Menschen vor Almhütte

Ziel erreicht und mit sich und der Welt zufrieden. © Mahmut under cc

Ich-Schwäche in Ich-Stärke umzuwandeln ist alles andere als aussichtslos und Hilfen auf dem Weg zur Ich-Stärke gibt es haufenweise. Die Chancen stehen vor allem dann gut, wenn der Einzelne motiviert ist, doch der Motivation steht ein Beharrungsvermögen der Psyche gegenüber, davon handelte der vorherige Teil dieser Serie. Damit man überhaupt etwas ändern will, sind zwei Faktoren hilfreich: der sogenannte Leidensdruck, den Freud schon als Hauptmotivation ansah. Wenn man sich ganz gut eingerichtet hat, gibt es immer wieder Fenster der Einsicht, die sich von Zeit zu Zeit öffnen und wenn man durch sie schaut, kommt es manchmal zu einer schockartigen Erkenntnis. Auch dieser Schock kann sehr heilsam sein, wir gehen später darauf ein.

Die Terminologie der Starken und Schwachen behalten wir bei, gemeint sind zwei polare Aspekte der Ausprägung, in der uns die Ich-Schwäche begegnen kann, ausführlich vorgestellt im ersten Teil der Serie.

Ich-Identität

Die Ich-Identität ist einer der zentralen Begriffe und Bausteine bei unserem Thema. Die Ich-Identität hat zwei Seiten: eine äußere, objektive, messbare und eine innere, fühlbare. Die äußere Seite ist wichtig, weil man an dieser Fortschritte objektiv darstellen kann, doch noch entscheidender ist die innere Seite, die dem Erlebenden unmittelbar zeigt, wie es sich anfühlt mehr Ich-Stärke zu besitzen. Es ist kein Gefühl kraftstrotzender Überlegenheit, die sich triumphal und unbesiegbar anfühlt, das sind die Erfahrungen und Erlebniswelten der Starken. Nein, Ich-Stärke heißt vor allem, dass man sich in der Welt zunehmend wohler und immer mehr zu Hause fühlt. Man ist nicht mehr umzingelt von Feinden und Menschen, die einem Übles wollen und gegen die man sich durchsetzen oder vor denen man sich rechtfertigen muss, sondern man lebt in einer an sich freundlichen und guten Welt. Nicht naiv, man weiß durchaus, dass es gefährliche und bösartige Menschen sowie reale Probleme gibt, aber dies sind eher dunkle Flecken in einer an sich immer lichteren Welt.

Das Gefühl, sich wohl und geborgen zu fühlen, ist bei Menschen mit Ich-Schwäche, seien sie stark, schwach oder irgendwo dazwischen, oft gar nicht vorhanden. Sie kennen es einfach nicht und halten demzufolge das Wohlgefühl der anderen für Leichtfertigkeit, Naivität oder sind, was es auch nicht besser macht, neidisch und daher oft gezwungen, die schöne Welt der anderen durch Entwertung zu zerstören. Doch nun wollen wir den Blick auf die echte Ich-Stärke richten.

Ein früherer Beitrag beschäftigte sich mit dem diagnostischen Hauptkriterium der Ich-Schwäche, der Identitätsdiffusion. Dies markiert die objektive Seite der Geschichte. Eine Identitätsdiffusion liegt vor, wenn man kein kohärentes, also in sich stimmiges und geschlossenes, Bild von entweder sich selbst und / oder anderen Menschen skizzieren kann, die im eigenen Leben eine bedeutende Rolle spielen. „Gemessen“ wird ganz einfach, in dem man jemanden bittet, sich selbst und dann einige, wichtige andere Personen zu beschreiben.

Es gibt dabei einige Unterschiede, so können die eher Schwachen andere Menschen manchmal fast hellsichtig (wenn auch nur in Teilbereichen) beschreiben, aber sie haben größte Schwierigkeiten sich selbst zu beschrieben. Wer sie sind, was sie mögen, ängstigt, ihre Träume, Wünsche, Absichten, Beziehungen, wie ein typischer Tag aussieht. Andere, oft die Starken, können sich selbst in allen Feinheiten beschreiben (oft freilich idealisiert), aber sind komplett unfähig, andere Menschen zu beschreiben, mit denen sie seit Jahren oder Jahrzehnten eng vertraut sind. Beiden gemeinsam ist die Unfähigkeit, sich und andere in Tiefe zu beschreiben.

Wo Innen und Außen sich begegnen

Es gibt eine Brücke, auf der sich Innen und Außen begegnen: Beziehungen. Sie und ihre Qualität werden bei der Klärung der Ich-Identität in den Blick genommen. Ist man selbst ungeheuer groß und wichtig, sind die anderen klein und unbedeutend und die Beziehung asymmetrisch. Ist man selbst klitzeklein, erscheinen die anderen riesig und allmächtig und wieder liegt eine Asymmetrie vor. Beides ist unbefriedigend. Sicht selbst permanent überlegen zu fühlen, ist öde und langweilig. Weshalb die Starken, die oft sehr unter Langeweile leiden, auch immer wieder versuchen, wenigstens einige andere zu idealisieren, um mal dann und wann von Genie zu Genie zu sprechen, besser noch sich wortlos, in einigen dezenten Hinweisen andeutend, wechselseitig zu versichern, dass man „die Menschen“ vollkommen durchschaut hat und Meilen über den anderen steht. Eine Kommunikation von Gipfel zu Gipfel in wissendem Einverständnis. Auch in der Liebe kommt das vor, siehe Narzissmus in der Liebe.

