Pathologische Heterarchien
Dass Hierarchien pathologisch entarten können, wissen wir. Es ist nicht zu begründen – außer durch Rückgriffe auf bestimmte Erzählungen, aber es gibt eben auch Tausende anderer – warum blonde und blauäugige Menschen nun besser sein sollen. Nun wissen wir, dass nicht begründete Hierarchien oder welche, deren Begründung nicht nachvollzogen werden kann, mit Gewalt durchgesetzt werden können, ebenso wie die Auf- und Entwertung anderer Kriterien oder Eigenschaften. Das ist aber an sich kein Problem der Hierarchien, sondern schlechter Begründungen. Dennoch stehen die Hierarchien unter Beschuss und man meint, wären diese erst weg, sei vieles automatisch und für alle Zeiten besser. Die Menschen würden gar nicht mehr werten und nichts mehr besser und schlechter finden.
Heterarchien sind zwar als Begriff eher unbekannt, stellen aber im Grunde das Gegenteil der Hierarchien dar, indem die Gemeinschaft betont wird und ist „ein System von Elementen, die nicht in einem Über- und Unterordnungsverhältnis stehen, sondern mehr oder weniger gleichberechtigt nebeneinander.“[1]
Praktisch sahen wir, dass das schwierig wird, wenn wir den besseren Arzt, die bessere Schule oder Kleidung dann durchaus manchmal wollen, aber theoretisch steht dahinter die Behauptung, dass es eben keine an sich besseren Werte, Gewohnheiten oder Eigenschaften gibt, sondern nur welche, die mehr oder minder willkürlich dazu erklärt werden.
Und eines stimmt sicherlich: Macht man sich die Mühe, die Welt konsequent durch die Augen des anderen zu betrachten, wird man, bei guter Empathiefähigkeit nachvollziehen können, wie der andere denkt, eventuell sogar (vorerst) so denken muss, wie er oder sie es tut. Man kann so gut wie jeden Menschen verstehen. Das gilt allerdings auch für Serienmörder, Kinderschänder, Nazis, Wirtschaftskriminelle, Selbstsprenger und so weiter, aber mir geht es nicht um den Ekel- oder Splatterfaktor, sondern darum, dass jemanden verstehen zu können nicht alles sein kann.
Schön, wenn man man auch harmloseres problematisches Verhalten durchaus verstehen kann, sehr gut, wenn man sich die Mühe macht, es zu tun, aber die andere Frage ist, ob der andere sich ebenfalls die Mühe macht, die Sicht der anderen zu verstehen. Empathie ist dann gut, wenn sie ein Spiel auf Wechselseitigkeit ist, sie bringt gesellschaftlich nicht viel, wenn der eine empathisch ist, der andere es aber nicht einmal versucht oder es nicht sein kann.
Immer nur Verständnis dafür zu haben oder einzufordern, warum der andere mich betrügen, schlagen, ausnutzen oder foltern muss, ist gesellschaftlich kein Gewinn, weil das eigene Opfer dann wenigstens medial präsentiert werden muss, um Schule zu machen und wer hätte schon daran Interesse es fortzusetzen?
Der objektive und neutrale Blick
Gibt es also doch Eigenschaften, die an sich besser sind als andere? Die Fähigkeit zur Empathie könnte so etwas sein. Selbst wenn die, die dazu in der Lage sind, einfach nur Glück gehabt haben, weil sie in einem halbwegs stabilen Umfeld aufwachsen durften, in dem eher Wertschätzung als Entwertung vorgelebt wurde, so wäre es durchaus wünschenswert wenn sich diese Eigenschaft breiter durchsetzen würde.
Empathie ist aber weniger als die meisten glauben, ein Gefühl, als vielmehr eine Eigenschaft des Denkens. Es geht nicht nur ums Mitschwingen, sondern um ein verstehendes Nachempfinden. Eine Voraussetzung dafür ist Intelligenz. Es gibt zwei limitierende Faktoren, die es verhindern, mitfühlend zu verstehen, was andere durchmachen und brauchen. Einmal kann es eine Spaltung zwischen Emotionen und Denkvermögen sein, die typische Spaltung der schweren Persönlichkeitsstörungen, zum anderen ein Defizit an Intelligenz, was einfach verhindert, dass man zu dem komplizierten Akt, sich an die Stelle des anderen zu versetzen, durchdringt.
