lehrer ist, ein Mensch, ein Tier oder die Angst ist eigentlich egal. Sie werden gelernt haben, dass Sie allen vertrauen können – aber auch, dass Sie das nicht grundlos und ohne Widerruf tun müssen – und vor allem einem Menschen, sich selbst.

Sie werden im guten Fall gelernt haben, dass es keine Schande ist andere zu brauchen (sondern, dass es eine Fähigkeit zur Abhängigkeit gibt, wie Kernberg uns lehrt) und Hilfe in Anspruch zu nehmen, aber gleichzeitig wissen Sie, dass Sie sich letztlich selbst entscheiden können und müssen. Gar nicht so selten ist ein reduzierteres Leben reicher, aber ob das bei Ihnen so ist, werden Sie selber sehen. Sie werden hier und da noch immer unsicher und ängstlich sein, weil das zum Menschsein gehört, aber Sie haben erkannt, dass es den anderen nicht anders geht. Ansonsten fangen Sie eben jetzt damit an.

Quellen