Gesunde Beziehungen sind immer solche auf Augenhöhe, doch mit der Augenhöhe haben ich-schwache Menschen so ihre Probleme, denn die einen machen sich kleiner als sie sind, die anderen größer. Hilfen auf dem Weg zur Ich-Stärke funktionieren ganz wesentlich über die Festigung stabiler und realistischer Beziehungen.

Ich-Stärke bedeutet also beides: Erstens, jemand zu sein und zweitens, den anderen jemanden sein zu lassen. Ihn so zu sehen und zu lassen, wie er gerade ist. Damit haben ich-schwache Menschen gewaltige Probleme.

Jemand sein

Um selbst jemand zu sein, der anderen Menschen auf Augenhöhe begegnen kann, braucht es nicht viel. Es sind eher wenige Tugenden, die wohlmeinende und normale Menschen vom anderen erwarten: Verlässlichkeit und Freundlichkeit. Vertrauen, Offenheit und Ehrlichkeit. Normale Menschen sind halbwegs wohlmeinend. Oft natürlich in ihrem eigenen Film, aber das zu wissen, ist gut und wichtig. Die turmhohe Bedeutung, die Ich-Schwache etwaigen eigenen Fehlern zumessen, teilen normale Menschen nicht. Fehler anderer haben die meisten Menschen schnell wieder vergessen, wenn sie sie überhaupt bemerken. Sie haben Wichtigeres zu tun, in einem Alltag, in dem sie funktionieren müssen und selbst Klatsch und Tratsch sind oft nicht so bösartig, wie es ich-schwache Menschen meinen. Doch die Assoziationsmaschine der Ich-Schwachen rattert unablässig, weil sie andere verzerrt sehen.

Die Starken meinen, wenn sie mal einen Fehler begehen oder jemand sie kritisiert, dass die Welt schon ewig gewartet hat, um endlich über sie herfallen zu können. Denn in der Welt der Raubtiere sind die anderen Feinde, entweder Wölfe oder Wölfe im Schafspelz, neben ein paar unwichtigen Naivlingen, die nicht verstanden haben, wie das alles tatsächlich funktioniert. Es gibt nur Sieg oder Niederlage. Die Schwachen fühlen sich umzingelt von Menschen, die viel stärker sind als sie und damit bedrohlich. Sie sind abhängig von der Hilfe anderer und eben in der chronischen Angst, die Hilfe könnte ihnen entzogen werden. Beide haben ihre Gründe, die Welt so zu sehen, das sucht man sich nicht aus, man hat es in der Regel genau so erlebt, dass die Beziehungen in der Welt asymmetrisch sind und eine andere Möglichkeit auch nicht existiert.

Menschen mit normaler Ich-Stärke sind keine Supermänner und -frauen, sie haben nur eine andere Vorstellung von Welt, weil sie es ebenfalls so erlebt haben. Niemand erwartet vom anderen Besonderes, oft noch nicht einmal in der Liebe. Aber Verlässlichkeit und Ehrlichkeit sind starke Punkte. Die Ehrlichkeit muss keine peinliche Selbstentblößung sein, es geht nur darum, dass der andere verstehen kann, was mit einem los ist. Wenn man sich nahe genug ist, hat man ein Interesse am anderen und an dessen Wohlergehen. Ist man sich nicht nahe, sinkt das Interesse, aber es kippt nicht in Bösartigkeit, der andere ist dann einfach nicht wichtig und man redet gar nicht über ihn.

Ich-schwache Menschen glauben das nicht und phantasieren sich die Welt aus ihrer Sicht zusammen. Wenn ich mich nicht bereit erkläre die Blumen zu gießen, wenn der andere im Urlaub ist, wird er maßlos enttäuscht sein und zudem noch über mich herziehen. Die Freundschaft wird gekündigt oder hat zumindest einen schweren Schatten, so ungefähr hüpfen die Gedanken und wenn man dem anderen erklärt, was los ist, warum man das nicht kann, wird alles nur noch schlimmer: entweder er hält es für eine dumme Ausrede und verachtet mich, für meine lächerliche Schwäche.

Nur fragen wird man den anderen nicht, oder sich erklären, denn man weiß ja selbst sehr genau, was das Ergebnis ist. Vielleicht sagt der andere sogar: „Okay, macht gar nichts, frage ich halt jemand anderen“, aber in Wirklichkeit wird er natürlich ganz anders empfinden, nämlich total sauer sein und das nur nicht sagen, weil er gut erzogen ist, oder sich aus dem gleichen Grund innerlich kaputtlachen. Das ist die projektive Identifikation, die wir bei Ich-Schwäche überwiegend finden.

Man schützt sich so vor der Erfahrung der konstruktiven Enttäuschung, denn unter Umständen wird der andere sogar sagen: „Ach Mensch, das wusste ich ja gar nicht, erzähl mal.“ Und auf einmal ist man auf Augenhöhe, ist man jemand. Der andere meint mich. Doch dass von der anderen Seite Interesse oder Mitgefühl kommen könnte, ist nicht vorgesehen. Das wirkt zu fremd und zudem will man seine eigene Weltsicht schützen, selbst dann, wenn man unter ihr leidet.