Auf dem Weg dieser internen Zusammenhänge kommt dann eines zum anderen, weil auch die warme Empathiefähigkeit, die wir meinen (auch der Sadist verfügt ja über kalte Empathie, wenn er die Schwachstellen seines Opfers ausnutzt, um es besonders effektiv zu quälen), nicht nur von Spiegelneuronen und Intelligenz abhängt, sondern von der Ausbildung komplexer innerer Strukturen.
Gibt es also Eigenschaften, die an sich gut und wünschenswert sind? Wenn man ganz objektiv und neutral an die Sache heran geht? Das eigentliche Problem ist, dass dieser objektive und neutrale Blick zwar immer wieder beschworen wird, aber es gibt ihn nicht. Denn die objektive Warte setzt voraus, dass man von all dem, was einen bewusst und unbewusst prägt und beeinflusst absehen und abstrahieren kann, was schon eine kühne Behauptung wäre, aber gesetzt, dies ginge, was bleibt dann eigentlich am Ende übrig? Ein Blick von Nirgendwo, eine perspektivlose Perspektive und beides kann es nicht geben.
Das von dem behauptet wird, dass es eigentlich drüber steht, nämlich der wertneutrale und unvoreingenommene Blick des Forschers, ist eine Fiktion, die im schlimmeren Fall auf einen Mangel an Reflexionsvermögen hinweist, das die eigenen Richtigkeiten und Notwendigkeiten nicht als Teil einer bestimmten Methodik einschätzen kann und sich als Methode zur Gewinnung der Wahrheit aufplustert. Im besseren Fall ist man sich dessen bewusst und formuliert ein Ideal, dem man sich annähern kann, das man aber immer wieder auch verfehlt.
Alles gleich gut? Regionale Normen vs. universelle Menschenrechte
Das ist auch die Kritik jener, die zu einer Position des empfindsamen Selbst vorgedrungen sind, dass das typisch Menschliche sich nicht allein in Denkleistungen und der Produktion von Kunst und Infrastruktur erschöpft, sondern es eben ein nur für den Menschen typisches Sozialgefüge gibt, das nicht allein die Arbeit einer kalten Rechenmaschine oder schnöder Algorithmen zwischen den Ohren ist.
Zurecht popularisiert wurde das in Aussagen und Untersuchungen, die klar machten, dass der IQ einem Menschen nicht viel bringt, wenn man ein emotionaler Idiot ist, weshalb auch die Leistungen des als schnöde empfundenen Alltags im Grunde Spitzenleistungen sind, die wir vollbringen, wenn wir einfach nur normal mitmachen. So langweilig der Alltag auch zu sein scheint, er fordert uns jede Menge ab, gerade auch im sozialen Feintuning.
Die Objektivierungen bleiben hinter den Möglichkeiten des Menschseins zurück, das sich zu allen möglichen Situationen immer wieder neu verhalten muss und es in aller Regel auch kann. Unser Leben in der Welt ist nicht auf eine paar Fakten, Sachverhalte und Wahrheiten zu reduzieren, erst recht nicht auf Algorithmen oder Reiz-Reaktionsschemata. Doch daraus folgt nun auch nicht, dass irgendwie alles gleich gut ist und jeder mit seiner Ansicht recht hätte, denn diesen Schritt wir oben schon widerlegt.
Es ist auch nicht möglich, gleichzeitig regionalen Normen und Werten ihren Raum zu lassen und gleichzeitig die Anerkennung universeller Menschenrechte einzufordern, denn wenn diese nicht nur mit Zwang durchgesetzt, sondern auch begründet werden sollen, muss klar gemacht werden, was sie universell macht und damit besser und gewichtiger, als regionale Normen, die vielleicht Folter oder Sklaverei billigen. Denn es können nicht alle Menschen gleichberechtigt sein und einige versklavt werden.
Der eigentümlich zwanglose Zwang zu flachen Hierarchien
Gibt es ein Ende vom Lied? Es wurden viele formuliert. Es gibt den Geniekult und die Vorstellung von Weltweisen, die alles besser wissen, als andere. Eine Idee, an der man gerne festhält, um der großen Orientierungslosigkeit unserer Zeit etwas entgegen zu setzen.
Es gibt die Idee, auf künstliche Intelligenz zu setzen, die aber bei Licht betrachtet nur den Vorteil hat, über immense Rechenpower zu verfügen und vom Menschen das typisch Menschliche abtrennt, worin bereits das implizite Urteil mitschwingt, der Mensch sei, so wie er ist, irgendwie fehlerhaft, insbesondere die Gefühle, die Wertvorstellungen und dergleichen verstellten einen klaren Blick, der aber ein Fake ist. Was wir tun, tun wir für uns, warum sollte eine künstliche Intelligenz das besser können, die kann sich nicht mal in rudimentäre Bedürfnisse des Menschen einfühlen, sie hätte, auch wenn sie bewusst wäre, ja selbst ganz andere. Technische Utopien bringen nicht immer die erhofften Fortschritte.
Manche suchen ihr Heil in der Loslösung von einer Fixierung auf den Rationalismus, in spirituellen Gefilden. An sich ist das gar nicht schlecht, weil bei fortgeschrittener Praxis der Meditation eine innere Position etabliert wird, die hilft dem ewigen Denken zu entrinnen, indem dieses bezeugt wird, statt sich darin zu verlieren, aber diese fortgeschrittenen Stufen sind, wie die Fähigkeit zu tieferer Reflexion selten und haben keinen breiten gesellschaftlichen Rückhalt.
Aber eines bleibt. Es gibt sehr verschiedene Fähigkeiten des Menschen, die als verschiedene Intelligenzen, oder Entwicklungslinien bezeichnet werden, die nicht nur die kognitive Intelligenz umfassen, sondern Empathiefähigkeit, Moral, Ästhetik, spirituelle Linien, kommunikative Fähigkeiten, Körperintelligenz, Kreativität und viele weitere, so dass man am Ende auf etwa 30 verschiedene Entwicklungslinien kommt, die wiederum mehr oder weniger starke interne Beziehungen haben. Es kristallisieren sich dann größere Zusammenhänge und innerem Vernetzungen dieser Linien heraus und in allen Bereichen können wir unterschiedlich weit entwickelt sein.
Daraus ergeben sich, selbst wenn wir auf einige Bereiche wie kognitive Intelligenz, die Wahrnehmung von Menschen als autonome Ganzheiten, verinnerlichte Wertsysteme, Umgang mit Kritik und so weiter mehr wert legen, als auf andere, tatsächlich sehr unterschiedliche Begabungen, die im steten Wechsel der täglichen Anforderungen in den unterschiedlichsten Lebensbereichen immer andere Kombinationen nach oben spülen. Manchmal ist körperliche Geschicklichkeit gefragt, manchmal die psychosexuelle Entwicklung, dann wieder technisches Verständnis, die Fähigkeit auch Unangenehmes zu machen, Musikalität und so weiter. Wer gut balancieren kann, kann nicht zwingend gut meditieren oder Dreisatz rechnen und umgekehrt.
Früher waren diejenigen, die lesen konnten, auch gebildet, darum oft auch erfolgreich und angesehen, aber das hat sich längst ausdifferenziert und jeder kann sich bilden, limitierend ist heute eher das Elternhaus, bei dem häufig die Weichen im Umgang mit Bildung früh und nachhaltig gestellt werden. Der stete Wechsel der Anforderungen spült immer neue und andere Hierarchien nach oben, Onlinekompetenz ist manchmal mehr gefragt als Goethe zitieren zu können. Das ergibt automatisch flache Hierarchien, die Unterschiede in den einzelnen Bereichen nicht negieren müssen – es hat einfach nicht jeder irgendwie auch recht, es gibt selbstverständlich Irrtümer und dummes Zeug – aber im Insgesamt wird man keine Überflieger finden.
Pathologische Hierarchien sind nur welche, die auf nicht nachvollziehbare Weise einige Bereiche hoch heben und andere entwerten wollen, ein Vorhaben, dem man zurecht attestieren darf, hierarchisch eher platt zu sein. Also keine falsche Scheu vor Hierarchien.